Dieser Mann darf in Deutschland nicht über seine Jugend reden
(Red.) Salman Abu Sitta ist 86-jährig. Er erlebte als Kind, wie seine Familie enteignet und aus Palästina vertrieben wurde. Es gelang ihm dann, außerhalb Palästinas eine gute Ausbildung zu absolvieren und Ingenieur zu werden. Karin Leukefeld hat mit ihm gesprochen, ihr Bericht erschien auf Globalbridge – und wird hier wiederholt. Aber die Veranstaltung in Berlin, wo Salman Abu Sitta jetzt hätte auftreten sollen, wurde mit Polizeigewalt geschlossen (die Tagesschau berichtete.) Und sein Neffe, Ghassan Abu Sitta, Medizinprofessor an der Universität Glasgow, der freiwillig als Arzt in Gaza im Einsatz war, wurde an der Einreise in Deutschland gehindert (siehe am Ende des untenstehenden Gesprächs). Man darf, nein, man muss sich fragen: Wo ist Deutschland gelandet? – Hier das Gespräch, das Karin Leukefeld mit Salman Abu Sitta geführt hat und das auf Globalbridge.ch am 17. Mai 2023 veröffentlicht wurde. (cm)
Mit Gewalt enteignet und aus Palästina vertrieben – der persönliche Rückblick eines Betroffenen
Salman Abu Sitta wurde 1938 im Süden Palästinas geboren. Er war 10 Jahre alt, als die Nakba begann, die Katastrophe. 65 Massaker wurden von jüdischen Milizen und Zionisten verübt, Hunderttausende Palästinenser wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Auch Salman Abu Sitta und seine Familie wurden vertrieben, in seiner Heimat wurde der Staat Israel gegründet. Salman Abu Sitta studierte in Kairo und wurde Ingenieur. Er erlebte den Krieg um den Suez-Kanal 1956, seit den 1960er Jahren lebte und arbeitete er in Kanada. Er heiratete und gründete seine Familie. In Kuwait erlebte Abu Sitta den Golfkrieg 1991. Nie hat er seine Heimat vergessen. Sein Leben lang hat er für die Rückkehr der Palästinenser in ihre Heimat Palästina gestritten. Karin Leukefeld traf Salman Abu Sitta in Beirut zu einem Interview.
Guten Tag Dr. Salman, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben für dieses Gespräch. Wir sind in Beirut und Sie, Dr. Salman, haben gestern hier auf einer Konferenz des „Zentrums für die Studien der arabischen Einheit“ gesprochen. Kürzlich haben Sie einen Brief an die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geschrieben, auf den wir später noch eingehen wollen. Zunächst möchte ich Sie bitten, etwas über sich zu sagen.
Salman Abu Sitta:
Guten Morgen. Ich heiße Salman Abu Sitta und ich bin Palästinenser. Ich wurde in Al Ma’een Abu Sitta geboren, das liegt im Distrikt von Beer’Sheba und liegt nur acht Kilometer vom Mittelmeer entfernt. Von meinem Land ist es nur einen Kilometer bis zum Stacheldrahtzaun. Diesen Zaun nennt man „Armistice Linie“, die Waffenstillstandslinie von 1949. Anders gesagt, würden die Israelis sich drei, vier Kilometer zurückziehen, wäre unser Land, das ganze Land meiner Familie befreit.
Unser Land umfasst ein Gebiet von 60.000 Dönüm, das ist eine Fläche von 6 mal 8 Kilometern. Dort wurde ich geboren, dort lebte meine Familie seit mindestens 250 Jahren. Warum sage ich 250 Jahre und nicht mehr? Nun, wir haben Dokumente aus der Osmanischen Zeit, in denen steht, dass mein Ur-Ur-Ur-Großvater in seinem Haus eine Ratsversammlung abhielt, auf der alle Führungspersönlichkeiten der Region ein Abkommen unterzeichneten. Mein Ur-Ur-Ur-Großvater war ein Scheich, eine bekannte Person, vergleichbar einem Bürgermeister. Diese Dokumente stammen aus der Zeit um 1840 und – ironischerweise – wurde in dieser Zeit (Arthur) Balfour in England geboren. Balfour, der 1917 ein Land, das ihm nicht gehörte, Leuten übergab, die kein Recht darauf hatten, während die rechtmäßigen Eigentümer dieses Landes nicht anwesend waren. Seitdem sind wir und ist Palästina Tod und Zerstörung ausgesetzt. Wir erleben die Zerstörung unseres Landes, unseres Volkes und die Entvölkerung unseres Landes. Von den 14 Millionen Palästinensern, die es heute gibt, sind zwei Drittel Flüchtlinge. Sie können ihre Heimat sehen und können sie doch nicht erreichen. Obwohl das Internationale Recht hinter ihnen steht. Nicht nur einmal, 135 Mal haben die Vereinten Nationen die Resolution Nr. 194 beschlossen und bekräftigt, mit der die Rückkehr der Flüchtlinge gefordert wird.
