Die Wandmalereien von der «iranischen Atombombe»
Um zu begreifen, wie Propaganda fabriziert wird und sich durch unaufhörliche Wiederholung zum Faktum verfestigt, genügt es zu lesen, was George W. Bush in seinen Memoiren zu Nuklearwaffen des Iran schreibt.
Die Autobiographie von George W. Bush hat den Titel «Decision Points». Auf den Seiten 418/419 gibt es einen Abschnitt von verblüffender Aufrichtigkeit. Dort erinnert sich der ehemalige amerikanische Präsident daran, dass seine Geheimdienste ihm im November 2007 eröffneten, der Iran baue keine Atombomben:
«We judge with high confidence that in fall 2003, Tehran halted its nuclear weapons program», heisst es in dem National Intelligence Estimate, der wichtigsten und verbindlichsten Form von Bericht, den die 16 amerikanischen Geheimdienste liefern können.
Der Bericht machte Bush einen Strich durch die Rechnung. Jahre lang war von den Falken im Weissen Haus und im Kongress die iranische Nukleargefahr hochgespielt worden. Bush selbst hatte noch im Oktober 2007 in einer Pressekonferenz erklärt, wenn man einen dritten Weltkrieg und einen «nuklearen Holocaust» verhindern wolle, müsse man Iran unverzüglich daran hindern, die Bombe zu bauen. Die Vorbereitungen für einen Militärschlag gegen Iran waren getroffen.
Der Geheimdienstbericht unterminierte nicht nur die Diplomatie, erinnert sich Bush, er habe ihn auch militärisch blockiert: «It also tied my hands on the military side.»
Nun musste schnell verhindert werden, was in den Augen von Präsident Bush und seiner Crew – Rumsfeld, Rice, Cheney, Wolfowitz u.a. – der grösste anzunehmende Unfall war: In der Öffentlichkeit könnte sich die Vorstellung breit machen, der Iran sei überhaupt nicht der nukleare Schurkenstaat, den man in Washington an die Wand malte. Bush krempelte laut eigenen Erinnerungen die Ärmel hoch und hatte Erfolg:
«Einen grossen Teil des Jahres 2008 verbrachte ich damit, die diplomatische Koalition gegen den Iran wieder aufzubauen, wir schafften es auch, eine neue Runde von UN-Sanktionen zu bekommen (…) Ausserdem dehnten wir unseren Raketenschild aus, darunter ein neues Raketensystem mit Stützpunkten in Polen und der tschechischen Republik, um Europa vor einem iranischen Angriff zu schützen.»
Dabei führte jene «Ausdehnung des Raketensystems» – nebenbei anzumerken – geradewegs in den Konflikt mit Russland und in den Ukraine-Krieg. George W. Bush lag es damals besonders am Herzen, seine engsten Verbündeten im Nahen Osten zu beruhigen: Saudiarabien und Israel. Im Januar 2008 reist er zu einem Treffen mit dem saudischen König Abdullah. Bush eröffnet das Gespräch, indem er sich für den Geheimdienstbericht entschuldigt: «Ich bin über diesen Bericht genauso verärgert, wie Sie es sind.»
Man kann es kaum glauben, aber da steht es schwarz auf weiss. Der Mann desavouiert die eigenen Geheimdienste, die seine Kriegstreiberei bremsen. Er brüstet sich mit einer Politik der Aufrüstung und schreibt dies alles in schöner Offenheit in seinen Memoiren. Wieviel Realitätsverlust und Grössenwahn sind da zu diagnostizieren? Wie felsenfest musste dieser in der Erdölbranche kundige Texaner von seiner Mission als Weltpolizist überzeugt sein?
Da wurde also aufgerüstet gegen eine Nuklearmacht, die noch keine war. Und es wurden die grössten Anstrengungen gemacht, die Vogelscheuche der iranischen Nuklear-Bedrohung weiterhin über die Weltbühne zu ziehen. Der Iran hat stets betont, die Entwicklung der Atomkraft nur zu friedlichen Zwecken zu betreiben. Ob dies die Wahrheit ist oder eine Lüge als Funktion seiner Raison d’Etat, kann man nicht wissen, aber viele tun so, als ob sie es sicher wüssten.
Die zahlreichen Denktanks, Waffen-Experten und die akademische Strategie-Forschung, die dem Weissen Haus und dem Pentagon zuarbeiten, haben jedenfalls in den vergangenen zwei Jahrzehnten keine Mühe gescheut, Schreckensvorstellungen von einer Atommacht Iran an die Wand zu malen. Israels Premier Netanjahu erklärte im September 2012 vor den Vereinten Nationen, der Iran habe seine Atombombe bereits zu 70 Prozent fertiggebaut. Er zeigte dabei eine Skizze, die quasi als naive Malerei an anarchistische Bombenbauer aus der Zeit von Kaiser Wilhelm erinnerte, was im Auditorium teilweise Gelächter hervorrief.
John Bolton, US-Diplomat und bis 2019 Sicherheitsberater von Präsident Trump, rief im März 2015 dazu auf, den Iran zu bombardieren: «To stop Iran’s Bomb, Bomb Iran» lautete der Titel seines Artikels in der New York Times. Bolton, einer der Initiatoren des Project for the New American Century, welches die globale Kontrolle der USA gewährleisten sollte, ging es damals offensichtlich darum, eine Politik der Entspannung mit dem Iran zu verhindern, die unter Obama zustande gekommen war. Dass der Iran Atombomben baut, galt Bolton als erwiesen. Er räumt indessen selbst ein, es gebe keine materiellen Beweise für seine Behauptung:
«Even absent palpable proof, like a nuclear test, Iran’s steady progress toward nuclear weapons has long been evident.» Die Argumentation folgte also der Logik: Es bedarf keiner Beweise, denn «man weiss es ja».
Es ist die klassische, alte Propaganda-Masche, die inzwischen zum durchschlagenden Erfolg geworden ist. Westliche Medien assoziieren das Wort Iran reflexartig mit der Atombombe. «Die Atomanlagen im Iran müssen zerstört werden, solange das noch möglich ist – nie war die Gelegenheit günstiger», ist in der Schweizer Sonntagszeitung vom 6. Oktober zu lesen. Ähnlich tönt es in den meisten grossen westlichen Medien. Die sich selbst erfüllende Prophezeihung der iranischen Atombombe ist Teil der synchronisierten «Fabrikation der gemeinsamen Unwirklichkeit, die sich als informierte Öffentlichkeit ausgibt», wie es der Philosoph Peter Sloterdijk einmal formuliert hat.
(Red.) Zum Thema Iran und Atombombe siehe auch «Zeitgeschehen im Fokus» vom 10. Oktober 2024 das Interview mit Karin Leukefeld.