Die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel Hand in Hand mit dem Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Selenskyj (Bild UA.Gov)

Ein schlechter Friede ist besser als ein guter Krieg

Am vergangenen Montag besuchte der russische Präsident Wladimir Putin seinen belarussischen Amtskollegen Alexander Lukashenko in Minsk. Am Rand dieses Treffens erklärte Putin, er sei in Kontakt mit weiteren Amtskollegen in verschiedenen Ländern. Dabei erwähnte er namentlich den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron (1). Mindestens ebenso interessant ist aber, wen er nicht erwähnte: den deutschen Kanzler Olaf Scholz. Die Interviews von Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel im «Spiegel» und in der «ZEIT» vom 7. und 8. Dezember zeitigen offensichtlich schon erste Auswirkungen. 

Am 7. Dezember rechtfertigte Angela Merkel ihre Russland-Politik nach 2014 in Interviews mit dem „Spiegel“ und der „Zeit“:

„… das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht.“ (2).

Diese Worte wurden nicht nur in Deutschland als deutlicher Hinweis darauf interpretiert, dass die Minsker Vereinbarungen nur dazu dienten, der Ukraine die nötige Zeit zu verschaffen, um eine militärische Lösung des Konflikts vorzubereiten. 

Im Trubel um diese Aussage ging eine andere etwas unter, die von aufmerksamen Beobachtern sehr wohl verstanden wurde: Der Widerstand Deutschlands gegen einen Beitritt der Ukraine und Georgiens auf dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest hatte offenbar lediglich zum Ziel, die Ukraine aus der NATO rauszuhalten, damit das Bündnis bei einem absehbaren Konflikt mit Russland  nicht von der ersten Sekunde an Kriegspartei sein würde, aber die Ukraine dennoch für einen künftigen Krieg mit Russland „… als Rammbock in Stellung gebracht werden könne“ (3). Das Narrativ der russischen Regierung, wonach die NATO mit dem Werkzeug Ukraine einen Krieg gegen Russland führe, erfuhr damit eine Bestätigung. 

Merkels Aussagen sind ein Affront gegen alle, die versuchten, den Konflikt in und um die Ukraine mit friedlichen Mitteln zu lösen. Insofern muss man nun auch das Normandie-Format generell hinterfragen (4). Die Schweiz widmete der Einhaltung des Waffenstillstands in der Ostukraine ein besonderes Augenmerk, seit sie im Jahr 2014 den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE innehatte. Die drei Minsker Abkommen zur Einstellung der Feindseligkeiten im September 2014 und Februar 2015 wurden unter der Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini ausgehandelt (5). Es war der damalige Schweizer Außenminister Didier Burkhalter, der im März 2014 die Initiative zur Schaffung der OSZE-Sonderbeobachtermission, der Special Monitoring Mission (SMM), in der Ukraine ergriff, als deren stellvertretender Chefbeobachter der Schweizer Alexander Hug während vieler Jahre diente (6). Auch später, als der Schweizer Thomas Greminger als Generalsekretär der OSZE amtete, war der Schweizer Diplomatie die Einhaltung des Minsker Waffenstillstands ein besonderes Anliegen.

Der schwierige Stand der SMM

Ursprünglich als Mission zur Überwachung von Menschen- und Minderheitenrechten, der Lage der Frauen, von Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit eingerichtet, musste die SMM ab September 2014 zusätzlich die Einhaltung des Minsker Waffenstillstands verfolgen. Nach 2014 scheuten sich die Vorsitzenden der OSZE, eine eigentliche Peacekeeping Mission auf die Beine zu stellen oder das Mandat der SMM anzupassen, denn sie befürchteten, dass kein Konsens über ein neues Mandat zustande kommen würde. Stattdessen wurde die SMM von ursprünglich 100 Mitarbeitern auf weit über 1’000 ausgebaut und mit den notwendigen materiellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet. Dazu gehörten auch Drohnen. 