Das erste Mal stimmten die Vereinten Nationen im Dezember 1948 für die Resolution 194. Wann mussten Sie Ihre Heimat verlassen?
Salman Abu Sitta:
Das ist tief in meine Erinnerung eingemeißelt, ich werde das nie vergessen. Ich war 10 Jahre alt, als die Israelis angriffen. Sie hießen nicht Israelis, sie waren jüdische Einwanderer aus Europa. Wir und die Britische Regierung nannten sie Juden, eingewanderte Juden. Als sie uns angriffen, habe ich mich gewundert. Ich war ein Kind, 10 Jahre alt. Ich kannte diese Leute nicht, ich hatte nie im Leben einen Juden gesehen. Ich wußte auch nicht, warum sie uns angriffen. Warum sie in mein Zuhause kamen, es zerstörten und mich zu einem Flüchtling machten. Auch in meiner Familie waren die Leute ratlos, sie wußten nicht, warum diese Leute uns angriffen. Sie kamen aus verschiedenen europäischen Ländern. Aus Russland, Polen, Ukraine und aus anderen Ländern. Sie sprachen fremde Sprachen, wir konnten sie nicht verstehen. Als sie kamen, trugen sie Waffen und sie waren ausgebildet. Und sie hatten große politische und finanzielle Unterstützung. Sie verübten Massaker, in Deir Yassin und in den Dörfern um Jaffa. Zu dem Zeitpunkt gab es sie bei uns zu Hause, im Süden von Palästina, nicht. Ich hatte sie nie gesehen.
Als die ersten Massaker im Norden bekannt wurden, war ich in einem Internat in Beer’Sheba, etwa 40 Kilometer von meinem Elternhaus entfernt. Eines Tages, es war im April 1948, kam der Direktor unseres Internats zu uns Jungen und sagte: „Ihr müßt zu Euren Familien zurückgehen. Ich kann Euch nicht beschützen. Die Juden greifen an, sie töten Menschen in Deir Yassin und in Jaffa, geht nach Hause.“ Das kam sehr plötzlich und wir Kinder mussten uns auf den langen Heimweg machen. Wie sollte das gehen? Anfangs half man uns, aber schließlich mußte ich etwa 30 Kilometer zu Fuss gehen. Ich war ein Kind und ich trug meine Tasche mit Kleidung und mit meinen Schulbüchern auf dem Rücken. Das war schwer und ich mußte die Tasche schließlich wegwerfen, weil ich sie nicht mehr tragen konnte. Lange Zeit war ich tief traurig darüber, weil ich alle meine Schulbücher in der Tasche hatte. Ich hatte sie meinem Vater und meiner Mutter zeigen wollen, damit sie sehen konnten, was für ein guter Schüler ich war. Aber ich mußte mich davon trennen und warf die Tasche fort.
Unterwegs sagte ein älterer Junge zu uns: „Wenn Ihr in der Ferne eine jüdische Patrouille seht, legt Euch auf den Boden, in die Weizenfelder, damit sie Euch nicht sehen. Sie haben Maschinenpistolen und werden Euch sonst töten. Schließlich erreichte ich mein Elternhaus und meine Eltern waren sehr überrascht, mich zu sehen. Ich blieb einige Tage im Bett, weil ich völlig erschöpft war. Aber es blieb keine Zeit zum Ausruhen. Am 14. Mai 1948 griffen die Juden uns direkt auf unserem Grund und Boden an. Sie kamen in 24 gepanzerten Fahrzeugen und wir hatten nur 10 oder 15 Gewehre. Wir versuchten, sie abzuwehren und konnten sie etwas aufhalten. Aber dann kamen sie und zerstörten alles. Ich war sehr, sehr traurig, weil sie unsere Schule in die Luft sprengten, die mein Vater 1920 für das Dorf gebaut hatte. Wir hatten auch einen Bajara, einen Brunnen mit einer Pumpe. Mit dem Wasser konnten wir unsere Gärten und Felder bewässern und wir hatten natürlich auch Trinkwasser. Sie sprengten den Brunnen und die Pumpe in die Luft. Und auch unsere Mühle, mit der wir unseren Weizen mahlen konnten, so dass wir Mehl hatten. Sie zerstörten alle Häuser und brannten sie nieder.
