Die USA bestehen darauf, dass Israel Gaza weiterhin bombardieren darf
(Red.) Bei allen Versuchen, in weihnachtlicher Stimmung die kriegerischen Ereignisse für ein paar Tage zu vergessen: Dass sich Staaten weigern, einen Aufruf zur Beendigung der israelischen Bombardements in Gaza mitzuunterzeichnen, ist so grauenhaft, dass Wegschauen einfach nicht drin liegt. Unsere Korrespondentin Karin Leukefeld berichtet zuerst über die Diskussionen im UNO-Sicherheitsrat, wo eine Resolution erst verabschiedet werden konnte, nachdem keine Aufforderung mehr für einen Waffenstillstand drinnen enthalten war, und anschliessend über die aktuelle Situation in Gaza und wie dort nach wie vor Zivilisten, nicht zuletzt auch Kinder und Frauen, reihenweise getötet werden. (cm)
Der UN-Sicherheitsrat hat am Freitag eine Resolution zum Krieg in Gaza verabschiedet. Die zentrale Forderung richtet sich an die Akteure des Krieges, umfassenden Zugang für Hilfslieferungen für die Menschen im Kriegsgebiet zuzulassen. Dafür sollen „ausgedehnte humanitäre Kampfpausen und Korridore im gesamten Gaza-Streifen eingerichtet“ werden. Der UN-Generalsekretär soll einen Sonderbeauftragten ernennen, um die Lieferungen – in Abstimmung mit allen Akteuren – zu koordinieren. Von einem Waffenstillstand ist nicht die Rede. (Siehe hier den Originaltext der Resolution 2720, in dem auch die Stellungnahmen der einzelnen Länder wiedergegeben sind.)
Nicht die Welt, die wir wollen
Lana Zaki Nusseibeh, Botschafterin der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), die den ursprünglichen Resolutionsentwurf vorgelegt hatte, erklärte, Diplomatie entspreche „der Welt in der wir leben, nicht der Welt, die wir wollen.“ Man werde „nie müde werden, (sich) für einen vollständigen humanitären Waffenstillstand einzusetzen.“
Der ursprünglich von den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) mit Unterstützung von mehr als 80 Staaten vorgelegte Text war auf Drängen der US-Administration mehrfach verändert worden.
Washington unterstützt Israel im Krieg gegen Gaza finanziell, militärisch und politisch und spricht das Abstimmungsverhalten im UN-Sicherheitsrat mit Tel Aviv ab. Die ursprüngliche Forderung nach einer „dringenden und dauerhaften Einstellung der Feindseligkeiten“ scheiterte an der Drohung der US-Administration, mit einem Veto die Resolution zu verhindern, sollte diese Formulierung in dem Text auftauchen. Nun werden Maßnahmen zur „Schaffung der Voraussetzungen für eine dauerhafte Einstellung der Feindseligkeiten“ gefordert. Der ursprüngliche Text sah vor, dass die Vereinten Nationen die Hilfsgüter kontrollieren sollten, die in das Kriegsgebiet geschickt werden. Die USA lehnten das nach anfänglicher Zustimmung ab, weil Israel dagegen war. Israel will die komplette Kontrolle darüber behalten, was den Gaza-Streifen verlässt und was hineinkommt. Gestrichen wurde auch eine Passage, die „alle Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, einschließlich aller willkürlichen Angriffe auf Zivilisten und zivile Objekte“ verurteilte.
Änderungsantrag per US-Veto blockiert
Drei Mal wurde die Abstimmung verschoben, um weitere Textveränderungen vorzunehmen. Vor der für Freitagmorgen vorgesehenen Abstimmung reichte der UN-Vertreter der russischen Föderation einen Änderungsantrag ein. Darin hieß es, der Rat fordere „eine dringende Aussetzung der Feindseligkeiten, um einen sicheren und ungehinderten humanitären Zugang zu ermöglichen“. Zudem sollten „dringende Maßnahmen in Richtung einer dauerhaften Einstellung der Feindseligkeiten“ ergriffen werden. Der Änderungsantrag erhielt im 15-köpfigen Rat 10 Ja-Stimmen (Brasilien, China, Ecuador, Frankreich, Gabon, Ghana, Malta, Mosambique, Russische Föderation, Vereinigte Arabische Emirate). 4 Staaten enthielten sich (Albanien, Japan, Schweiz, Vereinigtes Königreich). Die USA legten ihr Veto ein und verhinderten damit ein weiteres Mal die Forderung nach einer sofortigen Einstellung aller Kampfhandlungen.