Obwohl die SMM stets darauf verzichtete, die Verantwortlichen für die Verletzung des Minsker Waffenstillstands zu benennen, hatte sie immer einen schweren Stand: Sie wurde von den Machthabern auf beiden Seiten der Front unter Druck gesetzt, ihre Berichterstattung wurde von allen Parteien kritisiert und ihre Mitarbeiter erlebten teilweise offene Ablehnung. Letzteres war zum Teil dadurch bedingt, dass die Hoffnung der Bewohner des Konfliktgebiets auf ein Ende der Kampfhandlungen sich nicht erfüllte. Den Patrouillen der SMM wurde oftmals die Durchfahrt durch Checkpoints oder der Zugang zu Objekten verweigert und in Einzelfällen wurden sie auch offen bedroht. Solches geschah fast ausschließlich auf dem Territorium unter Kontrolle der selbsternannten Volksrepubliken von Donetsk (DNR) und Lugansk (LNR) (7). Die Drohnen der SMM wurden täglich elektronisch gestört, indem die Funkverbindung zur Bodenkontrollstation oder der Empfang von GPS-Satellitendaten unterbrochen wurde. Regelmäßig wurde auch auf sie geschossen. Dass beide Seiten sich daran beteiligten, war auch in der OSZE-Zentrale in Wien absolut klar (8). Symptomatisch war ein Vorfall am 7. Oktober 2019, als im Raum Mariupol innerhalb von Minuten beide Konfliktparteien nacheinander auf eine Drohne der SMM schossen. Die Angaben aus dem Tagesbericht der SMM ließen damals sogar eine Bestimmung der Stellungen zu, aus denen der Beschuss erfolgte (9). Die Konfliktparteien hätten die Fehlbaren zur Rechenschaft ziehen können, wenn sie gewollt hätten.

Das Sekretariat der OSZE untersuchte die Vorkommnisse, bei welchen ihr Personal gefährdet wurde. Auch hier teilten sich die Konfliktparteien die Verantwortung. Ein Beispiel ist der Vorfall am Checkpoint der ukrainischen Regierungstruppen (UAF) in Novotroitske am 5. Oktober 2017: Kaum hatte eine Patrouille der SMM den Checkpoint der UAF erreicht, eröffneten diese aus Mörsern das Feuer auf den gegenüberliegenden Checkpoint der bewaffneten Kräfte der Volksrepublik Donetsk. Hierbei spekulierten sie darauf, dass die Rebellen schon nicht zurückschießen würden, um die Patrouille nicht zu gefährden und der Ukraine nicht Munition für das übliche Blame Game zu bieten, das in den Foren der OSZE nach solchen Vorfällen jeweils folgte (10). Dieses buchstäbliche Spiel mit dem Feuer betrieben beide Seiten jahrelang. Ein weiteres schmutziges Spiel bestand darin, Checkpoints auf der Gegenseite zu beschießen, kurz nachdem eine Patrouille der SMM an diesem beobachtet worden war. Dadurch entstand bei den betroffenen Soldaten mit der Zeit der Verdacht, Personal der OSZE würde Minenwerfer- bzw. Mörser-Feuer der Gegenseite anfordern. Generell wurde auf Leib und Leben des Personals der SMM wenig Rücksicht genommen. Der Tod eines amerikanischen Mitarbeiters der OSZE geht wahrscheinlich auf das Konto des UAF (11), derjenige eines Schweizer Delegierten des IKRK fast sicher ebenfalls (12).

Langes Sündenregister

In acht Jahren wurde der Waffenstillstand von Minsk fast nie vollständig eingehalten. Aber auch in der Zentrale der OSZE in Wien war man sich dessen bewusst, dass sich entlang einer Frontlinie von 400 km Länge immer ein ängstlicher Soldat findet, der im Zweifelsfall sein Magazin leerschiesst, wenn er es mit der Angst zu tun bekommt. Mangelnde Disziplin und Alkoholmissbrauch dürften ebenfalls eine gewisse Rolle gespielt haben. Auffällig war jedenfalls die beinahe täglich zu beobachtende Zunahme der Waffenstillstandsverletzungen nach Einbruch der Dunkelheit. 

Der Unterschied zwischen dem Konflikt in der Ukraine und jenem in Berg-Karabach lag aber im Einsatz von schweren Waffen. In Karabach kam solches nur selten vor, in der Ukraine hingegen täglich. Der Einsatz von Minenwerfern bzw. Mörsern, Artillerie und Mehrfach-Raketenwerfern (MLRS) kann kaum erfolgen, ohne dass Feuerleitsysteme auf Bataillons- oder gar Brigade-Ebene einbezogen werden. Deshalb ist der Einsatz von Artillerie und MLRS im Falle eines Bruchs des Waffenstillstands in der Regel als Ausdruck des entsprechenden politischen Willens zu werten. Dass nicht nur die von Russland unterstützten Rebellen, sondern auch die Ukraine wissentlich und willentlich den Waffenstillstand von Minsk verletzten, beobachtete die SMM während sechs Jahren täglich.

