Die USA helfen der Ukraine nicht der Ukraine zuliebe, sondern im Eigeninteresse, um Russland zu schwächen
(Red.) Seit die Tschechische Republik in der Person von Petr Pavel einen neuen Staatspräsidenten hat, der über seine Vergangenheit als NATO-General und seine Freundschaft zu US-Diplomaten ein strammer US-Interessen-Vertreter ist, mehren sich die Stimmen tschechischer Intellektueller, die sich weigern, den Krieg in der Ukraine nur aus westlicher, sprich aus US-amerikanischer Sicht zu betrachten. Die Journalisten der deutschsprachigen Mainstream-Medien täten gut daran, diese Sicht ernster zu nehmen. (cm)
In letzter Zeit ist in unseren Mainstream-Medien ein etwas unerwarteter Pessimismus an die Stelle der triumphalen Fanfare über die ukrainischen Siege getreten, die irgendwie nicht mit den Entwicklungen auf den Karten übereinstimmte. Plötzlich lesen wir überall über das Scheitern der ukrainischen Offensive, die sinkende Moral der Truppen, den Mangel an Soldaten, Waffen und Munition und die Widersprüche in der Führung des Landes. Und die Russen sind wieder in der Offensive, die Ukraine hat kein Geld, die westliche Hilfe lässt nach, die Unterstützung für ihren Krieg sinkt. Präsident Selenskyj reist verzweifelt um die Welt und bettelt um Waffen und Geld.
Es sind vor allem die USA, die die Ukraine bisher im Kampf halten. Die Republikaner machen die weitere Hilfe davon abhängig, dass Präsident Biden seine Einwanderungspolitik ändert und blockieren Maßnahmen des Kongresses in dieser Frage. Europa seinerseits ist gespalten.
Nach zwei Jahren Krieg wird die Ukraine allmählich mit der Realität der Großmachtpolitik konfrontiert, die in der Flut heuchlerischer Plattitüden und Propaganda nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Für Russland stellen die Entwicklungen in der Ukraine ein vitales nationales Interesse dar. Es hat wiederholt signalisiert, dass es bereit ist, dafür in den Krieg zu ziehen, und es hat dies auch getan. Der Westen hingegen hat in den letzten zwei Jahren deutlich gezeigt, dass er nicht bereit ist, wegen der Ukraine gegen eine Atommacht in den Krieg zu ziehen. Und das ist ein grundlegender Unterschied, der früher oder später deutlich werden muss.
Die Kritik am Westen, die Ukraine zu wenig und zu spät mit Waffen, Geld und Munition zu versorgen, ist zwar berechtigt, spiegelt aber ein Missverständnis der Situation wider. Und es ist kein dummer Fehler. Der Westen hat diese Ressourcen auf eine Weise bereitgestellt, die seinen Interessen in diesem Konflikt entspricht. Und diese sind nicht identisch mit den Interessen der Ukraine, die von der Wiederherstellung ihrer Vorkriegsgrenzen und der Rückgewinnung aller besetzten Gebiete spricht. Es ist klar, dass der Westen diese Ziele nicht ganz teilt, auch wenn er es nicht laut sagt. Seine Priorität ist es, den Konflikt zu verlängern, um Russland so weit wie möglich zu schwächen. Wenn er den Eindruck gewinnt, dass Russland im Gegenteil an Macht und militärischer Stärke zunimmt, wird er daran interessiert sein, den Konflikt zu beenden, unabhängig von den Prioritäten der Ukraine.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer zahlen mehr und mehr den Preis für ihre naive Vorstellung, dass jemand aus der Ferne ihre komplizierten Beziehungen zu ihrem großen Nachbarn für sie regeln wird. Wenn sie aus der Geschichte gelernt hätten, würden sie es sich sicher zweimal überlegen, ob sie sich so fatal auf westliche Hilfe und Unterstützung verlassen sollen.
