
Ein Rückblick auf das Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg
(Red.) Wenig überraschend blicken die großen Medien vor allem in den Nahen Osten, wo die USA drei Nuklear-Anlagen im Iran bombardiert und beschädigt und damit die Welt einen deutlichen Schritt näher an einen dritten Weltkrieg gebracht haben. Dass Russland seinerseits Geschäftsleute aus über hundert Ländern nach St. Petersburg an das Wirtschaftsforum locken konnte, wird nur ungern zur Kenntnis genommen. (cm)
SANKT PETERSBURG. Vom 18. bis 21. Juni fand in der „nördlichen Hauptstadt Russlands” das 28. Internationale Wirtschaftsforum von Sankt Petersburg statt. Das große offizielle Thema des Treffens lautete „Gemeinsame Werte: Grundlage für Wachstum in einer multipolaren Welt“. Die multipolare Welt ist natürlich eines der ewigen Themen, die in Russland in den letzten Jahren behandelt werden. Man hat keine Lust, ein Land zweiten Ranges zu sein: In Russland wird der Weg zum Aufbau einer multipolaren Welt als Befreiung von der westlichen Vorherrschaft und als Festigung der nationalen Souveränität verstanden, die zur obersten Priorität geworden ist.
Der russische Präsident Wladimir Putin sagte in einer Ankündigung vor der Veranstaltung, dass „der Schwerpunkt des Forumprogramms auf Technologie und digitaler Transformation liegt“. Laut Putin sei die Vorstellung, dass die russische Wirtschaft auf Rohstoffen basiere, mittlerweile überholt. „Der Beitrag der Rohstoffe zur wirtschaftlichen Dynamik unseres Landes ist nicht mehr entscheidend. Dank der Arbeit von Zehntausenden von Unternehmen und Firmen entwickelt sich unsere Wirtschaft nicht nur stetig weiter, sondern wird auch qualitativ hochwertiger, komplexer und vielfältiger“, erklärte der russische Präsident in seiner Rede am dritten Tag des Forums.
Die Welt zu Gast bei Russland
Dabei drohte die kollektive Begeisterung für eine der wichtigsten Veranstaltungen des Jahres durch die jüngsten tragischen Ereignisse, von denen einer der Partner Russlands betroffen war, überschattet zu werden. Doch während das Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg vor dem Hintergrund schwerer Gewitterwolken auf der internationalen Bühne stattfand – Israel hatte erst vor einer Woche den Krieg gegen den Iran begonnen –, war auf der anderen Seite deutlich zu spüren, dass man in Sankt Petersburg keineswegs bereit war, sich davon die Stimmung verderben zu lassen. Hier ging es vor allem um Wirtschaft und Geschäfte: Um gute Geschäfte zu machen braucht man Motivation, viel Energie und gute Laune.
Offiziellen Angaben zufolge besuchten 2025 rund 20.000 Menschen aus etwa 140 Ländern das Wirtschaftsforum. Europäische und amerikanische Zeitungen sprechen von einem isolierten und in sich gekehrten Russland. Aber was man in den Gängen der riesigen Messe des Sankt Petersburger Wirtschaftsforums gesehen hat und die Besucherzahlen scheinen etwas anderes zu suggerieren: Die Welt besteht nicht mehr nur aus dem Westen.
Hier in Sankt Petersburg haben sich die Reichen, Schönen und Mächtigen des heutigen Russlands versammelt. Nach dem zu urteilen, was man hier gesehen hat, geht es der russischen Führungsklasse immer noch ziemlich gut. Unter den ausländischen Gästen befanden sich Vertreter der Regierungen Indonesiens, Chinas, Südafrikas und Bahrains sowie zahlreiche Vertreter internationaler Unternehmen – natürlich mit Ausnahme der westlichen.