Während des Angriffs und der Zerstörung versteckten sich die Frauen mit uns Kindern in einer nahegelegenen Schlucht. Es war mehr eine Vertiefung im Land, wohin wir gelaufen waren und uns in Sicherheit bringen konnten. In der Schlucht hörten wir die Bombenexplosionen und wir sahen den Rauch aus den brennenden Häusern aufsteigen. Und jedes Mal sagten wir, das war das Haus von dem und dem, das war die Schule. Von unserem Versteck aus konnten wir sagen, welches Haus zerstört wurde, wenn wir den Rauch aufsteigen sahen.
In den frühen Morgenstunden zogen sie zu einem anderen Dorf weiter, aber wir waren uns nicht sicher, ob sie wirklich abgezogen oder noch dort waren. Erst als die Sonne hoch am Himmel stand, trauten wir uns zurück ins Dorf und sahen die Zerstörung. Die schwelenden Überreste der Häuser, die Trümmer, die Toten, die auf dem Boden lagen. Es war verheerend, ich habe es nie vergessen.
Sie waren ein zehnjähriges Kind …
Salman Abu Sitta: Ja, ich war damals 10 Jahre alt. Diese Erinnerungen stehen im Zentrum meines Buches „Kartierung meiner Rückkehr“ (Mapping My Return, American University of Cairo, 2016).
Wie ging es weiter?
Salman Abu Sitta: Anders als andere hatte ich Glück. Meine älteren Brüder studierten damals an der Universität in Kairo. Meine Schule war zerstört, also bereitete mein Vater meine Abreise nach Kairo vor, damit ich dort weiter lernen konnte. Alle meine Brüder waren in Palästina zur Schule gegangen und später zum Studium nach Kairo. So war es auch für mich. Aber als ich mein brennendes und zerstörtes Elternhaus verließ, dachte ich nie, dass ich nicht zurückkehren und wieder dort leben würde. Es wurde die Aufgabe meines Lebens. Palästina zu dokumentieren, meine Heimat zu dokumentieren, jeden Ort in Palästina. Ich schrieb für die Rückkehr in meine Heimat an Universitäten, in Büchern, in Atlanten, auf Karten. Ich reiste um die Welt, um das zu tun. Ich war überall in Europa, in den USA. Ich reiste bis nach Japan, Australien und Neuseeland. Im Jahr 2000 gründete ich die Palestine Land Society in London, die Gesellschaft für das Land Palästina. Jetzt, nach 23 Jahren, haben wir an der Amerikanischen Universität von Beirut das Studienzentrum Land Palästina gegründet. Es enthält 10.000 Akten, Dateien, und Dokumente, die ich überall in der Welt gesammelt habe. Jetzt dienen sie der Forschung an der Universität.
Sind Sie nie in Ihre Heimat zurückgekehrt?
Salman Abu Sitta: Ich bin nie in meine Heimat zurückgekehrt, nur als Besucher, als Tourist. Ich wurde Professor an einer Universität in Kanada, ich heiratete dort und meine Kinder wurden dort geboren. 1995 wurde es möglich, Palästina zu besuchen, das sie heute Israel nennen. Ich konnte als Tourist dorthin reisen, weil ich einen fremden Pass hatte. Wäre es ein palästinensischer Pass gewesen, wäre mir das nicht möglich gewesen. 1995 reiste ich also dorthin, um meiner Tochter ihre Heimat zu zeigen.
Haben Sie Ihre Heimat wiedererkannt?
Salman Abu Sitta:
Ich sah meinen Geburtsort wieder, er wird heute Nirim genannt. Ich sah die Schule, die mein Vater gebaut hatte. Die Schule war eine Ruine, der Ort, an dem die Schule gestanden hatte, war zu einem Friedhof geworden. Ein Friedhof für israelische Soldaten, die für eine Kolonie gefallen waren, die auf unserem Land gebaut worden war. Aus den Steinen, aus denen die Schule gebaut worden war, waren Grabsteine geworden. Der Ort, an dem wir Kinder gelernt hatten, war ein Ort geworden, an dem die Soldaten beerdigt wurden, die gekommen waren, um aus mir einen Flüchtling zu machen.
Ich zeigte meiner Tochter den Ort, von wo meine Mutter kam. Wo unsere Gärten gewesen waren, unser Haus. Wir fanden die Überreste des Brunnens, der noch immer dort war. In der Schule überkam es mich und ich kniete nieder und küsste den Boden. Lange verharrte ich so und meine Tochter befürchtete, ich sei ohnmächtig geworden. Sie machte einen Film über unseren Besuch dort, einen privaten Film.
Haben Sie mit Menschen dort gesprochen?
