US-Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin und neue Kandidatin für das Präsidentenamt Kamala Harris.

Die USA, ein Imperium im Modus Autopilot

(Red.) Dies ist der erste von zwei Essays von unserem US-Kolumnisten Patrick Lawrence über den Zustand der amerikanischen Politik – während die Präsidentschaftswahlen im November unbehindert näher rücken.

Wenn die vergangenen Wochen politischer Unruhen und Tumulte in Amerika der Welt etwas zu sagen haben, dann dies, dass die Vereinigten Staaten vor unseren Augen die Kontrolle über sich selbst verloren haben. Ich würde unseren Moment mit früheren Ausbrüchen unlogischer Exzesse vergleichen, wie man sie in der amerikanischen Geschichte findet – die Hinrichtungen in Boston in den späten 1650er Jahren, die Hexenprozesse in Salem einige Jahrzehnte später, das Große Erwachen in den 1730er Jahren, die antipäpstliche Hysterie im 19. Jahrhundert, die Roten Schrecken des 20. Jahrhunderts – aber was diese Nation jetzt überkommt, ist grundlegend und beängstigend anders. Wir beobachten jetzt, was wir die Irrationalität der Hyperrationalität nennen können – die teuflischen Folgen technokratischer Macht, wenn sie ohne wirksame Zügelung ausgeübt wird.

Ein normal aufmerksamer Amerikaner mag einwenden, dass es in der amerikanischen Demokratie keine Demokratie mehr gibt oder dass die zynisch überzogene Rhetorik Amerika an den Rand der politischen Gewalt gebracht hat oder dass der Kongress und das Außenministerium die Kontrolle über die Außenpolitik an eine andere Macht abgegeben haben. Aber all dies ist von den Eliten so gewollt, die jetzt ganz offen die Politik und die Richtung der Nation bestimmen, ohne die Bürger in irgendeiner Weise zu berücksichtigen. Jeder Amerikaner, der Einwände erhebt, müsste vor allem einwenden, dass seine Einwände nicht im Geringsten von Bedeutung sind. 

Amerika hat schon vor langer Zeit seinen demokratischen Prozess kompromittiert, insbesondere, aber nicht nur, mit der lächerlichen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vor 14 Jahren, dass Unternehmen als Menschen und Geld als freie Meinungsäußerung zu bewerten sind – ja, so lautete das Urteil. Seitdem haben die Geldfluten die Wahlen zugunsten der Reichen und Mächtigen gekippt, während liberale Autoritäre die amerikanische Arbeiterklasse entfremdet und so die politischen und sozialen Spannungen, seit Donald Trump 2016 in seine erste Amtszeit als Präsident gewählt wurde, verschärft haben.

Aber wenn die Eliten der Demokratischen Partei und die Oligarchie, die hinter ihr steht, sich nicht einmal mehr die Mühe machen, verschiedene antidemokratische Operationen im Verborgenen durchzuführen oder ihre Machtausübung zu verschleiern, ist eine Wende eingetreten. Der Schein zählt natürlich nicht. Aber lassen Sie uns die Frage des Scheins als Spiegel benutzen. Solange sie notwendig ist, suggeriert sie einen verbleibenden Rest des demokratischen Prozesses, wie er in der Verfassung verankert ist. Sind die Amerikaner so schlafwandlerisch ruhig geworden, dass selbst die „Demokratie als Spektakel“ nicht mehr notwendig ist? Mir scheint es so.

Joe Biden war, wie ich bereits an anderer Stelle behauptet habe, ein unwürdiger Kandidat, als die Demokratische Partei ihn 2020 nominierte, und das wurde in peinlicher Weise deutlich, sobald er sein Amt antrat. Seine grundlegende Inkompetenz, insbesondere in außenpolitischen Fragen, war sofort offensichtlich, unterschied ihn aber nicht von anderen: Die Schlamassel, die Biden angerichtet hat – Russland und die Ukraine, Israel und Gaza, China – sind beträchtlich, aber er ist nicht der erste Präsident, der Schlamassel anrichtet. Es war Bidens geistiger Verfall, der ihn schnell einholte. 

Die Parteielite hat dieses Problem so lange totgeschwiegen, bis sie nicht mehr konnte. Sie tat dies vor allem deshalb, weil Kamala Harris, die nur aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Hautfarbe zur Vizepräsidentin gewählt worden war, von allen Seiten als kompetenter Ersatz für den absteigenden Biden abgelehnt wurde. Wenn wir ihn verlieren, würde die Partei im November verlieren. So lautete die Argumentation. 