Die wenigen (West-)Europäer, die am Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg teilnehmen, sind in der Regel privat hier und gehören meist zwei Kategorien an: derjenigen, die seit Jahren gute Geschäfte und Firmen in Russland aufgebaut haben, oder derjenigen, die aus dem einen oder anderen Grund fast vollständig das Vertrauen in die Institutionen und Regierungen ihrer Länder verloren haben. Zu letzteren gehört zum Beispiel Ralph Thomas Niemeyer, der 2022 in Russland Zuflucht gefunden hat und von dort aus die Organisation „Nationalkomitee: Freies Deutschland“ leitet, in der Hoffnung, Deutschland eines Tages – mit ausschließlich friedlichen Mitteln – vom amerikanischen Einfluss zu befreien. Niemeyer ist übrigens der Ex-Mann der Politikerin Sahra Wagenknecht, mit der er bis 2013 verheiratet war. In den letzten Jahren ist Niemeyer regelmäßig im russischen Fernsehsender RT zu sehen.
In Sankt Petersburg gab es aber auch konventionellere Persönlichkeiten, wie beispielsweise der Schweizer Journalist Roger Köppel, der bei einem Panel des russischen Think Tanks „Waldai-Klub“ sprach. Oder Ulrike Guérot, ehemalige Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Bonn. Ulrike Guérot darf an der Universität Bonn nicht mehr lehren, auch wegen ihrer Positionen zum Krieg in der Ukraine, die in der deutschen akademischen Welt für Aufsehen sorgte. Noch fehlt ein definitiver Gerichtsentscheid. Ulrike Guérots Sünde? Sie hatte behauptet, Russland sei provoziert worden.
„Ich wollte mir ein frisches Bild von Russland machen, was sich hier tut, wo die Diskussion steht. Ich habe in Moskau mein neues Buch vorgestellt, Zeitenwende, es ist vor zwei Wochen auf Russisch erschienen. Ich hatte viele interessante Diskussionen und Interviews hier über europäische Identität und das, was gerade passiert“, sagt Ulrike Guérot in einem Gespräch mit GlobalBridge. „Gestern war ich hier auf einem Panel über kulturelle Diplomatie und da ging es genau darum, die Brücken nicht abreißen zu lassen. Irgendwie wird der Krieg hoffentlich bald zu Ende sein.“
Die Stimmung in der Wirtschaft
Einer der Europäer, der schon seit langem in Russland lebt und sich eher mit Geschäften befasst, ist Stefan Dürr, ebenfalls ein Deutscher, Gründer und Präsident von EkoNiva, einem der größten Milch- und Käseproduzenten auf dem russischen Markt, der seit nunmehr dreißig Jahren in Russland tätig ist.
„Diese Veranstaltung ist vor allem eine Gelegenheit, neue Kontakte zu knüpfen. Was die Wirtschaft angeht, würde ich sagen, dass das Wirtschaftsklima gut ist. Die Frage dreht sich heute vor allem um den Zinssatz. Ist das wirklich notwendig? Das ist das Problem jetzt. Was die Sanktionen von außen angeht, so sind diese kein wirkliches Problem“, sagt Stefan Dürr.
Auch viele russische Geschäftsleute bestätigen, dass der Hauptwert des Wirtschaftsforums in der Möglichkeit liegt, Kontakte zu anderen Unternehmen und potenziellen Partnern zu knüpfen. „Hier treffen sich Mitglieder der Regierung, von Nichtregierungsorganisationen und der Wirtschaft und bilden eine Art Symbiose. Man kann ganz ungezwungen Gouverneure, Minister und Eigentümer großer Unternehmen treffen und hier viele Themen diskutieren“, sagt Andrej Lugowoi, ein Abgeordneter des russischen Parlaments, der ebenfalls in den Fluren des Forums gesichtet wurde. Andrej Lugowoi ist übrigens aus ganz anderen Gründen im Westen bekannt.