Eine Person, die auf dem Land meiner Familie in der Kolonie lebt, die heute Nirim genannt wird, ist eine Amerikanerin. Aller Wahrscheinlichkeit nach eine jüdische Amerikanerin. Sie heißt Adele Reimer, ist Journalistin und betreibt einen Blog. Sie lebt exakt auf dem Land meiner Vorfahren. Ich habe ihr damals geschrieben: Sie leben auf meinem Land. Ich schickte ihr ein Kapitel meines Buches darüber, wie ich Flüchtling wurde. Sie kommt aus der Bronx, Brooklyn und wurde Siedlerin auf unserem Land. In ihrem Blog beschwert sie sich über ihre Sorgen, was sie alles durchmachen mußte. Dass sie in der Nacht Bunker aufsuchen mußten, weil sie Angst vor den Ballons hatten, die die Palästinenser aus dem Gaza-Streifen hinüber schickten zu ihren Feinden, die ihr Land besetzt halten. Die schickten F-16 Kampfjets, um hohe Gebäude zu zerstören. Erst gestern haben sie 13 Leute, ganze Familien getötet. So ist das. Die Leute, die Flüchtlinge, schicken Ballons an die Siedler, die ihr Land besetzt halten, das ist, was sie haben. Und die Siedler haben solche Angst vor den Ballons, dass sie in Bunkern Schutz suchen. Sie beschweren sich über die Ballons, nicht aber über die F-16, die ganze Wohnviertel zerstören.
Und wie sieht es nun auf dem Land Ihrer Familie aus?
Salman Abu Sitta: Ich habe Karten gezeichnet, wie es war und wer von unserer Familie welches Land besitzt. Und dann habe ich mit Hilfe von Satellitenaufnahmen eine moderne Karte gezeichnet, die zeigt, wie es heute aussieht. Es gibt dort heute vier Kibbuzim: Nirim, Ein Hashlosha, Nir Oz, Mazen …
Nur auf Ihrem Land?
Salman Abu Sitta:
Ja, vier. Magen hat für mich eine spezielle Bedeutung, weil es dort ein Maqam gibt, eine religiöse Stätte. Sie heißt Scheich Nouran. Es ist eine Art Pilger- und Gebetsstätte. In meinem Atlas über Palästina gibt 12.000 historische und religiöse Stätten. Fast jedes Dorf hatte zwei oder auch drei solcher Stätten und wir hatten Scheich Nouran. Frauen kamen dorthin, wenn sie Kinder haben wollten. Sie ließen kleine Dinge dort, schrieben Zeichen, banden bunte Bänder fest.
Damals war die Sterblichkeitsrate unter den Neugeborenen sehr hoch und diese Kinder wurden dann um das Maqam herum beerdigt. Als wir damals in das Kibbuz kamen, fragte man uns, was wir wollten. Wir sagten, wir seien Touristen. Sie fragten, warum wir das Kibbuz betreten wollten und wir sagten, wir wollten Kubour sehen, das ist Hebräisch und heißt Gräber. Dann ließen sie uns rein.
12.000 historische und religiöse Stätten, das ist sehr viel. Welche Bedeutung haben die Maqam?
Salman Abu Sitta:
Ich möchte zu dem Maqam eine Geschichte erzählen. Unser Maqam war aus alten Steinen gebaut und einige waren zersprungen und bröckelten auseinander. Niemand in dem Kibbuz kümmerte sich darum, man ließ es verrotten. Als wir das Maqam erreichten, trat ich sehr vorsichtig auf, weil ich auf Erde ging, in der Kinder beerdigt worden waren. Ich ging um das Gebäude und fand ein offenes Fenster, es war kaputt. Ich nahm meine Kamera, hielt sie durch das Fenster und fotografierte. Und was sah ich, ein Byzantinisches Christliches Kreuz. Ich habe darüber einige Forschungen angestellt und fand bei Alois Musil, einem österreichischen Reisenden in Palästina, Informationen. Er war Experte für christliche byzantinische Geschichte in Palästina und bestätigte, dass im südlichen Palästina zur Zeit von Byzanz nie Juden gelebt hatten. Unser Maqam war offenbar ein Ort, von dem aus der Heilige Hilarion die christliche Kirche in Palästina gegründet hatte. Wir sind die Menschen, die dort immer gelebt haben. Es waren Christen, manche wurden Muslime, davor waren sie Kanaaniten, die vermutlich Aramäisch sprachen. Aber immer waren es die gleichen Leute und darum ist Palästina mit 12.000 religiösen Orten gesegnet. Diese Orte mögen ein Kloster gewesen sein und wurden eine Moschee. Oder es waren Orte, an denen den Göttern gehuldigt wurde, dann wurden sie christliche Kirchen. In Gaza gab es sechs Kirchen, heute gibt es noch drei. Warum? Weil einige der Christen Muslime wurden und aus den Kirchen wurden Moscheen. Das sagt vor allem eines: Die Menschen wollen beten und zwar in einem Gebäude, egal, wie man es nennt.
