Die unerträgliche Doppelmoral der Schuldenbremse
(Red.) Darf es auch einmal ein schwer zu verstehender Text sein? Nicht weil er schwer verständlich geschrieben ist, sondern weil er ein echt komplexes Thema betrifft? Er betrifft die sogenannte Schuldenbremse, über die zurzeit sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz – hier insbesondere nach dem spektakulären Zusammenbruch der Großbank Credit Suisse – in den Politkreisen hart diskutiert wird. Reinhold Harringer, der ehemalige Leiter der Finanzverwaltung der Stadt St. Gallen – er war einer der maßgebenden Köpfe der sogenannten Vollgeldinitiative, die das ganze Finanzwesen in der Schweiz deutlich sicherer gemacht hätte – macht auf einige Punkte aufmerksam, die von den zuständigen politischen Behörden beachtet werden müssten. (cm)
Die schweizerische Schuldenbremse gilt als Erfolgsmodell. Bei genauerem Hinsehen ist die «Schuldenbremse» jedoch voller Widersprüche. Ist die «Schuldenbremse» wirklich das Allheilmittel, als das sie oft dargestellt wird?
1. Der Begriff der «Schuldenbremse» ist eine Irreführung
Bereits der Begriff der «Schuldenbremse» wirft Fragen auf, denn von einer Bremse zu sprechen ist eine massive Untertreibung. De facto handelt es sich um ein Schuldenabbau-Programm. Die Schuldenbremse ist so konstruiert, dass die öffentlichen Schulden in nominellen Werten stabil gehalten werden. Dies ergibt sich daraus, dass die Ausgaben im Normalfall durch die Einnahmen gedeckt sein müssen. Bei einer wachsenden Wirtschaft führt dieser Mechanismus jedoch zu einer abnehmenden Schuldenquote, d.h. die relative Verschuldung nimmt im Verhältnis zum BIP ab.
In der Tat sind die nominellen Bruttoschulden des Bundes seit der Einführung der «Schuldenbremse» im Jahr 2003 leicht zurückgegangen. Durch die Pandemie sind sie 2022 nominell wieder auf das Niveau von 2003 angestiegen (ca. 120 Milliarden). Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt sind im gleichen Zeitraum die Schulden aber von 120 auf 65 Prozent zurückgegangen. Man mag diesen Rückgang der Schulden als erfreulich beurteilen – aber ist das wirklich so eindeutig? Wie soll eine wachsende Wirtschaft mit sinkenden Schulden funktionieren? Wurden damit nicht wertvolle Ideen vereitelt oder wichtige Massnahmen nicht umgesetzt? Aber ganz grundsätzlich stellt sich die Frage: Darf man mit derart falschen Begriffen arbeiten? Ist das gewollte Irreführung oder einfach eine schludrige Formulierung?
2. Schulden und Vermögen sind zwei Seiten der gleichen Medaille
Geldschulden, Staatsschulden sind gleichzeitig und immer auch Geldguthaben – Guthaben der Anleger, der Pensionskassen usw. Daher ist unehrlich, öffentlich und gegen aussen steigende Schulden zu beklagen und im Beruf und privat gleichzeitig eifrig nach noch lohnenderen Anlagemöglichkeiten zu suchen. Denn wenn die Geldvermögen steigen, so muss es Gegenparteien geben, die bereit sind, Schulden zu machen.
Und umgekehrt gilt: Wer Geldschulden abbauen will, der müsste bereit sein, auch Geldvermögen zu reduzieren. Der Staat könnte z.B. seine Schulden mit Leichtigkeit abbauen, indem er höhere Steuern erhebt. Dies würde aber zu einem Vermögensrückgang bei den Steuerzahlenden führen. Dagegen gibt es bekanntlich grosse Widerstände. Aber wie kann man einseitig hohe öffentliche Schulden beklagen und sich gleichzeitig über steigende private (Geld-)Vermögen freuen? Ist das nur Unverständnis oder heuchlerische Doppelmoral?
