Eine neue humanistische „Ethik des menschlichen Überlebens“ – oder: Fragen an Michail Gorbatschow (III)
Das wichtigste politische Erbe, das uns Michail Gorbatschow hinterlassen hat, ist das von ihm mitentwickelte und erstmals in die politische Praxis umgesetzte Neue Denken. Es rückte das alle übrigen Gegensätze überwölbende Menschheitsinteresse in den Vordergrund: das Weiterleben als Gattung. – Heute benötigen wir eine Aktualisierung, ein „Neues Denken 2.0“. (Teil III einer dreiteiligen Serie)
Im Jahre 1998 veröffentlichte Michail Gorbatschow sein vermutlich bestes Buch, das unbegreiflicherweise bis heute völlig unbekannt geblieben ist: Der Band „Unsere Wege treffen sich am Horizont“ – 2015 unter dem Titel „Triumph der moralischen Revolution“ nochmals in neuer Übersetzung erschienen – dokumentiert einen intensiven geistigen Dialog zwischen dem marxistisch geschulten Atheisten Gorbatschow und dem japanischen buddhistischen Philosophen Daisaku Ikeda. Obwohl von völlig konträren Ansätzen herkommend, konvergieren die Gedanken der beiden Persönlichkeiten auf faszinierende Weise im entscheidenden Punkt: Beide sind sich einig, dass es für das Überleben der Menschheit einer neuen überwölbenden humanistischen Ethik bedarf. – Viele der dort aufgeworfenen Gedanken hätte ich gerne in einem geplanten Buchprojekt, das nicht mehr realisiert werden konnte, nochmals intensiver mit dem Friedensnobelpreisträger vertieft. Hier meine Fragen an ihn. Nun liegt es an uns allen, Antworten zu entwickeln.
Umrisse einer Ethik für das Atomzeitalter und die vernetzte Welt
Zur Aktualität des Neuen Denkens
- Michail Sergejewitsch, mit Ihrer Person hat das Neue Denken, das von Intellektuellen wie Albert Einstein, Bertrand Russell und Günther Anders über Jahrzehnte vorbereitet worden war, erstmals die Ebene der Weltpolitik erreicht. Mich hat, als ich Ihr Buch „Unsere Wegen treffen sich am Horizont“ las, das Sie Ende der Neunziger Jahre zusammen mit mit dem japanischen buddhistischen Philosophen Daisaku Ikeda veröffentlicht haben, der Gedanke sehr angerührt, dass es Anfang der Achtziger Jahre, als wir Menschen in Westeuropa große Ängste vor einem möglichen Atomkrieg hatten, ausgerechnet im Politbüro der KPdSU Politiker und Wissenschaftler gab, die sich unter anderem intensive Gedanken über eine „Politik der Bergpredigt“ machten! – Wann genau begannen Sie, erste Ansätze des Neuen Denkens zu entwickeln? Was waren Ihre geistigen Quellen und wer waren Ihre Mitarbeiter? Wie muss man sich diesen Prozess eigentlich genau vorstellen?
- Heute ist es still geworden um das Neue Denken, obwohl es nötiger ist denn je. – War der Westen – möglicherweise die ganze Welt – nach dem glücklichen Ende des ersten Kalten Krieges für das Neue Denken nicht reif genug? Wird es heute in Russland vielleicht schrecklicherweise, nachdem der Westen in den Neunziger Jahren die dortige temporäre Schwäche schamlos ausnutzte, gar mit Schwäche gleichgesetzt? Ist es deshalb dort desavouiert?
- Das Neue Denken verlangt von allen Akteuren, über den Tellerrand der eigenen kurzfristigen egoistischen Interessen im Sinne des globalen Ganzen hinauszudenken und entsprechend zu handeln. – So berechtigt das inhaltlich ist: Wieviele Spitzenpolitiker – namentlich der Atommächte – bringen diese Reife auf? Überfordert das Neue Denken vielleicht die meisten politischen Akteure?
- Ergänzung: Wie erklären Sie sich eigentlich, dass es gegenwärtig – genauer: seit Ihrem erzwungenen Abtritt von der politischen Bühne – unter den Spitzenpolitikern nirgends einen Spitzenpolitiker gibt, der sich dem Neuen Denken verschrieben hat? Schlimmer: Dass das Neue Denken auch im öffentlichen Diskurs so gut wie überhaupt keine Rolle mehr spielt. Dass es, sprechen wir es aus!, nahezu vergessen ist.
- Auch ich denke, dass nur das Neue Denken uns retten kann. Aber es verbreitet sich ja nicht von alleine in der Welt. – Wie kann Ihr epochales Neues Denken an die nächste Politikergeneration weitervererbt werden? Wo sollen die neuen Akteure des Neuen Denkens in der Politik – kurz: die „neuen Gorbatschows“ – herkommen und wie können sie wirkmächtig werden?
