In Baku am Kaspischen Meer, der Hauptstadt von Aserbaidschan, prallen historische Quartiere schon rein visuell hart mit den hypermodernen Hochhäusern zusammen – und nicht anders ist es in der Gesellschaft. (Photo Leonid Andronov)

Die UN-Umweltkonferenz in Baku: ein Gipfeltreffen des Friedens?

(Red.) Es ist schwierig zu verstehen: Ausgerechnet in Aserbaidschan soll die nächste UN-Umweltkonferenz stattfinden, in Aserbaidschan, das mit dem Handel von Öl und Erdgas reich geworden ist. Aserbaidschan ist ein Land, das von einem extrem autokratischen Machthaber regiert wird und in dem so etwas wie eine freie Presse mit Gewalt verhindert wird. Nicht nur Gefangene aus dem Krieg mit Armenien sitzen dort im Gefängnis, auch eigene, kritische Landsleute. (cm)

Die Umweltkonferenz der Vereinten Nationen (COP29, Conference of the Parties) in diesem Jahr findet im November in Aserbaidschan statt – paradoxerweise wie die COP28 in Dubai, also in einem Land, dessen Haupteinnahmenquelle in der Förderung fossiler Energie liegt. Aserbaidschans Elite sieht darin keinen Widerspruch, sondern nur Grund für Begeisterung, für die kein Superlativ zu viel und kein Lob zu überschwänglich zu sein scheint: Aserbaidschan habe in den letzten Jahren den Internationalen Astronautenkongress, die ersten Olympischen Spiele in Europa, mehrere internationale Sportwettbewerbe und den Eurovision Song Contest beheimatet, kommentiert etwa Ayaz Museyibov vom regierungsnahen «Zentrum für Wirtschaftsreformen und Kommunikation». Damit habe das Land unter Beweis gestellt, dass es sich als Veranstaltungsort von Weltrang eigne. «In Bezug auf Umfang und Bedeutung stellt die kommende COP29-Klimakonferenz jedoch alle früheren Zusammenkünfte in den Schatten». Denn in Baku würden die Weichen gegen den globalen Klimawandel gestellt werden, so Ayaz Museyibov.

Politische Würdigung

Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew misst der Dringlichkeit des Klimawandels weniger Bedeutung bei; er strebt auch nicht eine Reduktion der fossilen Energie an. Ganz im Gegenteil: Er braucht mehr Erdgas aus dem Kaspischen Meer vor Bakus Ufern zu fördern oder Erdöl und Erdgas aus Zentralasien und Russland zu kaufen und in andere Länder weiterzuverkaufen. Denn es ist sein erklärtes Ziel, in absehbarer Zeit Aserbaidschan zu einer Energie-Drehscheibe zwischen Zentralasien und Europa zu machen. 

Von der COP29 erhofft sich Alijew in erster Linie Gewinne politischer Natur. Seit Beginn der 1990er Jahre wird Aserbaidschan eisern von seiner Familie regiert. Wahlen sind wie in jeder Autokratie voraussehbar: Vergangenen Februar wurde Ilham Alijew etwa mit über 92 Prozent der Stimmen für fünf weitere Jahre im Amt bestätigt. Justiz, Parteien und Presse unterstehen seiner strikten Kontrolle; Opposition sowie die Zivilgesellschaft werden unterdrückt. Der Europarat prangert das Regime in Baku der ungezügelten Korruption an. Laut Forschern der Menschenrechtsorganisation Freedom House übertrifft Aserbaidschan jetzt Weissrussland als Europas repressivster Staat. 

Dass die COP29 dennoch in Baku stattfindet, dürfte Ilham Alijew als persönlichen Triumph empfinden. Im November wird er als Gastgeber nämlich führende Politiker aus aller Welt auf Augenhöhe begrüssen und sein Land nicht als Paria, sondern als respektables Mitglied der Weltgemeinschaft präsentieren können. 

COP29 gegen Kriegsgefangene

Ausgerechnet Armenien hat die COP29 in Baku ermöglicht: Am 7. Dezember 2023 willigte die armenische Regierung ein, ihr Veto gegen Aserbaidschan als Gastgeber der UN-Klimakonferenz fallen zu lassen. Als Gegenleistung wurden 32 armenischen Soldaten, die seit 2020 in Aserbaidschan gefangen gehalten wurden, freigelassen. Den Deal bezeichnete Ilham Alijew umgehend als «Geste seines guten Willens» und nannte die bevorstehende COP29 eine «COP des Friedens». 