Sie haben eine starke, lebhafte Erinnerung sowohl als Kind als auch als Erwachsener. Nun haben Sie alle Ihre Unterlagen, Ihr gesamtes Archiv der AUB in Beirut überlassen. Meinen Sie, dass die Zukunft Palästinas in einer Universität liegt, in einem Museum, in einem Studienarchiv?
Salman Abu Sitta:
Ich habe keinen Zweifel, keinerlei Zweifel – wie die Sonne jeden Morgen neu aufgeht, so werden wir zurückkehren. Was uns widerfahren ist, ist eine beispiellose Abweichung der Geschichte Palästinas seit 4000 Jahren. Es gibt nichts dergleichen. Armeen kamen und gingen, neue Herrscher kamen und gingen. Menschen nahmen neue Religionen an – aber nicht einmal in der Geschichte der alten Welt, die seit 4000 Jahren aufgezeichnet ist, nicht einmal ist es geschehen, dass plötzlich ein Teil dieses Landes herausgeschnitten wird! Dass die dort lebenden Menschen verjagt werden und dass man sich und seinen Freunden erzählt, dass die Russen, die Polen, die Ukrainer die eigentlichen Palästinenser sind?! Und dass ich und meine Familie keine Palästinenser sind?! Wie kann man eine solche Lüge auf Dauer aufrechterhalten?
In meinen Palästina Atlas habe ich 55.000 Namen dokumentiert, die es innerhalb Palästinas gibt. Namen von Dörfern, Städten, Hügeln, Flüssen, Orten. Dann kamen sie und löschten das alles aus. Ben Gurion bildete ein Komitee, dessen Aufgabe es war, neue Namen zu finden. Schließlich lieferten sie 6800 Namen. Was ist das zu unseren 55.000 Namen! Alle Namen sind erfunden, konstruiert: Berg Herzl, Ben Gurion Straße usw. Eine Farce. Wie kann man die Geschichte eines Volkes ausradieren, ihre Namen, die in 4000 Jahren entstanden sind, bis zu 50.000 Namen. Und dort setzt sich ein Komitee an den Tisch und erfindet Namen? Unglaublich! Man löscht die Geschichte eines Volkes und seine Geographie aus. Man behauptet, dieses Volk habe es nie gegeben. Und dann legt man neue Geschichtsbücher auf und sagt in den Schulen, es habe nichts gegeben seit dem Jahr Null, Jesu Geburt bis Balfour 1917?! Nur leere Seiten? Leere Seiten?
Es ist, als würde man eine Pyramide auf den Kopf stellen, so unnatürlich ist das. Die Geschichte sagt uns, dass alle künstlichen Schöpfungen keinen Bestand haben. Nehmen wir Hongkong, die Britische Kolonie in China. Es gab sie 2-300 Jahre, dann verschwand sie. Wie eine Wunde im Körper sind diese künstlichen Gebilde. Einige Zeit sind sie da, dann verschwinden sie wieder und der Körper heilt. Palästina ist länger palästinensisch, als London Englisch ist. London wurde etwa um 1100 Englisch, wir Palästinenser sind viel, viel älter. Und das sagen uns auch die heiligen Orte, die Maqams. Sie finden sie überall und überall beten die Menschen in ihnen. Selbst die Kanaaniter können dort gebetet haben.
Von Beruf sind Sie Ingenieur und dann wurden Sie Historiker?
Salman Abu Sitta:
Nicht wirklich, nein. In aller Freundschaft muss ich dem widersprechen. Die Leute sagen, ich sei ein Geograph oder ein Historiker oder ein Aktivist, aber es ist viel einfacher. Jemand hat meine Heimat gestohlen und ich kämpfe mit Zähnen und Klauen, um sie zurückzubekommen. Um den Menschen zu beschreiben, wo meine Heimat ist, werde ich ein Geograph. Um ihnen zu sagen, dass ich dort war, werde ich Historiker. Um die Welt über meine Heimat zu informieren, werde ich ein Mann für Öffentlichkeitsarbeit. Um der Welt zu sagen, dass dieses Land rechtmäßig mir gehört, werde ich Anwalt für internationale Recht. Es ist doch so, wenn man von etwas überzeugt ist, wenn jemand Dir Deine Heimat nimmt, dann tust Du alles, um sie zurückzubekommen. Du rufst, schreist, Du nimmst auch ein Gewehr …
Der Staat, der entstand, indem er Sie und Ihre Familie vertrieb, wird Israel genannt und hat kürzlich seinen 75. Geburtstag gefeiert. Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, gratulierte per Video dem Staat Israel, ohne mit einer Silbe die Palästinenser zu erwähnen. Diese Erklärung wurde international kritisiert und auch Sie haben sich mit einem offenen Brief an Frau von der Leyen gewandt. Warum?