Die Präsidentschaftsdebatte vom 27. Juni machte deutlich, dass die Demokratische Partei und die ihr treu ergebenen Medien den größten Schlamassel überhaupt angerichtet hatten. Sie hatten sich abgesprochen – rücksichtslos, narzisstisch, gleichgültig gegenüber allen Angelegenheiten der staatlichen und nationalen Führung –, um einen Mann im Weißen Haus zu halten, der in die Senilität kippt. Die Parteieliten – und vergessen Sie die Medien, die alles sagen, was man ihnen vorgibt – sind seit Bidens erbärmlicher Leistung in der Debatte verzweifelt bemüht, ihre Verantwortung für die vielleicht schwerste politische Krise Amerikas im vergangenen Jahrhundert zu vertuschen. 

Als Biden stur und öffentlich darauf bestand, dass „ich nirgendwo hingehen werde“, wie er in mehreren Presseinterviews sagte, fiel der Schleier und enthüllte die erstaunliche Gleichgültigkeit des «Democratic National Committee», dieser nicht gewählten Führung der Partei, gegenüber demokratischen Verfahren. Nach der Debatte plante das DNC eine Zeit lang, Bidens Wiederwahl durch eine vorgezogene „namentliche Abstimmung“ durchzupeitschen. Doch angesichts der zunehmenden Einwände der gewählten Demokraten im Kongress und der mächtigen Spender der Partei gab der Ausschuss schließlich nach. Die New York Post berichtete letzte Woche, dass vor Bidens politischer Kapitulation am 21. Juli hohe Parteifunktionäre damit gedroht hatten, einen Verfassungszusatz geltend zu machen, um ihn abzusetzen, falls er nicht freiwillig gehen würde.

Dieselben Parteifunktionäre sind seither wie versteinert darüber, dass der Parteitag in Chicago im nächsten Monat ein offener Parteitag sein muss. Das bedeutet, dass die einfachen Delegierten aus jedem Bundesstaat den Kandidaten der Demokraten wählen werden, der im November gegen Donald Trump antritt. Dies, ein demokratischer Parteitag der Demokraten, stand sofort außer Frage. Kamala Harris ist nun also die voraussichtliche Kandidatin der Demokraten. Und sie wird jetzt als die richtige Kandidatin für das Weiße Haus gehandelt. Und die Spender, die ihre Spenden für Biden eingestellt hatten, haben seit Bidens Ausstieg mehr als 100 Millionen Dollar an Wahlkampfgeldern bereitgestellt – 81 Millionen Dollar davon innerhalb von 24 Stunden nach Bidens Ankündigung.

Kein demokratischer Parteitag der Demokraten. Kein Vorwand für einen solchen. Eine Figur, die einst als hochüberschätzter Trottel ohne erkennbare Ansichten und als unfähig, zwei Sätze aneinander zu reihen, verspottet wurde, wird nun als Kandidatin der Partei aufgestellt. Alles über die Köpfe der Wähler hinweg entschieden. Keine Vorspiegelung anderer Tatsachen. Ich selbst wähle nicht, das muss hier vielleicht erwähnt werden. Und an dieser Stelle ist es mir völlig rätselhaft, warum irgendein wohlmeinender Amerikaner seinen Namen für diesen Prozess hergeben sollte. 

Nachdem Kamala Harris in der vergangenen Woche die Nominierung der Demokratischen Partei nachgerade in Form einer monarchischen Krönung erhalten hat, hat sie genau das getan, was Biden und sein Stab im Weißen Haus tagein, tagaus getan haben, seit sich abzeichnete, dass Donald Trump im Herbst erneut für die Präsidentschaft kandidieren würde: Sie hat in jeder Rede und bei jedem Wahlkampfstopp alles verkündet, was an Donald Trump falsch ist. Auch wenn man dieses Vorgehen näher durchleuchtet, ist es nahezu unmöglich, irgendetwas zu erkennen, wofür Kamala Harris tatsächlich steht. Aber das scheint fast völlig nebensächlich zu sein. Die Forderung „Nicht-Trump!“, ein negativer Wert, ist in etwa die einzige Aussage, die sich die Demokraten auszudrücken zu trauen scheinen.


Sogar die New York Times hat dieses Versagen, diese Lücke in der Präsentation der Demokraten, bemerkt. Wenn der Redaktionsausschuss der Times spricht, dann ist es das Liberale Establishment, mit großem „L“ und großem „E“, das mit unanfechtbarer Autorität spricht. „Sie hat damit begonnen, die Gefahren einer zweiten Trump-Präsidentschaft aufzuzeigen“, schrieb dieser Ausschuss der Times in der Samstagsausgabe. „Aber sie muss mehr tun, und sie muss es schnell tun.“ Das ist eine harte Sprache für eine Zeitung, die sich schnell und unmissverständlich für Harris ausgesprochen hat. Dann beklagte der Redaktionsausschuss, dass sie wenig bis gar nichts über ihre eigenen Pläne für die Wirtschaft, die Außenpolitik, das Gesundheitswesen und andere Themen gesagt habe. Wie schon während ihrer gesamten Vizepräsidentschaft hat Harris in der Tat sehr wenig über irgendetwas gesagt – außer der Tatsache, dass sie nicht Donald Trump ist.