- Und was, wenn die jetzt Mächtigen in der Politik, im „Finanzpolitisch-Militärisch-Industriell-Medialen Komplex“ dem Neuen Denken und seinen Akteuren härtesten Widerstand entgegenbringen?
- Wir sind uns vermutlich einig, dass das Neue Denken nicht nur für Politiker reserviert ist, sondern letztlich alleMenschen beseelen soll, wenn die Menschheit, wenn unser Planet überleben soll. – Kann man das Neue Denken lernen? Und wie kann man es lernen? Sie sagten seinerzeit in Ihrem Gespräch mit Daisaku Ideda: „Um des künftigen Weltfriedens willen muss man dieses globale Bewusstsein in jedem Menschen kultivieren. Darin liegt der Schlüssel zum Kosmopolitismus, zur Überwindung der nationalen Feindschaft, die Kriege hervorbringt.“ Wie kann es kulturübergreifend „in jedem Menschen kultiviert“ werden?
Auf dem Wege zu einer neuen humanistischen „Ethik des menschlichen Überlebens“
- Michail Sergejewitsch, wir sind jetzt in einer Situation, wo wir nicht mehr warten können, bis sich das Neue Denken von selbst, am besten weltweit, durchsetzt; wir müssen jetzt etwas dafür tun! Die Maximen des Neuen Denkens – Sie haben selbst oft davon gesprochen – müssen in eine neue Ethik gegossen werden. Und da die Atombombe, die anderen Massenvernichtungsmittel und Waffensysteme ebenso wie die mögliche ökologische Katastrophe über Gläubigen, Agnostikern und Atheisten schweben, kann dies nur – eine gewaltige Aufgabe! – eine überwölbende humanistische Ethik sein, die potenziell für „alle Menschen guten Willens“ akzeptabel ist. Diese Ethik sollte, aufbauend auf Maximen allgemein-menschlicher Werte, auch spezielle „Gebote und Verbote“ für Politiker in verantwortungsvollen Positionen, für Wissenschaftler und Arbeiter, die in einem höchst arbeitsteiligen Prozess Massenvernichtungsmittel wie Atombomben und andere tödliche Waffensysteme konzipieren und herstellen, aber auch für die sogenannten ‚einfachen Bürger‘ enthalten. – Wie könnte man (1) die Kerngedanken einer solchen humanistischen „Ethik des menschlichen Überlebens“ – vielleicht analog zu den berühmten Zehn Geboten, aber religionsneutral – so knapp und allgemeinverständlich wie möglich formulieren? (2) Wie, auf welchen Kanälen, kann die so formulierte humanistische „Ethik des menschlichen Überlebens“ in die Welt geschickt und von den Menschen verinnerlicht werden?
Die Verantwortung aller Menschen
- Sie schreiben oft, was mich tief bewegt, vom „gesundem Menschenverstand“, z.B. in der Außenpolitik. Wohl die wenigsten Intellektuellen, Politiker, gar Chefs einer Supermacht würden sich trauen, so ein Wort in den Mund zu nehmen! Eher würde man Sätze erwarten wie: „Solch komplizierte Themen mit solch weitreichenden Folgen sind nur etwas für Top-Spezialisten, für eine umfassend gebildete und ausgebildete Elite!“ – Was bedeutet es für Sie, wenn Sie sogar im Zusammenhang von Außen- und Rüstungspolitik vom „gesunden Menschenverstand“ sprechen?
- Michail Sergejewitsch, Sie sind ein Mann, der falsche Stärke (Pseudostärke) nicht nötig hat. Und Sie sind ein Mann, der lieben kann. Ich habe mich oft gefragt, was Ihre Politik der atomaren Abrüstung, Ihre Politik von Perestroika und Glasnost und des Neuen Denkens, die der Welt das Ende des ersten Kalten Krieges und Ihrem Land Demokratisierung und Freiheit gebracht hat, wohl der gelungenen Liebe zwischen Ihnen und Ihrer Frau,Raissa Maximowna verdanken mag. – Wollen wir uns jetzt auf das vielleicht gewagteste Feld begeben (es könnte ja in den Ohren von Zynikern fürchterlich naiv und kitschig klingen!) und uns fragen, was eine Politik für die Rettung dieses Planeten mit Liebe – nicht der abstrakten „Liebe zur Menschheit“, sondern der Liebe zu einem ganz konkreten Menschenexemplar aus Fleisch und Blut – zu tun hat? Zum Schluss daher die Kinderfrage: Müssen Menschen, die in der Politik und in anderen Lebensbereichen große Verantwortung tragen, zur Liebe fähig sein – also fähig sein, Liebe zu geben und zu nehmen –, wenn sie in dieser Welt wirksame Schritte zum Besseren unternehmen wollen?