Bei der endgültigen Abstimmung des schließlich komplett entschärften Resolutionstextes stimmten 13 Staaten dafür und zwei Staaten enthielten sich. Damit war die Resolution 2720 angenommen. Die USA enthielten sich, weil der Angriff der Qassam-Brigaden vom 7. Oktober in dem Text nicht erwähnt wurde. Russland enthielt sich, weil auf Drängen der USA die wichtige Forderung nach einem Waffenstillstand entfernt worden war.
Ein tragischer Moment für den UN-Sicherheitsrat
In der Begründung der Enthaltung der Russischen Föderation erklärte UN-Botschafter Vassily Nebenzia, Russland hätte sein Veto gegen den Text eingelegt, hätten nicht so viele Staaten (13) dafür gestimmt. Es sei ein „tragischer Moment“ für den Sicherheitsrat, dass er nicht den Mut gefunden habe, wenigstens das Minimum zu tun und ein Ende der Gewalt in Gaza zu fordern, wie es der Änderungsantrag der Russischen Föderation vorgeschlagen habe. Erneut hätten „die Vereinigten Staaten von Amerika sich vor der Weltöffentlichkeit entlarvt, indem sie selbst eine sehr milde Forderung des Sicherheitsrates nach der Einstellung der Feindseligkeiten in Gaza blockiert haben.“
Washington habe eine Sprache durchgesetzt, die de facto „Israel eine Lizenz zum Töten palästinensischer Zivilisten in Gaza unter dem Vorwand gibt, Bedingungen für die Einstellung der Feindseligkeiten“ zu erreichen, so Nebenzia. Er verwies auf eine Pressekonferenz am gleichen Tag von John Kirby, Koordinator für strategische Kommunikation des Nationalen Sicherheitsrates im Weißen Haus, wonach die israelische Regierung verstanden habe, dass die „Intensität der Kämpfe im Gaza-Streifen“ nachlassen müsse. Gleichzeitig liege es an Israel zu entscheiden, was zu tun sei.
Der Rat habe eine „Lizenz zum Töten“ palästinensischer Zivilisten unterschrieben, so der russische UN-Botschafter. Es gäbe keinen Grund „multilaterale Diplomatie zu feiern“, vielmehr handele es sich um eine „grobe, prinzipienlose Erpressung und eine offene Verachtung Washingtons gegenüber dem Leiden der Palästinenser und den Hoffnungen der Weltgemeinschaft“. Die eindeutige Forderung des Sicherheitsrates bleibe zwingend notwendig, so Nebenzia. Ohne das sei die Umsetzung der Ratsbeschlüsse in Gaza schlicht unmöglich. Darauf habe bereits UN-Generalsekretär Antonio Guterres am 8. Dezember in seiner Rede vor dem Rat unmissverständlich hingewiesen. „Egal wie sehr sich die USA bei der Verteidigung ihres wichtigsten Verbündeten im Mittleren Osten sträuben“ werde der Rat auf dieses Thema zurückkommen „und klar und unmissverständlich eine Einstellung der Feindseligkeiten fordern.“ (Zur Rede Nebenzias hier.)
Der Krieg gegen Gaza geht weiter
Unmittelbar vor der Sitzung des UN-Sicherheitsrates hatte Israel am 20. Dezember erneut die Telefon- und Internetverbindungen im Gaza-Streifen gekappt, heißt es im Lagebericht des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) am 23. Dezember 2023. Sie hätten erst am Abend des 21. Dezember teilweise wiederhergestellt werden können. Am 22. Dezember begannen heftige israelische Angriffe aus der Luft, vom Boden und vom Meer, heißt es weiter. Der gesamte Gaza-Streifen – bis auf Rafah – sei angegriffen worden. Es habe schwere Bodenoperationen und Kämpfe zwischen der israelischen Armee und den bewaffneten palästinensischen Gruppen gegeben. Aus dem Gaza-Streifen seien Raketen auf Israel abgefeuert worden. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza seien in den drei Tagen zwischen dem 18. – 20. Dezember 390 Palästinenser getötet worden. Die Zahl der Verletzten in diesem Zeitraum wurde mit 734 angegeben (siehe hier.)