In den letzten Jahren hat sich Harris voll und ganz den Anschuldigungen der Demokraten gegen Trump angeschlossen. Er ist ein Tyrann, er wird wie ein König regieren, er wird alle Wahlen beenden und lebenslang im Amt bleiben, er ist der existenzielle Feind der Demokratie: All das und noch mehr haben die Amerikaner regelmäßig gehört, und all das wurde von der liberalen Presse getreu wiedergegeben. Und zu denen, die diese Dinge mit Sicherheit gehört haben, denn es gibt kein Entrinnen vor diesem Zeug, gehörte auch Thomas Matthew Crooks, der am Samstag, den 13. Juli, während einer Wahlkampfveranstaltung im ländlichen Pennsylvania versuchte, ein Attentat auf Trump zu verüben. 


Der 20-jährige Crooks ist inzwischen tot. Er wurde am Tatort von einem Scharfschützen des Secret Service erschossen, so dass er uns nie etwas über seine Beweggründe erzählen wird. Aber kann es ein Argument dafür geben, dass sein Anschlag auf Trumps Leben mit einem der AR-15-Sturmgewehre, die Amerikaner besitzen dürfen, etwas anderes war als ein Akt politischer Gewalt? Natürlich gibt es in der amerikanischen politischen Kultur eine lange Tradition solcher Gewalt. Kann man ernsthaft behaupten, dass die überzogenen Angriffe der Demokraten auf Trump diese Tradition ohne Mitverantwortung wiederbelebt haben? 

Soweit ist die Demokratie in Amerika gekommen! Thomas Matthew Crooks war das Opfer von Demagogen, die ihre politischen Kämpfe führen, indem sie die Emotionen der Wählerschaft manipulieren. Sie können nicht an die Wähler appellieren, indem sie ihnen überlegene Ideen, das Versprechen einer neuen Politik oder eine neue nationale Richtung anbieten, weil sie nichts von alledem haben. Unabhängig davon, wer im November gewählt wird, wird Amerika weiterhin auf seiner globalen Hegemonie beharren, während sich die innenpolitischen Bedingungen weiter verschlechtern und die Verzweiflung der Bürger immer größer wird. Das ist die bittere Realität der Nation in der politische Saison 2024: Es ist ein Imperium im Modus Autopilot. 

Es ist ein Imperium, das einen beträchtlichen Teil seiner Außenpolitik so vermarktet hat, wie ein Autohändler einen neuen Chevrolet vermarkten könnte. Und es hat im zionistischen Israel einen unersättlichen Käufer gefunden. Nichts könnte dies besser verdeutlichen als Bibi Netanjahus verblendete, ungeheuerlich unehrliche Rede vor einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses am 24. Juli. Die verhängnisvolle Macht der israelischen Lobby in Washington, insbesondere, aber nicht nur, das American Israel Public Affairs Committee, das berüchtigte AIPAC, ist der Öffentlichkeit lange verborgen geblieben. Nur wer vorsätzlich blind ist – und davon gibt es in den USA eine ganze Menge –, kann es jetzt übersehen. 


Die Rede selbst war eine lächerliche Anhäufung von Lügen. Die israelischen Streitkräfte haben sich in Gaza lobenswert und moralisch einwandfrei verhalten, die zivilen Opfer waren minimal, Israels Kampf ist vergleichbar mit den damaligen Kriegsanstrengungen gegen Deutschland und Japan, Demonstranten, die die palästinensische Sache unterstützen, „stehen auf der Seite der Mörder“. So tönte es eine Stunde lang. Netanjahu versteht das gut. Der amerikanische Kongress interessiert sich nicht für die Wahrheit der Dinge: Er interessiert sich für die Wahnvorstellungen, die fadenscheinig und hohl daherkommen, um die Unterstützung der USA für einen terroristischen Staat zu rechtfertigen, der einen Völkermord begeht. 


Es geht darum, dass Netanjahu bei dieser seiner vierten Ansprache vor dem Kongress einen freundlicheren Empfang erleben durfte als damals Churchill. Er, Netanjahu, erhielt mehr als 70 Ovationen, manchmal nach jedem Satz, die meisten davon im Stehen. Immerhin, etwa 100 Mitglieder des Kongresses waren nicht anwesend, was ihnen zur Ehre gereicht. Wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass fast alle Anwesenden von der AIPAC in der einen oder anderen Form bestochen waren. 


Netanjahu hat das auch verstanden. Er versteht sehr gut, dass Amerika im Falle Israels nicht nur die Kontrolle über sich selbst verloren hat, sondern diese Kontrolle für einen hohen Preis weggegeben hat. 

Zum Originaltext von Patrick Lawrence.

(Hinweise auf eventuelle Übersetzungsfehler sind willkommen.)