Von der Unterzeichnung des Minsker Maßnahmen-Pakets im Februar 2015 bis ins Jahr 2020 verfolgte die Delegation der Schweiz bei der OSZE die Verletzungen des Minsker Waffenstillstands systematisch und führte eine eigentliche Statistik darüber. Circa 40 Prozent der Waffenstillstandsverletzungen ließen sich hierbei einer der beiden Konfliktparteien zuordnen. Dabei stellte sich heraus, dass beide Parteien in vergleichbarem Ausmaß den Waffenstillstand verletzten. In der Regel zeichneten die Rebellen der LNR und DNR für 40 bis 60 Prozent der Waffenstillstandsverletzungen verantwortlich und umgekehrt die ukrainischen Regierungstruppen für 60 bis 40 Prozent. Natürlich rechtfertigten sich die Konfliktparteien immer mit der Notwendigkeit der Selbstverteidigung. Eine stichprobenartige Untersuchung der Waffenstillstandsverletzungen ergab jedoch, dass beide Seiten auch unprovoziert schwere Waffen einsetzten: So wurden im Zeitraum vom 25.03. bis 02.04.2017 sieben Verletzungen des Waffenstillstands durch die bewaffneten Formationen der selbsternannten Volksrepubliken von Lugansk und Donetsk begangen, ohne dass die UAF zum fraglichen Zeitpunkt und im betroffenen Raum Waffen eingesetzt hätten. Somit entfiel Notwehr als Begründung für den Waffeneinsatz. Umgekehrt verletzten die ukrainischen Regierungstruppen im gleichen Zeitraum den Waffenstillstand elf Mal, davon acht Mal mit schweren Waffen – ebenfalls unprovoziert (13).

Esel und Grautiere

Regelmäßig wurden auch Wohngebiete in Dörfern und Städten mit schweren Waffen beschossen. Diese Taten wurden zu 80 Prozent von der UAF begangen. Dem entsprechend zeigt die Auflistung der zivilen Opfer, welche das Büro des UN-Menschenrechtsbeauftragten (UNHCHR) in Kiew führte, dass in den Jahren zwischen 2018 und 2021 nicht weniger als 81 Prozent der zivilen Opfer auf der Seite der LNR und DNR anfielen (14). Die tatsächliche Anzahl ziviler Opfer nach 2014 dürfte erheblich höher sein, als im Bericht des UNHCHR ausgewiesen, möglicherweise weit über 10’000. 

Tabelle: Zivile Opfer in der Ukraine 2018 -2021
Quelle: UN High Commissioner for Human Rights, HR Monitoring Mission in Ukraine, Hervorhebungen durch den Verfasser.

Am Beginn dieser unheilvollen Entwicklung stand der Beschuss von Mariupol mit Mehrfach-Raketenwerfern und der Beschuss der Ulitsa Kuprina in Donetsk im Januar 2015, wobei Grund besteht, an der offiziellen Version zu zweifeln, wonach die bewaffneten Kräfte der DNR hierfür verantwortlich seien (15). Es waren gerade die schweren Waffen, welche die meisten Opfer unter der lokalen Bevölkerung forderten. Über die Verluste der Streitkräfte lagen und liegen bis heute kaum verlässliche Zahlen vor, denn darüber gaben die Kriegsparteien nur ungern Auskunft. 

Eine auf Basis der Tagesberichte der SMM vorgenommene Auswertung über den Beschuss von Kindergärten und Schulen in den Jahren 2020 und 2021 ergab 19 solcher Fälle. Davon lagen 16 Ziele auf dem Territorium der selbsternannten Volksrepubliken von Donetsk und Lugansk, womit die Urheberschaft am ehesten bei den UAF zu suchen ist (16). Eher dürftig wirkten in solchen Fällen oftmals die Rechtfertigungen der Konfliktparteien, der betreffende Ort sei als Unterkunft für Truppen genutzt worden. Die Anwesenheit von Soldaten mit Handfeuerwaffen genügt wohl kaum, um einen Notwehrfall zu begründen und mit Artillerie in Wohngebiete hinein zu schießen. 