Seit dem 7. Oktober wurden in Gaza demnach mindestens 20.057 Palästinenser getötet. 70 Prozent von ihnen sind Frauen und Kinder. (Stand 22.12.2023) Die Zahl der Verletzten in diesem Zeitraum liegt bei 53.320. UN-Generalsekretär Antonio Guterres sagte auf einer Pressekonferenz am 22.12.2023: „Es gibt keinen effektiven Schutz für Zivilisten im Gaza-Streifen, solange das intensive israelische Bombardement und die Bodenkämpfe anhalten“.
Das israelische Militär berichtete von zwei getöteten Soldaten bei Kämpfen in Gaza am 21./22. Dezember. Seit Beginn der Bodenoffensive sollen demnach 140 israelische Soldaten in Gaza getötet und 784 Soldaten verletzt worden sein.
Israel antwortet dem UN-Sicherheitsrat
Die Antwort Israels auf die Resolution des UN-Sicherheitsrates am 22.12.2023 waren erneute Drohungen gegen die Bevölkerung des Gaza-Streifens. 15 Prozent des Gebietes in der Mitte des Gazastreifens, etwa 9 km², müssten von der Bevölkerung verlassen werden, ordneten die israelischen Besatzungstruppen an. Die Bekanntmachung erfolgte über die sozialen Medien, wo das betroffene Gebiet auf einer Online-Karte markiert war. Ohne Strom und mit leeren Batterien oder ohne Handy ist es den Menschen aber gar nicht möglich, sich digital zu informieren. In dem Gebiet lebten vor dem Angriff auf Gaza rund 90.000 Menschen, heißt es dazu im OCHA-Lagebericht vom 23.12.2023.
Aktuell befinden sich in dem Gebiet sechs Unterkünfte, in denen 61.000 Inlandsvertriebene untergebracht sind. Bei den meisten dieser Menschen handelt es sich um Vertriebene aus dem Norden des Gaza-Streifens. In dem Gebiet liegen auch die beiden Flüchtlingslager Al Bureij und An Nuseirat sowie Az Zaharaa und Al Moughraga. Alle Lager wurden bereits wiederholt von Israel bombardiert. Die Bewohner des markierten Gebiets werden nun erneut aufgefordert, ihre Wohnungen zu verlassen und sich nach Deir al Balah zu begeben. Dort allerdings befinden sich bereits mehrere Hunderttausend Inlandsvertriebene, Deir al Balah ist komplett überfüllt.
Während sich die Diplomaten und Diplomatinnen des UN-Sicherheitsrates nach den Erklärungen in die Weihnachtspause verabschiedeten, wurden aus dem Gazastreifen heftigste Angriffe der israelischen Armee gemeldet. Als Ziel der Angriffe wurden das palästinensische Flüchtlingslager Nuseirat und die Stadt Khan Younis im Süden des Gazastreifens genannt.
Im Süden des Gaza-Streifens sollten die Menschen sicher sein, hatte die israelische Armee zu Beginn ihrer Bombenangriffe nach dem 7. Oktober erklärt. Verschiedene Medien berichteten unter Berufung auf eine Untersuchung der New York Times (NYT), dass schon unmittelbar nach dem Beginn des Krieges eine 2000-Pfund-Bombe im Süden von Gaza, bei Rafah, explodiert sei. Israel habe von den USA mehr als 5000 der zerstörerischsten Bomben erhalten, so die NYT, sogenannte 2000 Pfund Bomben. Während die US-Armee nach eigenen Angaben diese Waffen in dicht besiedelten Gebieten nicht einsetzt, soll Israel bereits mehr als 200 dieser 2000 Pfund Bomben über dem Süden von Gaza abgeworfen haben.
