Ein Angriff auf die Wahrheit
(Red.) Unser Kolumnist aus den USA, Patrick Lawrence, analysiert Joe Bidens Kommunikation zum Krieg in Gaza und zu den Protesten an den US-Universitäten. Ob seine Schlussfolgerung Bidens Kommunikationsstil und Politik deshalb ändern wird? Wohl kaum. (cm)
Wie jeder vernünftige Mensch es schon auf den ersten Blick weiss, ist es unmöglich, den Völkermord einer gesetzlosen Nation an einer anderen Bevölkerung zu ermöglichen, sogar zu unterstützen und alles in allem zu tolerieren, und dann das Ermöglichen, das Unterstützen und das generelle Tolerieren vor dem Gericht der öffentlichen Meinung, vor einem Gericht des internationalen Rechts oder vor internationalen Foren wie den Vereinten Nationen auch noch zu verteidigen. Es besteht keine Chance, für ein solches Verhalten (wie es jetzt durch Israel geschieht, Red.) breite Akzeptanz zu finden. Es ist einfach nicht möglich. Nur einfältige Leute würden überhaupt versuchen, die Zustimmung anderer zu erlangen. Das einzig mögliche ist die Missbilligung.
Aber das Biden-Regime besteht, falls das nicht schon offensichtlich ist, tatsächlich aus einfältigen Leuten. Es wäre am besten, wenn der Rest der Welt dies einfach als amerikanische Realität akzeptieren würde. Und Dummheit in Kombination mit Macht – eine weitere US-amerikanische Realität – führt unweigerlich zu katastrophalen Ergebnissen.
Das Weiße Haus von Biden, seine Unterstützer auf dem Capitol Hill und seine Schreiberlinge in den Konzernmedien haben seit den Ereignissen vom 7. Oktober versucht, nicht nur die Mordserie des Apartheid-Staates Israel gegen die Palästinenser in Gaza zu rechtfertigen, sondern auch die Unterstützung der USA für die täglichen Barbareien der Israelis. Sie hatten allerdings nur kurzzeitig Erfolg, als in den ersten Tagen der israelischen Invasion reflexartige Sympathie herrschte und das Ausmaß der israelischen Grausamkeit noch nicht klar war. Washingtons Versagen, diese israelischen Gräueltaten zu rechtfertigen, ist in letzter Zeit aber zu offensichtlich geworden, um es zu leugnen oder zu verschleiern.
In den letzten Wochen, so würde ich sagen, hat dies eine weitere amerikanische Realität offengelegt. Diese einfältigen, aber mächtigen Amerikaner haben, wie gerade beschrieben, nie gezögert, die grotesken Ereignisse in Gaza oder die abartige Unmenschlichkeit des rechtsextremen Regimes in Israel falsch darzustellen. Aber jetzt, wo der Widerstand gegen Israel und die Unterstützung Washingtons exponentiell zu wachsen droht, so dass er der Antikriegsbewegung der 1960er Jahre zu ähneln beginnt, werden wir Zeugen eines weiteren neuen Ereignisses: eines Angriffs auf die Wahrheit in voller Montur.
Es wäre schwierig, die Bedeutung dieser Wende zu überschätzen. Sie öffnet die Tür zu einer gefährlichen neuen Stufe der Repression. Die Unterdrückung der Redefreiheit, der Vereinigungsfreiheit und des offenen Dissenses sind die bösartigsten Merkmale. Wie gefährlich aber ist „gefährlich“? Ich verweise die Leser auf all die höflichen Floskeln, die wir heute der McCarthy-Ära der 1950er Jahre zuschreiben, als Amerika die Demokratie einem paranoiden Streben nach totaler Macht überließ und als für sehr viele prinzipientreue Menschen Gefängnisstrafen oder das Exil die einzigen Alternativen waren.
■
Können wir diese eskalierende antidemokratische Kampagne genauer datieren? Ich denke ja. So wie ich die jüngsten Ereignisse lese, begann sie Mitte April, als Studenten der Columbia University in New York Zelte aufschlugen und zur Unterstützung der Palästinenser in Gaza demonstrierten. Die Demonstrationen breiteten sich schnell auf zahlreiche Universitäten im ganzen Land aus und konfrontierten die ansonsten unbeteiligten Amerikaner – eine Mehrheit oder zumindest annähernd eine Mehrheit – mit der Obszönität des israelisch-amerikanischen Völkermords.