Auch Geschäftsfrauen sind zahlreich vertreten. „Ich halte das unternehmerische Klima in Russland für gut. Trotz der Sanktionen erhalten kleine und mittlere Unternehmen durch staatliche Unterstützung, neue Märkte und Technologien Instrumente für ihr Wachstum. Dieses Wirtschaftsforum ist eine der Plattformen, die solche Möglichkeiten bietet“, sagt Maria, eine Unternehmerin aus Sankt Petersburg, die sich mit Franchising beschäftigt. „Welche Auswirkungen hatten die westlichen Sanktionen? Ich würde sagen, eher positive. Nach der Umstellung auf Importsubstitution begannen kleine und mittlere Unternehmen in Russland zu wachsen und zu expandieren, während sich große Technologie- und Industrieunternehmen schneller entwickelten“, fährt Maria fort.
Inmitten dieses unaufhörlichen Treibens der Geschäfte und der Verhandlungen scheinen die wenigen europäischen Journalisten, die hier sind, sich wie Fremdkörper in den Hallen des Forums zu bewegen und schwanken zwischen einer affektierten Langeweile und einer spöttischen Haltung, die in diesem Forum nichts weiter als eine weitere Show der russischen Propaganda sehen will. Auf jeder Messe gibt es sicherlich immer ein wenig Spektakel für verwirrte und neugierige Besucher, aber das Forum als eine einfache Inszenierung der Kreml-Propagandamaschinerie abzutun, um naive ausländische Zuschauer zu hypnotisieren, bedeutet, die Bedeutung einer solchen Veranstaltung als Spiegel der russischen Wirtschaftskraft nicht zu verstehen. Hier arbeiten Tausende von Menschen mit Begeisterung und Engagement daran, etwas Großes aufzubauen. Und auch wenn die Leistung der russischen Wirtschaft nach einigen Indikatoren bescheiden ausfallen mag, so ist doch bei gleicher Kaufkraft festzustellen, dass die russische Wirtschaft die größte in Europa ist.
Neue Horizonte
Was in Sankt Petersburg deutlich wird, ist, dass die „Wende nach Osten“ – oder, um ein anderes Bild zu verwenden, die Wende zum Globalen Süden – Russlands ein abgeschlossener und nun unumkehrbarer Prozess zu sein scheint. Man kann nicht sagen, dass heute der Eindruck besteht, dass Russland den Westen unerträglich vermisst. Die Importsubstitution westlicher Waren – zum großen Teil durch chinesische Analoga, die, Vorurteile beiseite, den westlichen Produkten in puncto Qualität heute in nichts nachstehen und in vielerlei Hinsicht technologisch überlegen sind, aber auch durch russische Produktion – hat nicht nur gezeigt, dass Russland ohne den Westen ziemlich gut zurechtkommt, sie hat auch der Wirtschaft einen starken Impuls gegeben. Eines scheint sicher: Die Zeit des „westlich orientierten“ Russlands ist vorbei: Vor ihm eröffnen sich neue Horizonte, und Russland hat verstanden, dass es ohne den Westen auskommen kann, ohne dabei wirklich viel zu verlieren.
„Die aktuelle Krise wird eine Generation lang Spuren hinterlassen“, sagt Stanislaw Tkachenko, Professor für Internationale Beziehungen an der Staatlichen Universität St. Petersburg. „Die russische Politik betrachtet Europa nicht mehr als verlässlichen Partner.“
Russland ist offensichtlich nicht mehr daran interessiert, dem Westen hinterher zu laufen und ihn in allem nachzuahmen. Das Land will jetzt seinen eigenen Weg gehen und sein eigenes Schicksal schaffen. An Selbstvertrauen fehlt es ihm heute definitiv nicht mehr.
Schließlich aber zeugte das Sankt Petersburger Wirtschaftsforum davon, dass das heutige Russland den „Geist des Kapitalismus“, der einst als Monopol des Westens galt, inzwischen fast vollständig aufgenommen und verinnerlicht hat. In vielerlei Hinsicht ist Russland heute eine reinere Verkörperung dieses dynamischen und innovativen Geistes des Kapitalismus als viele europäische Länder, deren Potenzial durch die vielen Vorschriften und Regelungen gebremst wird. Das Forum in Sankt Petersburg ist ein eindrucksvoller Beweis dafür, dass der Geist des Kapitalismus in Russland sehr lebendig ist und sich an verschiedene Herausforderungen anpassen kann.