Der Deal offenbarte vor allem die Ohnmacht Armeniens: Das Waffenstillstandsabkommen zwischen Russland, Aserbaidschan und Armenien, das am 9. November 2020 in Moskau unterzeichnet wurde, sah bereits die Freilassung aller Kriegsgefangenen vor. Auch die Genfer Konvention, die nach 1864 das Kriegsrecht regelt, gebietet die Freilassung aller Geiseln und Kriegsgefangenen nach dem Ende eines bewaffneten Konflikts. Das Regime in Baku glaubt allerdings, wie andere Kriegsherren unserer Zeit auch, sich über jedes internationale Recht hinwegsetzen zu können. So kann heute wohl niemand genau sagen, wie viele armenische Kriegsgefangene in Aserbaidschans Gefängnissen noch in Haft sind. Laut Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (ICRC) sollen 303 armenische Familien ihre Söhne, Töchter und Väter vermissen. Wie viele von ihnen noch wo leben, bleibt unklar. 

Die politische Führung Berg-Karabachs eingesperrt

Unumstritten ist, dass Armenien seit letztem Oktober um das Schicksal von 23 weiteren Gefangenen bangen muss. Darunter befinden sich acht hochrangige und demokratisch gewählte Politiker, wie die ehemaligen Präsidenten Arkadi Ghukasyan, Bako Sahakyan und Arayik Harutyunyan; der Sprecher des Nationalen Parlaments David Ishkhanyan, oder auch der ehemalige Aussenminister David Babayan. Sie wurden aus dem Flüchtlingstreck aus Berg-Karabach herausgeholt in dem Moment, als das offizielle Baku öffentlich deklarierte, alle Armenier gehen zu lassen, die gehen wollten. Seither sind sie in Baku eingesperrt und werden als «Terroristen» und als Mitglieder einer illegalen Miliz vor Gericht in Ketten vorgeführt. Als Ruben Vardanyan, ein armenisch-russischer Milliardär, aus Protest gegen ihre Haftbedingungen vor kurzem einen Hungerstreik begann, soll er laut seinem Sohn gefoltert worden sein. 

In der strafrechtlichen Verfolgung der 23 möchte das Regime in Baku offensichtlich ein Exempel gegen etwaige Dissidenten setzen. Es möchte ferner an Jerewan und den entsprechenden internationalen Institutionen die Botschaft vermitteln, dass Aserbaidschan den Berg-Karabach-Konflikt als reine innenpolitische Angelegenheit betrachten, in der Dritte nicht geduldet werden. Schon während der Kriege 2020 und 2023 sprach Baku auch nie von einem «Krieg», sondern lediglich von einer «Operation» gegen eine Sezessionsbewegung. Das Beispiel des russischen Präsidenten Putin in der Ukraine hat im Südkaukasus augenscheinlich treue Nachahmer gefunden. 

Ein Eigentor der Schweizer Politik?

Die enthemmte Gewalt auf den Schlachtfeldern der Ukraine und Gaza, beide inzwischen Kriege ohne Aussichten auf ein baldiges Ende, haben die Politiker in Europa überfordert und überfordern auch die Politiker in Bern. Die Forderung nach einem Armeeausbau gewinnt in Bern wie in Brüssel stark an Zugkraft. Dies setzt das Budget der Regierungen unter Druck. Der Bundesrat fordert etwa eine Erhöhung des Militärbudgets von 21.7 auf 25.8 Milliarden, der Ständerat gar auf 29.8 Milliarden. Woher soll das Geld kommen?

Kürzungen bei der humanitären Hilfe (in Brüssel) und bei der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) in Bern werden bereits geplant. Die bewährte globale Außenpolitik der Schweiz zugunsten einer militärischen Sicherheitspolitik aufzugeben, käme einem Eigentor des Parlaments gleich, sagt Werner Thut im Gespräch. Zahlreiche, konfliktpräventive Projekte müssten in Armenien, Georgien, Moldawien und im Balkan gestrichen werden – mit fatalen Konsequenzen für die EZA generell und absehbar für den Frieden. Werner Thut war bis letzten Juni Stellvertretender Regionaldirektor des Schweizer EZA-Programms im Südkaukasus.  

Der Südkaukasus ist auch nach zwei vernichtenden Kriegen von einem wirklichen Frieden weit entfernt. Aserbaidschan stellt als Siegerpartei dem Besiegten immer wieder neue Forderungen als Vorbedingung für ein Friedensabkommen in Bezug auf die Grenzziehung, auf den Wortlaut der armenischen Verfassung, auf den sogenannten Sangezur-Korridor usw. Es handelt sich im Grunde um Zwangsfrieden – um einen «Frieden» also, wie ihn der Westen in der Ukraine mit jedem Mittel verhindern will.