3. Schulden sind die Basis unseres Geldsystems
Geld entsteht in unserem System nur dann, wenn Leute bereit sind, sich zu verschulden: Geld entsteht durch die Kreditgewährung der Banken. Dies ist heute unbestritten. Werden Kredite zurückbezahlt, so wird Geld wieder «zerstört». Um diesen Effekt zu vermeiden, müssen immer wieder neue Kredite gewährt werden. Unser Geldsystem ist also ein System der dauernden und zwangsläufig auch steigenden Schulden. Diese Zusammenhänge hat die Vollgeldinitiative thematisiert und einen anderen Weg für die Geldschöpfung vorgeschlagen: Ein schuldenfreies Geld, welches durch die Nationalbank in Umlauf gebracht wird. Nach den Vorstellungen der Vollgeld-initiative hätte ein schuldenfreies Geld langfristig zu einer Entschuldung des Staates und der ganzen Gesellschaft geführt. Diese Initiative wurde vom Schweizer Volk im Jahr 2018 abgelehnt und indirekt wurde damit das bisherige Schulden-Geld-System der Banken grundsätzlich bestätigt. Die Ablehnung der Initiative könnte also auch so interpretiert werden, dass das Interesse an einem Schuldensystem offenbar grösser ist als die immer wieder beschworene Angst vor Schulden. Unverständnis oder Doppelmoral?
4. Öffentliche und private Schulden
Die Schweiz ist stolz auf eine relativ tiefe staatliche Verschuldung. Wenn man aber die privaten Schulden – insbesondere die Hypothekarschulden – mitberücksichtigt, so ist der Schuldenstand in der Schweiz gar nicht mehr so einzigartig tief. Die Gesamtverschuldung in der Schweiz ist z.B. höher als in Deutschland, Schweden, Frankreich und Italien! Nur die USA und Griechenland haben in dieser kleinen Länderauswahl wegen ihrer ausserordentlich hohen Staatsschulden auch höhere Gesamtschulden.
Eines lässt sich festhalten: Einen «schuldenfreien» Weg hat bisher noch kein Land gefunden. Im Gegenteil – weltweit wachsen die Schulden, und der übliche Weg diese abzubauen besteht in der Entwertung der Schulden durch die Inflation. Aber ist der von der Schweiz begangene «Weg der privaten Schulden» wirklich so viel besser als der in vielen anderen Ländern gewählte «Weg der staatlichen Schulden»?
5. Was ist besser: öffentliche oder private Schulden?
Bei dieser Frage sind zwei Aspekte zu unterscheiden: Welche Schulden tragen mehr zum allgemeinen Wohlstand bei und wer trägt die Last des Schuldendienstes?
Das gängige Vorurteil besteht darin, anzunehmen, dass private Schulden produktiver und damit besser wären als staatliche Schulden, weil damit in der Wirtschaft Produktionsanlagen finanziert würden. Demgegenüber würden staatliche Schulden eher für unproduktive Zwecke gemacht. Aber so einfach ist das wohl nicht.
Zunächst ist festzuhalten, dass die Wirtschaft ihre Investitionen zu einem grossen Teil aus eigenen Mitteln finanziert. Nur etwa ein Drittel aller KMU (Klein- und Mittelgroße Unternehmen, Red.) in der Schweiz beanspruchen Bankkredite. Der Anteil der Bankkredite für Unternehmungen ist – verglichen mit der Gesamtsumme aller Hypothekarkredite – relativ bescheiden. Was die Produktivität der privaten Schulden im Hypothekarbereich angeht, so sind diese nur dann produktiv, wenn Hypotheken für den Bau neuer Häuser eingesetzt werden. Wenn damit aber spekulative und steigende Liegenschaftspreise finanziert werden, so hat dies auf die reale Wirtschaft keinerlei positive Effekte.
Was die Staatsschulden angeht, so sind Schulden zur Finanzierung von Infrastrukturen (Bahnen, Schulen, Energieversorgung usw.) zweifellos besser als Schulden zur Finanzierung von Konsumausgaben. Aber selbst Schulden für Konsumausgaben (Personalausgaben, Subventionen) lassen sich gut begründen, wenn damit wichtige Staatsausgaben erfüllt werden. Als Beispiele könnten dabei die Ausgaben für die Sicherheit (Armee, Polizei, Gerichte usw.) oder auch die Landwirtschaft im Dienst der Landesversorgung genannt werden. Denn ohne diese grundlegenden Dienste könnte sich auch keine florierende Wirtschaft entwickeln.