Der Konflikt zwischen Russland und dem Westen, den viele in den letzten Jahren als Kampf der Kulturen sehen wollten – ein Narrativ, das aus verschiedenen Gründen sowohl in Russland als auch im Westen verwendet wird –, erweist sich in Wirklichkeit eher als ein Wettbewerb zwischen zwei Kräften, die fest in den Mechanismen des Kapitalismus verankert sind. Schließlich sind Wirtschaft und Geld, obwohl manche in Russland oft eine Art vorgetäuschte Verachtung gegenüber der Welt der Geschäfte entgegenbringen, weil sie sie für vulgär, materialistisch und einer spirituellen Zivilisation unwürdig halten, nach wie vor die Lymphe einer Nation.
Und zum Bericht von Stefano di Lorenzo eine redaktionelle Ergänzung:
Gleichzeitig mit dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg hat das russische Außenministerium eine klare Stellungnahme zu den US-amerikanischen Bombardierungen iranischer Atom-Anlagen abgegeben. Die deutsche Übersetzung davon:
Russland verurteilt entschieden die Angriffe der Vereinigten Staaten auf mehrere Nuklearanlagen in der Islamischen Republik Iran, die in den frühen Morgenstunden des 22. Juni nach den jüngsten Angriffen Israels durchgeführt wurden.
Diese rücksichtslose Entscheidung, Raketen- und Luftangriffe auf das Hoheitsgebiet eines souveränen Staates zu fliegen, stellt ungeachtet der vorgebrachten Rechtfertigungen einen eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht, die Charta der Vereinten Nationen und die einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen dar, der solche Handlungen stets und unmissverständlich als inakzeptabel verurteilt hat. Besonders besorgniserregend ist die Tatsache, dass die Angriffe von einem ständigen Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen durchgeführt wurden.
Die Folgen dieser Aktion, einschließlich möglicher radioaktiver Auswirkungen, sind noch nicht absehbar. Es ist jedoch bereits jetzt offensichtlich, dass eine gefährliche Eskalation im Gange ist, die die Sicherheit sowohl in der Region als auch weltweit weiter destabilisieren könnte. Diese US-Bombardierungen haben die Wahrscheinlichkeit eines größeren Konflikts im Nahen Osten, einer Region, die bereits von zahlreichen Krisen heimgesucht wird, drastisch erhöht.
Die Angriffe auf iranische Nuklearanlagen sind ein schwerer Schlag für das globale Nichtverbreitungs-Vertragswerk, das auf dem Atomwaffensperrvertrag («Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons», NPT) basiert, was Anlass zu besonderer Besorgnis gibt. Sie haben sowohl die Glaubwürdigkeit des Non-Proliferation Treaty NPT als auch die Integrität der Überwachungs- und Verifizierungsmechanismen der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), die ihm zugrunde liegen, erheblich untergraben.
Wir erwarten von der IAEO-Führung, dass sie umgehend, professionell und transparent reagiert und dabei vage Formulierungen oder Versuche, sich hinter politischer „Äquidistanz“ zu verstecken, vermeidet. Es ist ein unvoreingenommener und objektiver Bericht des Generaldirektors erforderlich, der der Agentur auf ihrer bevorstehenden Sondersitzung zur Prüfung vorgelegt werden muss.
Selbstverständlich muss auch der UN-Sicherheitsrat eine entschlossene Haltung einnehmen. Konfrontative und destabilisierende Maßnahmen der USA und Israels müssen gemeinsam abgelehnt werden.
Wir fordern die sofortige Beendigung der Aggression und verstärkte Bemühungen, um die Situation wieder auf einen friedlichen, diplomatischen Weg zu bringen.