Tabelle: Beschuss von Kindergärten und Schulen 2020 und 2021.
Quelle: Tagesberichte SMM, Tabelle: Verfasser

Hinter dem Beschuss von Schulen dürfte vielmehr eine Strategie stehen, die sich aus einer Rede des ehemaligen Staatspräsidenten der Ukraine, Petro Poroshenko erschließt: 

„Unsere Kinder werden in die Schulen und Kindergärten gehen, und ihre Kinder werden in Kellern sitzen“ (17), 

sagte Poroshenko einmal mit Blick auf die Kinder in den selbsternannten Volksrepubliken von Donetsk und Lugansk. 

Und auch der Beschuss von Einrichtungen zur Versorgung der Bevölkerung mit essenziellen Gütern und Dienstleistungen ist keine neue Erscheinung seit dem 24. Februar dieses Jahres. Häufig betroffen war beispielsweise das Wasserwerk von Kamyanka am Nordrand von Donetsk, welches noch heute die Menschen auf beiden Seiten der Front mit Trinkwasser versorgt (18).

Alles in allem darf man festhalten, dass der Einsatz der SMM über mehrere Jahre hinweg aufzeigte, dass im wöchentlich stattfindenden Blame Game im Ständigen Rat der OSZE und dem Forum für Sicherheitskooperation der eine Esel den anderen mit Grautier schimpfte. 

Ein Schuss ins eigene Knie

Im Lichte der Äußerungen Merkels wird jetzt auch klar, weshalb Deutschland als Vermittler des Minsker Waffenstillstands nicht lauter gegen die zahlreichen Waffenstillstandsverletzungen protestierte: Der Krieg musste mit geringer Intensität in Gang gehalten werden, denn wäre Frieden eingekehrt im Donbass, dann wäre die ukrainische Regierung unter Druck gekommen, die politischen Bestimmungen des Minsker Maßnahmenpakets umzusetzen, was sie offen ablehnte. Nach einer längeren Phase der Waffenruhe hätte die ukrainische Regierung einen erneuten Kriegsbeginn nicht rechtfertigen können. Im Gegenzug waren die Rebellen der LNR und DNR nicht gewillt, schwere Waffen von der Frontlinie abzuziehen, solange das ukrainische Parlament keine Anstalten machte, die erwähnten politischen Bestimmungen umzusetzen. 

Merkel diskreditiert mit ihren Aussagen die Anstrengungen Deutschlands während acht Jahren und letzten Endes auch sich selbst. Im Kreml wird man sich nun fragen, weshalb Russland über einen neuen Waffenstillstand verhandeln sollte, denn völkerrechtlich bindende Verträge – und das Minsker Maßnahmenpaket war Teil einer Resolution des UNO-Sicherheitsrats – sind ja offensichtlich nicht viel wert (19).  

Friede in der Ukraine?

Was braucht es nun, damit in der Ukraine wieder Friede einzieht? Ein erster Schritt wäre einmal der Verzicht auf Polemik und der sorgfältigere Umgang mit dem Thema der Propaganda. Die Leichtigkeit, mit welchem dieser Begriff derzeit verwendet wird, ist oftmals nur noch als Ausdruck der Hilflosigkeit zu werten, wenn es am Willen oder der Fähigkeit zur sachlichen Auseinandersetzung fehlt. 

Mit ihren Äußerungen hat Angela Merkel das Vertrauen Russlands zerstört, ebenso wie jenes vieler Länder außerhalb der EU. Es ist kaum anzunehmen, dass Russland Deutschland noch als Dialogpartner akzeptiert. Deutschland wird Mühe haben, seinen Anspruch auf die Führung einer moralisch überlegenen Außenpolitik zu begründen. Angesichts der Rolle, die Frankreich in den vergangenen acht Jahren spielte, stellt sich die Frage, ob Emmanuel Macron vertrauenswürdiger ist, als Angela Merkel oder auch Olaf Scholz. Vielleicht sind Anrufe von Präsident Macron im Kreml nicht viel mehr als Zeitverschwendung. Die russische Führung wollte schon immer direkt mit der US-Regierung sprechen und hat nun einen Grund, die Europäer links liegen zu lassen. Für die Bevölkerung des kriegsgeplagten Donbas(s) gibt es jetzt erst recht keinen Grund mehr, den Westeuropäern zu vertrauen. Die Menschen dort wollten nie westlicher Geopolitik dienen. 