Und wer trägt die Last des Schuldendienstes? Bei öffentlichen Schulden sind dies offensichtlich die Steuerzahlenden. Dabei ist auf allen Staatsebenen durch die Progression gewährleistet, dass die Lasten mehr oder weniger entsprechend der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verteilt werden.
Bei den privaten Schulden ist dies anders. Es ist der einzelne Schuldner, der für die Zinsen und die Rückzahlung der Schuld aufzukommen hat. Ob dies letztlich dem Gedanken der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entspricht, ist zu bezweifeln. Immerhin lebte 2022 in der Schweiz jede achte Person in einem Haushalt, der mindestens einen Zahlungsrückstand aufwies. Ausserdem ist die Schweiz ein Volk von Mietern und es kann davon ausgegangen werden, dass ein Grossteil der Hypothekarzinsen von den Mietern getragen wird.
Grundsätzlich geht die Finanzierung einer hohen Privatverschuldung zu Lasten der wirtschaftlich schwächeren Bevölkerung. Durch die aktuelle Tendenz – öffentliche Schulden senken, private Schulden erhöhen – wird dieser Effekt noch verstärkt. Unverständnis der Zusammenhänge oder Doppelmoral?
6. Welche Alternativen gibt es?
Wie dargelegt, ist die öffentliche Verschuldung in der Schweiz im internationalen Vergleich sehr tief. Einerseits ist es sicher richtig, wenn versucht wird, diesen Vorteil zu bewahren. Anderseits darf die Idee der Schuldenbremse nicht zur Ideologie verkommen.
a) Als erstes wäre es ökonomisch richtig, wenn das Konstrukt der «Schuldenbremse» so gestaltet würde, dass sie strukturell nicht zu einem Abbau, sondern zu einer Stabilisierung der realen Schulden (im Verhältnis zum BIP) führt. Diese Forderung entspricht dem Vorschlag der Grünen Partei, «dass die Verschuldung durch eine Schuldenquote – und nicht durch einen absoluten Betrag – im Verhältnis zum BIP stabilisiert werden soll. Im internationalen Vergleich hat die Schweiz eine sehr niedrige Schuldenquote und riskiert nichts, wenn sie eine stabile Quote anstrebt.»
b) Aus der Erkenntnis, dass Geldschulden immer auch Geldvermögen sind, folgt, dass kein Weg an der Vermögensverteilung vorbeiführt. Konkret: Man kann Schulden nicht abbauen, ohne gleichzeitig Vermögen zu reduzieren. Dies erfordert in erster Linie eine Umverteilung von Vermögen und damit Änderungen im Steuersystem.
Am G20-Gipfel in Rio de Janeiro haben sich die Teilnehmer darauf geeinigt, für eine wirksame Besteuerung von Milliardären zusammenzuarbeiten. Dass eine solche Steuer überlegt eingeführt werden muss, liegt auf der Hand. Aber grundsätzlich ist dieser Ansatz aus verschiedenen Gründen richtig:
Die sehr hohen Vermögen haben nur in geringem Mass etwas mit persönlicher Leistung zu tun: Erbschaften, die technologische Entwicklung und auch Glück sind mindestens so wichtig. Ganz extrem haben z.B. die «digitalen» Milliardäre» von den hohen Vorleistungen früherer Generationen profitiert. Es hätte keine digitale Revolution gegeben, wenn früher nicht viele Forscher dafür die Grundlagen gelegt hätten und wenn nicht viele Projekte durch staatliche Mittel gefördert worden wären. Auch im Finanzbereich oder in einzelnen Branchen (z.B. Unterhaltung, Sport) sind Vermögen entstanden, die nichts mit Leistung, sondern mit Systemen und Strukturen zu tun haben.
Auch das ökologische Argument spricht für eine stärkere Besteuerung der Super-Reichen. Laut einem aktuellen Bericht von Oxfam International generieren die 50 reichsten Milliardäre der Welt in nur 90 Minuten mehr CO2 als ein durchschnittlicher Mensch in seinem ganzen Leben. In der Schweiz wird das nicht so extrem sein; aber in der Tendenz stimmt diese Aussage auch hier.