Salman Abu Sitta:
Ich habe Ihr geschrieben, weil sie die EU repräsentiert und auch, weil sie eine Deutsche ist. Ich wollte sie nicht nur auf ihre sachlichen Fehler in ihrer Erklärung aufmerksam machen, ich wollte sie daran erinnern, dass Deutschland uns gegenüber Verantwortung hat. Deutschland versucht seine Gräueltaten gegen die eigenen jüdischen Bürger mit dem Blut der Palästinenser zu kompensieren. Das ist ein doppeltes Verbrechen. Die ursprüngliche Tat war ein Verbrechen, aber dafür mit unserem Blut zu bezahlen, ist ein weiteres Verbrechen. Und dieses Verbrechen ist unverzeihlich. Denn es hält seit 75 Jahren an. Verbrechen in Kriegszeiten zu begehen, ist eine Angelegenheit für Deutschland. Aber ihre Verbrechen auf unser Volk auszuweiten und zwar seit 75 Jahren, das ist ein unverzeihliches Verbrechen. Sie sollte das wissen.
Es gibt da noch etwas, was ich in dem Brief hätte erwähnen sollen. Ich tat es nicht, weil ich mich kurzfassen wollte. Die deutschen Reparationszahlungen 1953 sollten an Juden bezahlt werden, als Wiedergutmachung für die Gräueltaten während des Zweiten Weltkrieges. Sie hätten an die deutschen Juden bezahlt werden müssen, die Bürger des Landes, das die Verbrechen beging. Stattdessen verübten sie ein großes Verbrechen, indem sie diese Reparationszahlungen an Israel bezahlten. So konnte Israel ein anderes Volk aus seiner Heimat vertreiben und dessen Land zu seiner neuen Heimat machen. Deutschland hätte sich an die Menschen wenden müssen, an denen sie Verbrechen begangen hatten. Warum hilft Deutschland einem anderen Land, um Verbrechen gegen ein anderes Volk zu begehen? Das Geld, das Deutschland als Reparationen für Juden bezahlte, ging an Israel und half, die Nakba zu begehen. Damit hat Deutschland An Nakba ermöglicht, geschaffen. Die bis heute anhält.
Und ich sage Ihnen auch, warum. Als die Menschen aus Palästina vertrieben wurden, wollten viele der europäischen Juden gar nicht nach Palästina. Sie wollten in die USA und nach England. Als Ben Gurion Israel gründete, verübte er 65 Massaker, um die Palästinenser aus dem Land zu vertreiben. Aber es kamen keine europäischen Bürger, um das Land neu zu besiedeln. Also beschloss er, Bomben in den Häusern und Wohnungen von Juden in arabischen Staaten explodieren zu lassen. In Baghdad, in Ägypten, in Marokko. So brachte er 800.000 arabische Juden aus ihren Heimatländern nach Palästina, wo sie auf unserem Land leben sollten. Finanziert wurde diese Kampagne mit dem Geld, das Deutschland an den Staat Israel bezahlte. Das Geld ging nicht an die Juden, sondern an den Staat Israel. Das hätte ich in meinem Brief erwähnen sollen.
Sie sprechen auf Konferenzen, halten Vorträge, Sie haben Beziehungen zur Amerikanischen Universität in Beirut aufgebaut. Was raten Sie jungen Leuten?
Salman Abu Sitta:
Mein Rat an junge Leute? Vor allem richtet sich mein Rat an die jungen Palästinenser. Gebt nie Euer Recht auf, in Eurem eigenen Land geboren zu werden. Gebt nie auf. Die Geschichte steht hinter Euch, die Geographie steht hinter Euch. Die Logik steht hinter Euch, das Recht ist hinter Euch. Gebt nie auf. Bis heute sind nur die Gewehre gegen Euch, aber Gewalt kann kein Recht schaffen. Solange es die Gewalt gibt, wird das Unrecht siegen. Aber die Zeit wird kommen, wenn die Gewalt nachlässt, das wissen wir aus der Geschichte. Also gebt nie Euer Recht auf, in Eure Heimat zurückzukehren. Es ist nicht nur Euer Recht, jeder Satz des Internationalen Rechts unterstützt Euch.