NYT-Journalisten haben dem Bericht zufolge Satelliten- und Drohnenfotos ausgewertet, um Bombenkrater im Gaza-Streifen zu analysieren. Krater mit einem Durchmesser von 40 Fuß (etwa 12 Meter) seien „typisch für 2000 Pfund Bomben“, so die NYT. Man habe bei der Auswertung 208 solche Krater gefunden. Nach Angaben von Amnesty International wurden auch Reste von JDAM-Bomben gefunden, die in den USA hergestellt worden seien. JDAM steht für Joint Direct Attack Munitions, in Deutsch etwa: Gemeinsame Munition für direkten Angriff. Die bis zu 2000 Pfund schweren Bomben werden auch „bunker-buster“, bunkerbrechende Bomben genannt. Erde werde flüssig, wird der ehemalige Mitarbeiter des Pentagon Marc Garlasco zitiert. „Gebäude werden zerlegt“. Die Explosion einer 2000 Pfund-Bombe bedeute “sofortigen Tod“ für jeden, der sich im Umkreis von 30 Metern aufhalte, so Garlasco. Die tödliche Splitterwirkung könne bis zu 365 Meter weit reichen. Beim Einschlag einer 2000 Pfund Bombe am 31.Oktober im Flüchtlingslager Jabalia wurden mehr als 100 Zivilisten getötet.
Was Regierungen in Europa nicht wissen und Leitmedien nicht berichten wollen
Inzwischen ist klar, dass niemand im Gaza-Streifen vor den willkürlichen Angriffen der israelischen Soldaten und Armeeführung sicher ist. Beleg dafür ist nicht zuletzt die Erschießung israelischer Geiseln, die mit bloßem Oberkörper und eine weiße Fahne schwenkend, aus einem zerbombten Haus kamen und auf Hebräisch um Hilfe baten. Zwei der Männer wurden sofort von israelischen Soldaten erschossen, der Dritte, der versuchte, sich in dem Haus wieder zu verstecken, wurde später erschossen.
Die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, sagte über das Vorgehen der israelischen Armee gegen das Gesundheitssystem im Gaza-Streifen, es nehme „die sadistischsten Formen an“. „Krankenhäuser und medizinisches Personal seien unantastbar“, schrieb Albanese auf X vormals Twitter. „Besonders in einer Zeit so großer Zerstörung, von Leid und Verzweiflung wie in diesem sinnlosen Krieg gegen die Menschen in Gaza.“
Zahllose Augenzeugenberichte über das Verhalten israelischer Soldaten sind in arabischen und englischsprachigen Medien zu finden. Die Menschen berichten, was sie gesehen oder selbst erlebt haben. Sie sprechen vor Kameras über Gräueltaten, die ihnen selbst, Angehörigen, Kollegen oder unbekannten Menschen widerfahren sind, die – verletzt oder tot – auf den Straßen lagen.
Das UN-Büro für Menschenrechte (Genf) forderte in einer Erklärung am 20. Dezember 2023 die Untersuchung „unrechtmäßiger Tötungen“ in Gaza Stadt.
Man habe Informationen erhalten, wonach israelische Soldaten mindestens 11 unbewaffnete palästinensische Männer gemeinsam vor den Augen ihrer Familienangehörigen in Al Remal, einem Viertel in Gaza Stadt, getötet haben sollen. Es könne sich um ein Kriegsverbrechen handeln und müsse untersucht werden, so das UN-Menschenrechtsbüro. Danach sollen am 19.12.2023 zwischen 20:00 und 23.00 Uhr israelische Soldaten das Al Awda Gebäude umstellt und durchsucht haben. Das Gebäude sei auch als Annan Gebäude bekannt. Dort hätten neben der Annan Familie drei verwandte Familien Zuflucht gefunden. Augenzeugenberichten zufolge, die sowohl in Medien als auch von EuroMed Monitor für Menschenrechte, einer in Genf ansässigen Organisation, veröffentlicht worden seien, hätten die israelischen Soldaten das Haus durchsucht und die Frauen und Kinder von den Männern getrennt. Dann hätten sie mindestens 11 der Männer im Alter zwischen Ende 20 und Anfang 30 vor den Augen ihrer Familienangehörigen erschossen. Anschließend hätten sie die Frauen und Kinder in einen Raum gedrängt, auf sie geschossen und eine Granate in den Raum geworfen. Unter den Verletzten seien auch zwei Kinder gewesen. Das UN-Menschenrechtsbüro gab an, die Tötungen in dem Al Awda Gebäude bestätigen zu können, die genauen Umstände würden noch untersucht. Seitens der israelischen Armee gebe es keine Informationen über das Geschehen.
PS: Auch die Schweiz – sie ist zurzeit Mitglied des Sicherheitsrates – hat erst der total abgeschwächten Version der Resolution zugestimmt. Eine Schande! (cm)