Angesichts der immensen Vermögen der Milliardäre würde eine stärkere Besteuerung keinerlei Einfluss auf ihre Lebensqualität haben. Dies sehen auch immer mehr Super-Reiche so und sind sogar bereit, grosse Teile ihres Vermögens zu verschenken.
Weitere Möglichkeiten zur Begrenzung der öffentlichen Schulden hätte die Schweizerische Nationalbank. Das Hauptziel der Nationalbank ist unbestritten die Stabilität der Preise. Dies erreichte die SNB in der jüngsten Vergangenheit erfolgreich, indem sie die Geldnachfrage über die Zinsen steuerte. Solange die Zinsen aber sehr tief sind und gegen oder unter null tendieren, entsteht eine Assetinflation, d.h. die Kurse der Aktien werden in die Höhe getrieben und dies führt bei den Aktionären zu praktisch leistungslosem Einkommen. Wenn die Geldpolitik auch die Vermögensverteilung ungleicher macht, so darf die Frage gestellt werden, wie diese Nebenwirkung gemildert werden kann. Ein einfacher Weg dazu wäre z.B. eine grosszügigere und stabilere Ausschüttung der Notenbankgewinne an Bund und Kantone, damit diese ihre Aufgaben besser finanzieren könnten.
Eine Ausschüttung von Gewinnen ist bereits eine leichte Form der Staatsfinanzierung. Darüber hinaus könnten aber auch weitergehende Möglichkeiten geprüft und auf diese Weise der steigenden Staatsverschuldung entgegengewirkt werden. Historisch und auch in der Gegenwart hat die Staatsfinanzierung immer eine grosse Rolle gespielt. Dafür gibt es viele historische Beispiele und denkbare Formen und bei weitem nicht jede Staatsfinanzierung führte in die Katastrophe, wie es heute gebetsmühlenartig als Gegenargument angeführt wird. Das strikte Verbot der Staatsfinanzierung stellt in historischer Sicht einen Extremfall dar. Doch trotz des formellen Verbotes der Staatsfinanzierung innerhalb der EU ist die verdeckte Staatsfinanzierung heute gängige Praxis.
Verschiedene Formen der Staatsfinanzierung sind denkbar, ohne dass deswegen das Ziel der Preisstabilität aufgegeben werden müsste. Eine einfache Möglichkeit wären z.B. dauernde, unverzinsliche Darlehen. Eine andere bestünde darin, die Geldschöpfungsgewinne, die heute zum weitaus grössten Teil den Banken zufliessen, für die Allgemeinheit nutzbar zu machen. Entweder durch die Einführung von CBDC (Central Bank Digital Currency), welches von der Nationalbank ausgegeben würde, oder durch die Ausgabe von Helikoptergeld, wie dies von vielen Ökonomen und auch von der Vollgeld-Initiative vorgeschlagen wurde. (Wobei dieses Helikoptergeld auch bei einer direkten Verteilung an die Bürger die Gesamtverschuldung der Gesellschaft reduzieren würde.)
Die SNB hätte also viele Möglichkeiten, einen Beitrag zur Entschuldung des Staates zu leisten. Aber offensichtlich fehlt der politische Wille und mit dem Schlagwort der Unabhängigkeit der Nationalbank wird jede Diskussion unterbunden.
- Schlussfolgerung
Auf vielen Ebenen könnte etwas getan werden, um die Schuldenproblematik zu entschärfen – wenn man die Schulden wirklich als echtes Problem anschauen würde. Aber dies ist nur vordergründig der Fall: Zu gering ist die Verschuldung des Staates im internationalen Vergleich. Zu einfach ist es unter dem Deckmantel der Schuldenbremse von Ausgabendisziplin zu reden und nach dem Prinzip der sparsamen Hausfrau zu verfahren. Zu gross sind die Interessen an einer stark verschuldeten Gesellschaft. In Anlehnung an eine Liedzeile von Reinhard Mey lässt sich dies mit folgenden Worten zusammenfassen: «Da nahm der Milliardär den Ökonomen am Arm: Halt du sie dumm, ich halt sie arm.»
(Red.) Dieser Artikel erschien zuerst auf der Finanzplattform «Inside Paradeplatz».
Siehe dazu auch: «Vollgeld – so einfach wäre es zu erklären!» (von Christian Müller)
«Der clevere Kurtli – oder: So wird man Millionär» (von Christian Müller)