Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, ehemaliger unabhängiger UNO-Experte für internationale Ordnung. (Foto Christian Müller anlässlich eines Treffens 2014 in Brüssel)

Ein Entwurf für Frieden in der Ukraine

(Red.) Der 10-Punkte-Friedensvorschlag des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj, der aus ukrainischer Sicht die Basis für den sogenannten Friedensgipfel auf dem Schweizer Bürgenstock sein soll, ist einfach eine bedingungslose Kapitulation Russlands in anderen Worten – und deshalb absolut illusorisch und sinnlos. Aber es gibt Vorschläge von erfahrenen UNO-Leuten, die deutlich realistischer sind. Einer davon stammt von Alfred de Zayas, der auch deutlich mehr Gewicht auf das von der UNO garantierte Selbstbestimmungsrecht der Völker legt. (cm)

Da immer mehr Politiker und Wissenschaftler erkennen, dass der Ukraine-Konflikt nicht militärisch gelöst werden kann, dass es keine Gewinner, sondern nur Verlierer geben wird, sollten wir uns darauf konzentrieren, das Gemetzel zu beenden. Dies ist die einzige vernünftige Politik, die wir verfolgen können, und sie sollte von allen Unterorganisationen der UNO vorangetrieben werden, insbesondere von der Generalversammlung, dem UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, dem UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, der Weltgesundheitsorganisation und so weiter.

Mein Plan für den Frieden ist einfach: 
1. Waffenstillstand auf der Grundlage der UNO-Charta, 
2. ein Verbot von Waffenlieferungen an die kriegsführenden Parteien, 
3. von der Uno organisierte internationale Hilfe für alle Bevölkerungsgruppen, die unter dem Krieg, dem Mangel an Energie und Nahrungsmitteln leiden, 
4. von der UNO organisierte und überwachte Referenden im Donbas und in den anderen russischsprachigen Provinzen, die Russland zu seinem Staatsgebiet erklärt hat. Verhandlungen über den Status der Krim, 
5. Aufhebung der Sanktionen, die die Vorteile der Globalisierung zunichte machten, Lieferketten unterbrachen, den internationalen Handel störten und die Ernährungssicherheit gefährdeten, 
6. Ausarbeitung einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa, die Russland mit einschliesst,
7. koordinierte Bemühungen der Staaten und des UNHCR, um die Rückführung der ukrainischen Flüchtlinge «in Sicherheit und Würde» zu erleichtern, 
8. ein globaler Fonds für den Wiederaufbau der Infrastrukturen in allen vom Krieg betroffenen Regionen, 
9. die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission, um die Klagen aller Seiten anzuhören, 
10. Untersuchung und Bestrafung von Kriegsverbrechen durch die jeweiligen Regierungen, wie in den Genfer Konventionen von 1949 und den Protokollen von 1977 vorgesehen: Ukrainische Verbrechen werden von ukrainischen Richtern verfolgt, russische Verbrechen werden von russischen Gerichten untersucht und geahndet.

Es gibt eine Vorgeschichte zu dieser Katastrophe. Wenn wir zu einer tragfähigen Friedenslösung kommen wollen, müssen wir die Ursachen verstehen und eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens schaffen. Ausserdem dürfen wir den Konflikt nicht nur aus der Sicht der USA, Westeuropas oder Osteuropas analysieren, sondern müssen auch die Ansichten von 1,5 Milliarden Chinesen, 1,5 Milliarden Indern, 240 Millionen Pakistanern, 170 Millionen Bangladeschern, 280 Millionen Indonesiern, 220 Millionen Nigerianern, 220 Millionen Brasilianern, 140 Millionen Mexikanern und so weiter berücksichtigen. Es steht zu viel auf dem Spiel, und wir Amerikaner und Europäer haben kein Recht, das Überleben des Planeten wegen eines innereuropäischen Streits zu riskieren. Für den durchschnittlichen Afrikaner, Asiaten oder Lateinamerikaner ist es völlig unerheblich, ob die Krim zu Russland oder zur Ukraine gehört. 

Die afrikanischen Führer haben einen 10-Punkte-Fahrplan-für-den-Frieden vorgelegt, und China hat einen eigenen 12-Punkte-Vorschlag gemacht. Beide Initiativen sind ausgewogen und neutral.