Angela Merkel bestätigte implizit das Narrativ Moskaus, Russland sei mit der sogenannten Militärischen Sonderoperation einem ukrainischen Angriff auf die abtrünnigen Volksrepubliken von Donetsk und Lugansk zuvorgekommen. 

Nach den Erfahrungen mit den Minsker Abkommen von 2014 und 2015 werden zukünftige Vermittler wohl kaum mehr den Fehler begehen, politische und militärische Bestimmungen in einem Abkommen zu vermischen und werden folglich ein reines Waffenstillstandsabkommen anstreben. Ein solches Abkommen wird die militärische Situation einfrieren und damit den Status quo bestätigen, vielleicht für Jahre. Das kann nicht im Interesse der Ukraine liegen. 

Solange die zahlreichen Kriegsverbrechen, welche beide Seiten ihrem jeweiligen Gegner vorwerfen, nicht untersucht sind, braucht der Osten der Ukraine eine „harte Grenze“, welche ethnische Ukrainer und Russen trennt, denn das Vertrauen, welches für ein Zusammenleben notwendig ist, dürfte auf die Dauer einer Generation hinaus zerstört sein. Solche Untersuchungen werden sich über Jahre hinziehen. Der Panslawismus, das Narrativ von Russen und Ukrainern als Brudervölker, das namentlich in Russland gepflegt wurde, ist wohl Schnee von gestern. Wie lange es gehen kann, bis wieder Normalität einkehrt, zeigt das Beispiel des ehemaligen Jugoslawiens. 

Im russisch-ukrainischen Konflikt setzen beide Seiten derzeit auf militärische Mittel. Die Erfahrungen aus dem Südkaukasus zeigen jedoch, dass eine Regierung auch in Kriegszeiten immer eine Verhandlungsstrategie zur Hand haben sollte, denn die Aussicht auf einen endlosen Krieg ist auf Dauer nicht attraktiv. Die Probleme, die dem aktuellen Konflikt in der Ukraine zugrunde liegen, lassen sich sowieso nicht mit Gewalt lösen. Ähnliche Probleme mit nationalen Minderheiten gibt es auch anderswo auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, und wenn jedes dieser Probleme durch die Annexion von Gebieten oder die Vertreibung der lokalen Bevölkerung gelöst werden soll, dann steht den Menschen in diesem Raum in den nächsten Jahrzehnten viel Ungemach bevor.

Es sieht so aus, als müssten andere Mächte Europa helfen, seine Probleme zu lösen, nachdem die Europäer jahrzehntelang versucht haben, alle anderen zu belehren. Wer eine Führungsrolle in der Weltpolitik beansprucht, sollte eigentlich bessere Lösungen als Tod und Zerstörung zu bieten haben. Einen weihnachtlichen Waffenstillstand wird es nicht geben und vom Frieden auf Erden sind wir weit entfernt. Viel treffender ist derzeit wohl eher das alte Sprichwort, das besagt, dass ein schlechter Friede einem guten Krieg vorzuziehen ist. Für mehr wird es auch nach diesen Weihnachten nicht reichen. 

Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Autor: Ralph Bosshard studierte Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte, absolvierte die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee und arbeitete 25 Jahre als Berufsoffizier (Instruktor). Er absolvierte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau sowie eine Ausbildung an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee. Mit der Lage in Osteuropa und Zentralasien ist er aus seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE vertraut, in der er als Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz und Operationsoffizier in der Hochrangigen Planungsgruppe tätig war.

Anmerkungen: 

Der Verfasser war selbst von 2014 bis 2020 beruflich bei der OSZE in Wien, in der Ukraine und in Berg-Karabach tätig. 