Wir reden gerne über den Verrat von München (1938, Red.), aber damals haben die westlichen Alliierten uns Tschechen zumindest offen befohlen, vor den deutschen Forderungen zu kapitulieren. Wir gehorchten ihnen, überlebten den Besatzungskrieg besser als andere und bauten nach dem Krieg unseren Staat wieder auf. Den Polen erging es schlechter. Die Westmächte als Verbündete Polens nach dem Überfall erklärten Deutschland zwar den Krieg, aber sie standen daneben, ohne einen Schuss abzugeben, und sahen zu, wie das Opfer zerschlagen und zerstört wurde, ohne etwas zu tun, um es zu retten oder zu helfen. Er wurde damals „der seltsame Krieg“ genannt. Polen hat in jenem Krieg 6 Millionen Menschen verloren.
Auch die Erfahrung des Vietnamkriegs ist für die Verbündeten des Westens nicht ermutigend. Nach Jahren des brutalen Krieges beschlossen die USA vor allem aus innenpolitischen Gründen, den Konflikt zu beenden und ihre bisherigen südvietnamesischen Verbündeten über Bord zu werfen. Henry Kissinger und der nordvietnamesische Führer Le Duc Tho wurden mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, aber Hunderttausende Südvietnamesen flohen verzweifelt vor dem kommunistischen Regime Nordvietnams ins Ausland. Heute ist Südvietnam ein geachteter und geschätzter Partner nicht nur der USA, sondern auch der tschechischen Außenpolitik nach den Ideen von Havel.
Auch das Beispiel Irak stimmt nicht optimistisch. Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein und dem anschließenden chaotischen Guerillakrieg zogen sich die Amerikaner nach acht Jahren erfolgloser Kriegsführung zurück und überließen ein zerrüttetes Land mit Hunderttausenden von Opfern und Millionen von Flüchtlingen im Wesentlichen seinem Schicksal. Das Land ist auch heute noch dysfunktional und unterliegt dem Einfluss des benachbarten iranischen Regimes.
Eine noch schrecklichere Erinnerung ist der Krieg des Westens in Afghanistan, der zwanzig Jahre dauerte, Millionen von Opfern und Flüchtlingen zur Folge hatte und ebenfalls mit dem unerwarteten Rückzug der Amerikaner im Einvernehmen mit der Taliban-Bewegung endete, die zwanzig Jahre lang bekämpft worden war. Dabei verkündete unsere (tschechische) Propaganda ständig, dass „Kabul für Prag kämpft“, bis auch fast die gesamte Ausrüstung der US-Armee auf afghanischem Gebiet an die Taliban übergeben wurde.
Ein bekanntes Sprichwort besagt, dass Großmächte keine Freunde haben, sondern nur ihre eigenen Interessen kennen. Vernünftige Politiker wissen das, berücksichtigen es und verhalten sich umsichtig. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit kann es sich die Ukraine nicht mehr leisten, leichtgläubig zu sein. Die Eröffnung von Beitrittsgesprächen über den EU-Beitritt ist eine nette Geste, die niemanden etwas kostet, aber die Türken könnten den Ukrainern erzählen, wie dasselbe jahrzehntelang ergebnislos verhandelt werden kann (Beitrittsverhandlungen seit 2005, Red.). Und so ist es leider mit allem. Es sind die Interessen der Großmächte, die entscheiden, nicht nette Worte und Gesten.
(Red.) Und hier folgt im tschechischen Originaltext eine tschechische Redensart, die sich schwer übersetzen lässt, so etwa des Inhalts: Gehe als Schwächling nie mit einem Mächtigen aufs Eis:
Nechoď, Vašku, s pány na led, …
Für die tschechischsprachigen Leserinnen und Leser, siehe hier.
Zum Autor: Jiří Weigl ist ausgebildeter Ökonom und Arabist, gehört zu den engsten Wegbegleitern von Václav Klaus. Ab Anfang der 90er Jahre war er als sein wichtigster Berater im Finanzministerium, danach im Büro des Ministerpräsidenten und auch im Parlament tätig. Zehn Jahre lang (2003–2013) war Weigl Chef der Präsidialkanzlei. Der ausgewiesene Wissenschaftler publizierte mehrere Fachbücher sowie zahlreiche Artikel und Aufsätze zu politischen, ökonomischen und historischen Themen. Heute ist Weigl Exekutivdirektor des Václav Klaus Instituts in Prag.
Zum Originalartikel in tschechischer Sprache. Die Übersetzung besorgten Anna Wetlinska und Christian Müller.