Und, um das mal klar zu machen, meine Untersuchungen zeigen, dass unsere Rückkehr machbar ist. 87% der Juden in Israel leben auf nur 12% des israelischen Territoriums. Der Rest ist leer bis auf einige Kibbuz und die Israelische Armee. Das Land, auf dem 500 Dörfer stehen, ist leer oder halbleer. Von der Demographie her gibt es kein Problem, zurückzukehren. Und das Recht unterstützt die Rückkehr. Heute gibt es 14 Millionen Palästinenser. 90% von ihnen leben entweder in Palästina oder in Syrien, Libanon und Jordanien. Die Leute sind jenseits der Mauern, die Palästina umgeben. Sie können ihr Land sehen und können nicht dort leben! Sie könnten sogar zu Fuss in ihre Heimat zurückkehren. Sie brauchen keine Flugzeuge oder Schiffe, wie die jüdischen Immigranten. Sie können einfach laufen. Wie kann man es wagen, ihnen ihr Recht vorzuenthalten.
Dr. Salman, vielen Dank für das Gespräch!
Salman Abu Sitta: Ich bedanke mich auch.
Zum Offenen Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, in Deutsch und in Englisch, als PDF.
Zum Offenen Brief mit diversen Links:
OFFENER BRIEF AN MADAME URSULA VON DER LEYEN
Präsidentin der Europäischen Kommission
29. April 2023
Ihre Exzellenz
Sie haben diese Woche eine Rede gehalten, in der Sie anlässlich ihres 75-jährigen Bestehens die Gründung Israels lobten. Für jemanden in Ihrer Position ist es erstaunlich, dass es dabei so viele sachliche Fehler, Fehleinschätzungen, Verletzungen des Völkerrechts und Abweichungen von grundlegenden Normen der Gerechtigkeit gab.
Sie haben Israel zu 75 Jahren Existenz auf einer Fläche von 20.500 Quadratkilometer gratuliert, was 78 Prozent von Palästina entspricht. Kein einziger Quadratkilometer dieser Fläche wurde auf legalem oder gerechtem Wege erworben. 6 Prozent wurden durch das verräterische britische Einverständnis erlangt und 72 Prozent durch militärische Eroberung. Wie können Sie ein Regime beglück-wünschen, das dieses Land durch das Vergießen des Blutes Unschuldiger erhalten hat?
Israel hat keine Grenzen, weder nach internationalem Recht noch nach seinem eigenen Eingeständnis. Das Waffenstillstandsabkommen von 1949 verleiht keinen Rechtstitel auf irgendwelche Grenzen. Welches Israel beglückwünschen Sie? Liegt es in dem 1948 von Israel besetzten Land oder in dem von 1967?
Es gibt keine einzige Zeile in den UN-Resolutionen, die Sie in diesen beiden Punkten unterstützt.
Sie beglückwünschen Israel zu seinem „dynamischen Einfallsreichtum und seinen bahnbrechenden Innovationen“. Ich frage Sie, wenn Sie die besten deutschen Wissenschaftler versammeln und sie auf der Insel Madagaskar ansiedeln, wo sie die Bewohner der Insel töten und das beste Labor einrichten. Würden Sie das als eine wissenschaftliche Leistung betrachten?
Einstein hat die Relativitätstheorie nicht entdeckt, weil er Jude oder Schweizer war, sondern weil er ein brillanter Wissenschaftler war. Zu seiner Ehre lehnte er die Idee von Israel ab und verurteilte das jüdische Massaker von Deir Yassin.
Ihre europäische Regierung hat im Rahmen des EU-Israel-Abkommens Milliarden von Euro für die „wissenschaftliche Forschung“ nach Israel fließen lassen. Das Abkommen enthielt eine Klausel, die Israel dazu verpflichtete, bei der Durchführung der Forschung die Menschenrechte einzuhalten. Aber Sie, insbesondere Deutschland und Holland, haben auf Verlangen Israels auf diese Klausel verzichtet.
Ihr Israel hat keine Zeit verschwendet. Sein Rüstungsunternehmen Elbit verkaufte Massenvernichtungswaffen an viele Länder und verbreitete damit Tod und Zerstörung in vielen Teilen der Welt.
Das Hauptopfer ist unser Volk in Gaza. In den vier israelischen Kriegen gegen den Gazastreifen in den letzten sechs Jahren wurden nicht nur Produkte von Elbit eingesetzt, um Frauen und Kinder zu töten, sondern auch deren Bediener waren vor Ort, um die israelischen Soldaten zu führen.
Menschen mit gutem Gewissen in Großbritannien haben dagegen protestiert und gegen die Elbit-Fabrik in England demonstriert. Auch in Deutschland haben Menschen gegen Elbit protestiert und Ihre Regierung hat sie ins Gefängnis gesteckt. Ist das die israelische Wissenschaft, die Sie feiern?