Entscheidend ist, sich JETZT auf einen Waffenstillstand zu einigen und Vermittler wie Papst Franziskus einzuschalten, die konkrete Vorschläge machen. Professor Jeffrey Sachs hat in zahlreichen Vorträgen auf eine Beendigung der Feindseligkeiten auf dem Verhandlungswege gedrängt und vor der Gefahr eines Atomkriegs gewarnt. Er zitiert eine Rede von John F. Kennedy aus dem Jahr 1963: «Vor allem müssen die Atommächte bei der Verteidigung ihrer eigenen lebenswichtigen Interessen solche Konfrontationen vermeiden, die einen Gegner vor die Wahl stellen, entweder einen demütigenden Rückzug oder einen Atomkrieg zu führen. Ein solcher Kurs im Atomzeitalter wäre nur ein Beweis für den Bankrott unserer Politik – oder für einen kollektiven Todeswunsch für die Welt.»

Ein realistisches Konzept für den Frieden in der Ukraine kann nicht erwarten, in die Welt vor dem 24. Februar 2022 zurückzukehren. Das unipolare Modell ist nicht mehr lebensfähig. Es entsteht eine neue Ordnung, in der der globale Süden einen grösseren Einfluss haben wird als bisher. 

Die Krim, Donezk und Lugansk werden niemals zur Ukraine zurückkehren, denn nach dem Beschuss dieser Gebiete durch die Ukraine seit 2014 hat sich ein erheblicher Hass auf die ukrainischen Behörden entwickelt. Es ist nicht Sache der NATO, darüber zu entscheiden, sondern ausschliesslich eine Frage der Selbstbestimmung und der Entscheidung der betroffenen Bevölkerung.

So wie die Kosovaren einer Wiedereingliederung in Serbien niemals zustimmen werden, würde die russische Bevölkerung der Krim, von Donezk und Lugansk gegen jeden solchen Vorschlag rebellieren. Es sollte eine neue europäische Sicherheitsarchitektur aufgebaut werden, die den legitimen Sicherheitsinteressen aller in der Region lebenden Menschen Rechnung trägt. Die Unabhängigkeit der Ukraine muss selbstverständlich garantiert werden, ebenso wie die Unabhängigkeit Russlands. Wie der österreichische Aussenminister Alexander Schallenberg kürzlich sagte, existiert Russland und wird nicht verschwinden: «Wir können Russland nicht abschaffen. Wir können es nicht wegzaubern».

Der Krieg in der Ukraine war durchaus vermeidbar. Die beiden russischen Vertragsentwürfe vom Dezember 2021 hätten eine ehrliche Diskussion verdient, aber sie wurden von Jens Stoltenberg kurzerhand abgelehnt. Der Frieden wäre möglich gewesen, wenn die Vermittlung der Türkei und Israels nicht von denjenigen torpediert worden wäre, die wirklich glaubten, dass der «Sieg» über Russland nahe sei. 

Zu den vielen Hindernissen für den Frieden gehören mangelnde Vorstellungskraft und Grabenmentalität. Ob wir im Westen dieser Einschätzung zustimmen oder nicht, die Osterweiterung der NATO wurde von Russland als existenzielle Bedrohung empfunden. Früher oder später würde Russland reagieren, wie George F. Kennan und John Mearsheimer (1) warnten. Wir sollten nicht vergessen, dass Russland von 2014 bis 2022 an den Minsker Vereinbarungen, an OSZE-Treffen und am Normandie-Format teilnahm. Russland hat im Einklang mit Artikel 2 Absatz 3 der UNO-Charta gehandelt und acht Jahre lang versucht, die Probleme, die sich aus dem Maidan-Putsch von 2014 ergeben haben, mit friedlichen Mitteln zu lösen. Leider war es die Ukraine, die sich mit Unterstützung der USA und des Vereinigten Königreichs (UK) weigerte, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen.

Als UNO-Beamter hatte ich die Möglichkeit, die russische Sprache zu erlernen und mein Zertifikat zu erwerben. Beim OHCHR hatte ich Gelegenheit, die russische Sprache bei zahlreichen Missionen in den baltischen Staaten und Russland sowie 1994 bei Missionen in der Ukraine zur Beobachtung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen anzuwenden. Zweifellos fühlt sich die grosse Mehrheit der Menschen im Donbas und auf der Krim russisch.