Ilham Alijew möchte die bevorstehende COP29 als ein «Gipfeltreffen des Friedens» verstanden wissen? Gibt es überhaupt Aussichten für eine friedlichere Zeit im Südkaukasus? Bringt die 23 Geisel zurück, fordern namhafte Persönlichkeiten aus Armenien. Wie ein Frieden im Konflikt des Nahen Ostens ohne eine Freilassung israelischer Geiseln undenkbar ist, so sei jede Normalisierung der Beziehungen zwischen Jerewan und Baku «ohne die unverzügliche, bedingungslose Freilassung der 23 Geiseln aus Berg-Karabach unvorstellbar», schreibt etwa Hrair Balian, der seit 35 Jahren in Führungspositionen bei den Vereinten Nationen und der OSZE zuständig für Konfliktlösungen im Nahen Osten, in Afrika, auf dem Balkan, in Osteuropa, im Kaukasus und in Zentralasien tätig war. Ähnlich wie Balian appelliert die Mehrheit der armenischen Politiker, Intellektuellen und Wissenschaftler an die Weltgemeinschaft, eine Freilassung der 23 noch vor dem COP29 zu erwirken. Weil Bakus Elite so grossen Wert auf eine problemlose Durchführung des COP29 lege, könnte das UN-Gipfeltreffen eine Chance sein.   

Mit je einer Botschaft in den drei Ländern vertreten und seit mehr als 20 Jahren mit einem regionalen Kooperationsprogramm engagiert, ist die Schweiz im Südkaukasus sehr gut vernetzt und wird als glaubwürdiger Akteur ohne geopolitische Agenda wahrgenommen. Bern könnte daher mit einer proaktiven Politik und konkreten Vorschlägen versuchen, auch diesen gefährlichen Konflikt zu deeskalieren, statt sich ausschliesslich auf die Ukraine zu konzentrieren. Einen neuen Krieg im Südkaukasus zu verhindern, wäre schließlich im ureigenen Interesse der Schweiz – und im Endeffekt auch der Weltgemeinschaft.

Eine Tragödie mit Ansage

Armenien und Aserbaidschan haben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwei grosse Kriege um die Region Berg-Karabach gefochten. Im 1. Krieg um Berg-Karabach Anfang der 1990er Jahren errangen die Armenier einen entscheidenden Sieg; sie beriefen sich auf das Recht auf Selbstbestimmung, das das Völkerrecht garantiert. Noch wähnten sie sich im Recht: Armenier machten historisch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Berg-Karabachs aus. Baku behandelte sie zudem stiefmütterlich. Anfang der 1990er Jahre gründeten sie in dieser isolierten Region des Südkaukasus ihre Republik «Artsakh» und hofften bis zuletzt, ähnlich wie Kosovo, auf eine Anerkennung. Artsakh wurde von keinem Staat anerkannt. Seine 120’000 Einwohnern konnten sich aber demokratisch selbstverwalten. 

Im Juli 2020 schlug Aserbaidschan zurück. Baku berief sich dabei auf sein Recht auf territoriale Souveränität, war Berg-Karabach doch von Josef Stalin Aserbaidschan zugesprochen, was wie das Recht auf Selbstbestimmung ebenso vom internationalen Völkerrecht garantiert wird. Aserbaidschan setzte gegen seinen Gegner massiv israelische und türkische Killerdrohnen ein. Diese neue Kriegsführung veränderte die Machtverhältnisse fundamental: Armenien erlitt eine vernichtende Niederlage, während Aserbaidschan nach und nach einen Grossteil seiner in den 1990er Jahren verlorener Territorien zurückerobern konnte. Vom ehemaligen Artsakh blieb ein minimales Territorium erhalten, auf dem seine Zivilbevölkerung nach Beginn 2023 von aserbaidschanischen Truppen belagert und ungeachtet des Urteils des Internationalen Gerichtshofs oder den wiederholten Appellen von Regierungen und internationalen Menschenrechtsorganisationen monatelang ausgehungert wurde. Eine Blitzoperation der Aserbaidschaner im September 2023 gipfelte schliesslich in der Vertreibung faktisch der gesamten armenischen Bevölkerung aus ihrem historischen Siedlungsgebiet. 

Aserbaidschans Regime ist davon überzeugt, den Konflikt von Berg-Karabach mit der Gewalt der Waffen ein für alle Mal gelöst zu haben. Da könnte es sich allerdings irren. Denn auf dem Parkett der internationalen Diplomatie wird bereits die Frage nach einer Rückkehr der Karabach-Armenier in ihre Heimat behandelt. 

Man sehe und höre dazu auch einen vierminütigen Bericht von Calum MacKenzie über Aserbaidschan auf Radio SRF.