Sie sagen auch „Israel hat die Wüste zum Blühen gebracht“. Sie sind in die Falle der israelischen Propaganda getappt. Mit den Möglichkeiten Ihrer Regierung hätten Sie es besser machen können. Die Fläche des südlichen Bezirks beträgt 12.500 Quadratkilometer. Israel hat bestenfalls 800 Quadratkilometer bewässert. Die restlichen 94 Prozent waren und sind immer noch Wüste. Die Ironie dabei ist, dass es sich bei dem Bewässerungswasser um gestohlenes Wasser aus dem Westjordanland und den Golanhöhen handelt. Das gesamte gestohlene Wasser, das in der Landwirtschaft verwendet wird, erzeugt nur 1,5 Prozent des israelischen BIP. Die „Wüste zum Blühen zu bringen“ ist ein Mythos. Wie kann Ihnen das entgehen?
Sie haben für Ihre Schuld an den Gräueltaten gegen Ihre jüdischen Bürger mit palästinensischem Blut bezahlt. Ihre Führer strömten nach Yad Vashem, das in Palästina und nicht in Deutschland errichtet wurde, um Tränen zu vergießen und um Vergebung zu bitten. Aber keiner Ihrer führenden Politiker hatte den moralischen Mut, auf den gegenüberliegenden Hügel zu schauen, 3 km entfernt, auf Deir Yassin, und Ihre israelischen Gastgeber, die Verbrecher, die dort das Massaker begangen haben, zur Rede zu stellen.
Sie haben die von Israel betriebenen Konzentrationslager und Zwangsarbeitslager für gefangene palästinensische Zivilisten, die von Ihren nach Palästina geflohenen Bürgern eingerichtet wurden, nicht zur Kenntnis genommen und sich nicht darum gekümmert, obwohl das IKRK über diese Lager berichtet hat.
Der größte Fehler in Ihrer Rede ist, dass Sie den Elefanten im Raum nicht gesehen haben. Sie haben Al Nakba, die schlimmste Katastrophe in der 4000-jährigen Geschichte Palästinas, nicht gesehen oder aber verdrängt. Sie verzichteten auf die Erwähnung der zionistischen Invasion durch 120.000 europäische Soldaten in 9 Brigaden, die 31 militärische Operationen durchführten. Diese Invasion hat 560 Städte und Dörfer durch Massaker entvölkert und zwei Drittel des palästinensischen Volkes zu Flüchtlingen gemacht. Wie können Sie diese Katastrophe einfach umgehen? Kennen Sie Palästina nicht?
Gehen Sie zurück zu den Karten, die Mitte des 19. Jahrhunderts von Ihren Geographen Kiepert und Van de Velde erstellt wurden. Dort finden Sie etwa 1200 Orte in Palästina. Sie (gemeint ist von der Leyen, Red.) sprechen fließend Französisch. Lesen Sie die sieben Bände von Victor Guerin, in denen jedes Dorf in Palästina beschrieben wird.
Wenn Sie das alles verpassen, dürfen Sie wenigstens den historischen Besuch des deutschen Kaisers Wilhelm II. im palästinensischen Jerusalem am 31. Oktober 1898 nicht verpassen. Und Sie dürfen das umfangreiche wissenschaftliche Werk von Gustav Dalman über die Menschen in Palästina nicht verpassen.
Mit diesem Wissen ist es sehr traurig und bezeichnend für den westlichen Rassismus, dass Sie in der UNO häufig gegen die unveräußerlichen Rechte der Palästinenser gestimmt und sich dabei auf die schmutzige europäische Geschichte des Kolonialismus berufen haben.
Aber es ist noch nicht zu spät. Sie können Ihre Worte und Taten zurücknehmen und auf den wahren Weg zurückkehren: Frieden und Gerechtigkeit für die Palästinenser. Die Palästinenser sind die wahren Erben von Jesus Christus, nach dem Ihre Partei benannt wurde.
Hochachtungsvoll
Dr. Salman Abu Sitta
(Red.) Und auch Salman Abu Sittas Neffe, Ghassan Abu Sitta, der als Arzt in Gaza im Einsatz war, wurde an der Einreise in Deutschland gehindert:
‘They bury the evidence and silence the witnesses’:
Al Jazeera: Ghassan Abu-Sittah, a British Palestinian doctor who volunteered in Gaza hospitals during the first weeks of Israel’s war, says he was denied entry to Germany after being interrogated at the airport and banned from participating in a conference where he was scheduled to give testimony of his experience in the Strip.“ Upon arrival, I was stopped at the passport office, escorted to the basement of the airport and questioned for around 3.5 hours,” Abu-Sittah told the Middle East Eye.
Abu-Sittah claimed that following the interrogation, German authorities said he was not allowed to enter the country and warned him of a fine or up to one year in prison should he have tried to link via Zoom or Facetime with the event.
“This is exactly what accomplices to a crime do. They bury the evidence, and they silence or harass or intimidate the witnesses,” Abu-Sittah said.