Die Regierung Biden ignorierte die Protestbewegung zunächst, doch als sie sich zum „Elefanten in Amerikas Wohnzimmer“ auswuchs, fand sich der Präsident in seiner eigenen Falle gefangen. In seinen ersten Äußerungen zu der Bewegung, die er am 2. Mai im Weißen Haus machte, tat Biden so, als würde er sie gutheißen. „Friedliche Proteste stehen in der besten Tradition, wie Amerikaner auf wichtige Themen reagieren“, erklärte er großspurig. „Dissens ist für die Demokratie unerlässlich.“
Den Beginn der neuen Entschlossenheit des Biden-Regimes, wahrheitsgemäße Darstellungen der Ereignisse zu unterdrücken, sehe ich in seinem nächsten Satz. „Aber Dissens darf niemals zu Unruhen führen“, sagte er. Ein paar Minuten später fragte ein Reporter: „Herr Präsident, haben die Proteste Sie veranlasst, Ihre Politik in Bezug auf die Region zu überdenken?“ Biden antwortete mit einem Wort. „Nein“, sagte er entschieden.
Wir sollten diese Aussagen sorgfältig lesen. Was sagen sie aus, bei genauem Hinsehen? Zwei wichtige Dinge, Wenn ich die Abschrift von Bidens Äußerungen lese, zwei wichtige Dinge:
Erstens: Biden bekennt sich zum demokratischen Recht auf Dissens, während er es im Grunde genommen ablehnt. Jede abweichende Meinung ist per Definition dazu bestimmt, auf die eine oder andere Weise zu „Unordnung“ zu führen. Indem Biden den Dissens so einschränkte, wie er es tat, entzog er den Demonstranten ein verfassungsmäßiges Recht und sagte ihnen eigentlich dies: „Ich erlaube euch nichts, was über ein Ritual hinausgeht. Dissens kann nur performativ – handlungsankündigend – sein.“ Das ist die Essenz dessen, was ich „Apfelkuchen-Autoritarismus“ nenne.
Zweitens, und das hängt mit meinem ersten Punkt zusammen, ist die Aussage, er, Biden, habe nicht die Absicht, seinen Kurs zu ändern, obwohl sich landesweit Demonstrationen gegen den israelisch-amerikanischen Völkermord ausbreiten, eine direkte Diskreditierung der Sichtbarmachung von Dissens als „wesentlich für die Demokratie“. Der Subtext ist hier leicht zu erkennen: Widersprechen Sie, wenn Sie wollen, aber wir werden Ihnen keine Beachtung schenken. Es gibt nur eine Version der Wahrheit, in diesem Fall unsere Version der Beurteilung der Ereignisse in Gaza, und es gibt keinen Platz für eine andere. – Das ist, wenn Sie mich fragen, amerikanischer Autoritarismus in Reinkultur.
Fünf Tage nach seinen Äußerungen im Weißen Haus hielt Biden eine Rede im Kapitol anlässlich der jährlichen Gedenktage des «Holocaust Memorial Museums». In den dazwischen liegenden Tagen war viel passiert. Die Proteste auf den Universitätsgeländen hatten sich ausgebreitet, und auch ihre Botschaft: Die Medien berichteten in großem Umfang über die Demonstrationen. In diesem Zusammenhang hatten Beamte, gewählte Abgeordnete und die Medien damit begonnen, diejenigen, die Zelte aufschlugen, Gebäude besetzten und sich zu Wort meldeten, energisch als „antisemitisch“ darzustellen.
Hier ist ein Teil von Bidens Rede vom 7. Mai, die seither wegen ihrer Passage über die „wilde Welle“ viel beachtet wurde. Ich stütze mich auf die Abschrift des Weißen Hauses:
«Wir haben einen heftigen Anstieg des Antisemitismus in Amerika und in der ganzen Welt erlebt: bösartige Propaganda in den sozialen Medien, Juden, die gezwungen werden, ihre Kippa unter einer Baseballmütze zu verstecken, ihre Judensterne in ihre Hemden zu stecken. Auf dem College-Campus werden jüdische Studenten auf dem Weg zum Unterricht blockiert, belästigt und angegriffen. Antisemitismus – antisemitische Plakate, Slogans, die die Vernichtung Israels, des einzigen jüdischen Staates der Welt, fordern. Zu viele Menschen leugnen, verharmlosen, rationalisieren, ignorieren die Schrecken des Holocaust und des 7. Oktobers, einschließlich des entsetzlichen Einsatzes von sexueller Gewalt durch die Hamas, um Juden zu foltern und zu terrorisieren.»
Ende Zitat Biden.
Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Rede zu beschreiben. Sie ist ein heftiger Angriff auf die Wahrheit und die Ankündigung des Biden-Regimes, die Amerikaner dazu zu zwingen, eine Darstellung der kritischen Ereignisse zu akzeptieren, deren Zeuge sie tagtäglich werden, die in ihrer Realitätsferne absolut orwellsch ist.
In den USA gibt es keine heftige Welle des Antisemitismus. Wenn es antisemitische Propaganda in den sozialen Medien gibt, ist sie schwer zu finden und im öffentlichen Diskurs nicht prominenter als in den vergangenen Jahrzehnten. Plakate, Slogans, kauernde jüdische Studenten, die ihre Identität verbergen: Es gibt keine Beweise für irgendetwas davon – und keine Beweise dafür, dass es irgendwelche Beweise gibt.