  1. Siehe „Лукашенко оценил встречу с Путиным словами «Белоруссия не обойдется без России»“, bei Lenta.ru, 19.12.2022, online unter https://lenta.ru/news/2022/12/19/without/ und “ Путин рассказал о контактах с коллегами“, bei RIA Novosti, online unter https://ria.ru/20221219/putin-1839857206.html?utm_source=yxnews&utm_medium=desktop, in russischer Sprache. 
  2. Siehe Alexander Osang: Ein Jahr mit Ex-Kanzlerin Merkel »Das Gefühl war ganz klar: Machtpolitisch bist du durch«, in: DER SPIEGEL 48/2022, 24.11.2022, online unter https://www.spiegel.de/panorama/ein-jahr-mit-ex-kanzlerin-angela-merkel-das-gefuehl-war-ganz-klar-machtpolitisch-bist-du-durch-a-d9799382-909e-49c7-9255-a8aec106ce9c. Siehe auch Tina Hildebrandt, Giovanni di Lorenzo: Interview mit Angela Merkel, bei Zeit Online, 07.12.2022, online unter https://www.zeit.de/2022/51/angela-merkel-russland-fluechtlingskrise-bundeskanzler.
  3. Siehe Kommentar von Willy Wimmer, Staatssekretär a.D., bei World Economy, 09.12.2022, online unter https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/merkel-aeusserungen-zu-ihrer-ukraine-politik-kommentar-von-willy-wimmer-staatssekretaer-ad/
  4. Siehe Rudolf Guljaev: Der Sinn eines neuen Gipfeltreffens im Normandie-Format ist mehr als fraglich, bei World Economy, 20.05.2019 online unter https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/der-sinn-eines-neuen-gipfeltreffens-im-normandie-format-ist-mehr-als-fraglich/
  5. Es handelt sich dabei konkret um das Minsker Protokoll vom 05.09.2014, online unter https://www.osce.org/home/123257, das Minsker Memorandum vom 19.09.2014, online unter https://www.osce.org/files/f/documents/a/1/123807.pdf und das Minsker Maßnahmenpaket vom 12.02.2015, online unter https://www.osce.org/files/f/documents/5/b/140221.pdf; alle Originale in russischer Sprache. 
  6. Mandat der SMM: Permanent Council Decision No. 1117, 21.03.2014, auf der Homepage der OSZE, online unter https://www.osce.org/files/f/documents/d/2/117407.pdf
  7. Ukrainische Schreibweise Luhansk. 
  8. Der entsprechende Berichtspunkt findet sich in praktisch jedem Tagesbericht der Special Monitoring Mission der OSZE. Siehe Daily and spot reports from the Special Monitoring Mission to Ukraine, online unter https://www.osce.org/ukraine-smm/reports. Die SMM verfasste zu diesem Thema auch einen eigenen Bericht: THEMATIC REPORT, Restrictions of SMM’s freedom of movement and other impediments to fulfilment of its mandate January – June 2021, online unter https://www.osce.org/files/f/documents/0/b/508991.pdf
  9. Siehe OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM) Daily Report 238/2019 issued on 8 October 2019, online unter https://www.osce.org/special-monitoring-mission-to-ukraine/435002
  10. Siehe Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 5 October 2017, online unter https://www.osce.org/special-monitoring-mission-to-ukraine/348436. Vgl. Rudolf Guljaev: Erneuter Anschlag auf die OSZE im Donbas geplant? bei World Economy, 07.06.2019 online unter https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/erneuter-anschlag-auf-die-osze-im-donbas-geplant/. Ders.: Ukrainische Militärs missbrauchen die Special Monitoring Mission (SMM) der OSZE in der Ukraine als menschliche Schutzschilde, bei World Economy, 27.05.2019 online unter https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/ukrainische-militaers-missbrauchen-die-special-monitoring-mission-smm-der-osze-in-der-ukraine-als-menschliche-schutzschilde/. Ders.: Die Strategie der Einschüchterung der OSZE Beobachter im Donbas durch die Ukraine geht weiter, bei World Economy, 27.05.2019 online unter https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/die-strategie-der-einschuechterung-der-osze-beobachter-im-donbas-durch-die-ukraine-geht-weiter/
  11. Hierzu gibt es einen vertraulichen Bericht der OSZE: Analyse zum Bericht der Independent Forensic Investigation vom 21.08.2017 über den tödlichen Zwischenfall mit einer Patrouille der SMM in Pryshyb am 23.04.2017, (VERTRAULICH). Dem Verfasser ist dieser Bericht bekannt.