Es besteht kein Zweifel, dass russische Soldaten in der Ukraine Greueltaten begangen haben und dass ukrainische Soldaten Verbrechen begangen haben, ebenso wie NATO-Truppen in Afghanistan, Irak, Abu Ghraib und Guantanamo. Es ist nicht hilfreich, Kriegsverbrecherprozesse vorzubereiten, denn die Erfahrung zeigt, dass solche Prozesse nur dann stattfinden können, wenn es eine bedingungslose Kapitulation gegeben hat, wie 1945, als Deutschland und Japan kapitulierten.

Das heutige Szenario ist ein anderes, denn die Chance, dass Russland kapituliert, ist gleich null. Wenn die Spannungen weiter eskalieren, besteht die Gefahr, dass jemand in der NATO einen «nuklearen Präventivschlag» gegen Russland vorschlägt. Dies würde eine nukleare Antwort Russlands auslösen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Meere voller U-Boote der NATO und Russlands sind, die alle mit Atomsprengköpfen ausgerüstet sind. Wir sollten also keine nukleare Konfrontation provozieren, die sehr wohl das Leben von Menschen (und Tieren) auf unserem Planeten auslöschen könnte.

Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass wir die Spannungen abbauen und versuchen müssen, einen Kompromiss, einen Modus Vivendi, zu finden, auch wenn es viele Jahre dauern wird, bis die Beziehungen zwischen den NATO-Staaten und Russland wieder zu einer respektvollen Koexistenz zurückkehren können. Was wir brauchen, ist Versöhnung, nicht die Fortsetzung des Krieges durch Kriegsverbrechergerichte.

Es gibt in der Geschichte viele Präzedenzfälle, in denen grosse Kriege mit Amnestien endeten. (2) Der Dreissigjährige Krieg (1618 bis 1648), der etwa 8 Millionen Europäern den Tod brachte, sah keine Vergeltungsmassnahmen vor. Die Verträge von Münster und Osnabrück aus dem Jahr 1648 legten in ihrem gemeinsamen Artikel 2 fest: «Es soll auf beiden Seiten ein ewiges Schuldbekenntnis, eine Amnestie oder eine Begnadigung für alles, was begangen worden ist, gelten […] in der Weise, dass keine Körperschaft […] irgendwelche Feindseligkeiten ausüben, Feindschaften unterhalten oder sich gegenseitig Unannehmlichkeiten bereiten soll.» Der Westfälische Friede von 1648 ist als ein Meilenstein des Völkerrechts in die Geschichte eingegangen. (3)

Wir können uns auf Artikel 3 des Vertrags von Rijswijk (1697) beziehen, der eine Amnestie für die Soldaten der französischen und britischen Monarchie vorsah. Artikel XI der Schlussakte des Wiener Kongresses (1815) sah eine Amnestie trotz der Greueltaten der napoleonischen Kriege vor. Im Vertrag von Brest-Litowsk vom 3. März 1918, einem von den Mittelmächten Russ­land aufgezwungenen Vertrag, verzichteten die Parteien auf jegliche Ansprüche für ihre Kriegskosten sowie auf eine Entschädigung für Kriegsschäden. Kriegsverbrecherprozesse waren nicht vorgesehen. In jüngerer Zeit wurde in Kapitel II des Abkommens von Evian von 1962, das den grausamen algerischen Unabhängigkeitskrieg beendete, eine Amnestie für beide Seiten festgelegt. Der Gedanke der Versöhnung stand hinter Artikel 6 des Zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1949 aus dem Jahr 1977, in dem es unter anderem heisst: «Bei Beendigung der Feindseligkeiten bemühen sich die zuständigen Behörden, den Personen, die an dem bewaffneten Konflikt teilgenommen haben, eine möglichst umfassende Amnestie zu gewähren.»

Zugegeben, die heutige Welt mag das Konzept der «Amnestie» nicht und scheint süchtig nach Rache zu sein. Das ist gefährlich, denn wir tanzen am Rande des Abgrunds. 

Dieser Artikel wurde erstmals in der äusserst lesenswerten Schweizer Zeitschrift «Zeitgeschehen im Fokus» publiziert.

Anmerkungen:
(1) The Great Delusion, Yale University Press, New Haven 2018
(2) Alfred de Zayas: «Amnesty Clause» in Rudolf Bernhardt (ed.): Encyclopedia of Public International Law, vol, I, North Holland, Amsterdam 1992, pp. 148–151.
(3) Alfred de Zayas: «Westphalia, Peace of» in Bernhardt: Encyclopedia of Public International Law, vol. IV, pp. 1465–1469, North Holland, Amsterdam 2000

Veröffentlicht am 15. Mai 2024