Niemand ignoriert den Holocaust, auch wenn viele Menschen, darunter viele Juden, ihn inzwischen für eine zynisch überspielte Karte halten. Die Geschichten über die sexuelle Gewalt der Hamas während der Ereignisse des 7. Oktober – insbesondere, aber nicht nur, die berüchtigten, fabrizierten Berichte der «New York Times» vom letzten Dezember – sind inzwischen gründlich diskreditiert. Die Behauptung, die Campus-Demonstrationen seien von Natur aus antisemitisch, ist aus der Luft gegriffen, wie zeitgenössische wissenschaftliche Studien über die Demonstrationen eindeutig belegen.
In diesem letzten Punkt ist es erwähnenswert, dass eine Gruppe von 750 jüdischen Universitätsstudenten, die anteilig für Universitäten in den gesamten USA repräsentativ sind, vor kurzem einen Brief veröffentlicht hat, in dem sie in angemessener Weise gegen das protestiert, was sich jetzt als die Orthodoxie in diesen Fragen herauskristallisiert hat. Der «Guardian» hat in einem Artikel vom 7. Mai auf dieses Dokument hingewiesen, aber in der amerikanischen Presse wurde darüber nicht berichtet. Der Brief lautet auszugsweise:
«Als jüdische Studenten weisen wir die Behauptung, dass diese Lager antisemitisch sind und eine inhärente Bedrohung für die Sicherheit jüdischer Studenten darstellen, von ganzem Herzen zurück … Die Behauptung, die Gaza-Solidaritätscamps seien von Natur aus antisemitisch, ist Teil der jahrzehntelangen Bemühungen, die Grenzen zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus zu verwischen. Es ist ein Narrativ, das die große Zahl jüdischer Studenten, die an den Lagern teilnehmen und dabei helfen, sie als Ausdruck unserer jüdischen Werte zu führen, ignoriert … »
Ende Zitat.
Der Vorwurf des Antisemitismus ist in Amerika inzwischen allgegenwärtig, zum einen, weil er denjenigen nützt, die die Wahrheiten, für die die Demonstranten und andere eintreten, diskreditieren wollen, so wie die Unterzeichner des oben zitierten Briefes es scharfsinnig zu bezeichnen wagen, und zum anderen, weil das Repräsentantenhaus vor kurzem ein Gesetz verabschiedet hat, das Antisemitismus in einem so lächerlich weiten Sinne definiert, dass Kritik an Israel, wenn der Senat dieses Gesetz verabschiedet, offiziell als antisemitisch gelten wird. (Siehe dazu weitere Artikel unten, Red.)
In diesem Zusammenhang lässt die Wahrheit, die niemand an der Macht aussprechen will, alle anderen „Elefanten im Raum“ wie Spielzeugminiaturen aussehen. Es ist die mehr oder weniger vollständige Kontrolle des zionistischen Israels über das Biden-Regime, über alle bis auf einige wenige Widerständler im Kongress und über die Medien, die es durch Bestechungsgelder oder den angedrohten Zwang ausübt. Dies zu verschleiern oder zu vernachlässigen, wie es alle Beteiligten tun, kommt einer ungeheuerlichen Lüge gleich.
Diese Lüge des Verschweigens ist nicht neu. Sie wurde über viele Jahre hinweg immer wieder erzählt. Aber es ist Tatsache, dass der Apartheid-Staat Israel Washington wirklich in der Hand hat – ich wähle diese Formulierung ganz bewusst –, und das Biden-Regime jetzt zu seiner aktuellen Torheit verleitet. Israel hat sich selbst zu einem Pariastaat gemacht, und es scheint kaum eine Chance zu geben, es von diesem Schicksal zu erlösen. Schon es zu versuchen, ist ein einfältiges Unterfangen. Der einzige Ausweg, der den einfältigen Leuten im Weißen Haus bleibt, ist ein aussichtsloser Angriff auf die Wahrheit selbst. Sie zerstören Amerika, oder das, was davon übrig ist, Stück für Stück. Wir werden sehen, inwieweit dies auch bedeutet, dass die Israelis die USA mit sich in den Abgrund reißen werden.
Zum Originalartikel von Patrick Lawrence in US-englischer Sprache.
Siehe dazu auch:
«Kritik an Netanyahu: Ist sie Ausdruck von Antisemitismus?» (von Christian Müller)
«Pro-Israel-Meinungsmache wird professionalisiert» (von Christian Müller)
«Deutschland tut sich immer noch schwer mit Israel» (von Christian Müller)
«Befürwortet Merkel einen Angriff auf den Iran?» (von Christian Müller)