  12. Siehe Internationales Komitee des Roten Kreuzes: Ukraine, ICRC delegate killed in Donetsk, 02.10.2014, online unter https://www.icrc.org/en/document/ukraine-icrc-delegate-killed-donetsk.
  13. Siehe Daily and spot reports from the Special Monitoring Mission to Ukraine, online unter https://www.osce.org/ukraine-smm/reports. Die Homepage der OSZE Special Monitoring Mission erlaubt die Sortierung der Tagesberichte nach Datum. 
  14. Siehe Conflict-related civilian casualties in Ukraine: UNITED NATIONS HUMAN RIGHTS MONITORING MISSION IN UKRAINE, 27 January 2022, online unter https://ukraine.un.org/sites/default/files/2022-02/Conflict-related%20civilian%20casualties%20as%20of%2031%20December%202021%20%28rev%2027%20January%202022%29%20corr%20EN_0.pdf. Vgl. „Hintergründe zum Beschuss ziviler Ziele in der Ukraine, Donetsk, wul. Kuprina“, OSZE-interner Bericht, 28.01.2015, basierend auf Spot report by the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), 22 January 2015: Shelling Incident on Kuprina Street in Donetsk City, Kyiv, 22 January 2015, online unter https://www.osce.org/ukraine-smm/135786. Siehe auch zum Beschuss von Yasynuvata am 20.12.2017, Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 21 December 2017 und Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 22 December 2017, online unter https://www.osce.org/special-monitoring-mission-to-ukraine/364071 und https://www.osce.org/special-monitoring-mission-to-ukraine/364021. Ein interner Bericht der OSZE kam damals zum Schluss, dass die UAF hierfür eine ganze Artillerie-Batterie von sechs bis acht Geschützen einsetzte.
  15. Siehe Rudolf Guljaev: Расследование случая обстрела Мариуполя в январе 2015 года, bei World Economy, 26.01.2020, online unter https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/rassledovanie-sluchaja-obstrela-mariupolja-v-janvare-2015-goda/, in russischer Sprache. Ders.: False Flag Aktion und Kriegsverbrechen des „Bataillon Azov“?, bei World Economy, 10.03.2020, online unter https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/false-flag-aktion-und-kriegsverbrechen-des-bataillon-azov/. Ders.: Операция „под чужим флагом“ и военные преступления батальона Азов?, bei World Economy, 11.03.2020, online unter https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/operacija-pod-chuzhim-flagom-i-voennye-prestuplenija-batalona-azov/, in russischer Sprache. 
  16. Siehe siehe Daily and spot reports from the Special Monitoring Mission to Ukraine, online unter https://www.osce.org/ukraine-smm/reports.
  17. Siehe seine Rede: „Poroschenko: Ihre Kinder werden in Kellern sitzen“, online unter https://www.youtube.com/watch?v=kCWh7U-LroY.
  18. Siehe Beschuss der WFS Donetsk und des Verkhnokalmiuska Stausees: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 6 November 2017, online unter https://www.osce.org/special-monitoring-mission-to-ukraine/355221. Vgl. auch Table of ceasefire violations as of 5 November 2017https://www.osce.org/files/f/documents/1/e/354946.pdf, S. 1f. Schüsse auf einen Bus mit Mitarbeitern der VodadonbassaLatest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 17 April 2018, online unter https://www.osce.org/special-monitoring-mission-to-ukraine/378136
  19. Siehe UN Meetings Coverage and Press Releases: 7384th MEETING (PM), SC/11785, 17.02.2015: Unanimously Adopting Resolution 2202 (2015), Security Council Calls on Parties to Implement Accords Aimed at Peaceful Settlement in Eastern Ukraine, online unter https://press.un.org/en/2015/sc11785.doc.htm.

Anmerkung der Redaktion Globalbridge.ch: Mit ihrem Geständnis, dass sie zu den Verträgen von Minsk ihre Zustimmung nur gegeben hat, um der Ukraine mehr Zeit für die Aufrüstung zu geben, und nicht damit die Verträge Minsk II eingehalten werden, hat Angela Merkel de facto auch die Verhandlungsleiterin, die Schweizer Spitzendiplomatin Heidi Tagliavini, betrogen. Eine formelle Medienanfrage vom 12. Dezember 2022 beim Schweizer Aussenministerium, ob man dazu eine Stellungnahme abgeben werde, wurde nicht beantwortet. (cm)