Sie mögen einander, NATO-Generalsekretär Mark Rutte und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der immer noch als Präsident behandelt wird, obwohl er nur noch Präsident ist, weil er unter Verletzung des ukrainischen Rechts die Neuwahlen eigenmächtig abgesagt hat. Und Selenskyj möchte sogar noch mehr von der NATO, sein Wunschtraum wäre eine direkte Einmischung der NATO im Krieg mit Russland. (Foto NATO)

«Die Ukraine versucht seit Beginn des Krieges, die NATO hineinzuziehen»

(Red.) Harald Kujat, geboren 1942, ist ein deutscher General a. D. der Luftwaffe. Er war von 2000 bis 2002 als 13. Generalinspekteur der Bundeswehr der ranghöchste Offizier der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses und damit auch des NATO-Russland-Rats. Einer breiteren Öffentlichkeit ist er durch seine Beiträge zu sicherheitspolitischen und außenpolitischen Fragen bekannt, vor allem zum Verhältnis Deutschlands und der NATO zu Russland. Ein aktuelles Interview mit ihm in der Schweizer Zeitschrift «Zeitgeschehen im Fokus» enthält interessante Aspekte. (cm)

Zeitgeschehen im Fokus: In verschiedenen Medien, aber auch von der Politik wurde orakelt, dass der Sommer 2025 «der letzte Sommer im Frieden» sei. Kann man Entwarnung geben? 

General a.D. Harald Kujat: Diese Aussage bezog sich auf das Manöver Zapad 2025, das vom 12. bis 16. September in Belarus und Russ­land abgehalten wurde. Schon vor Monaten wurde spekuliert, das Manöver könnte als Aufmarsch für einen Angriff auf den Westen dienen. Es ging jedoch ohne irgendwelche Besonderheiten zu Ende.

Das Manöver findet alle vier Jahre statt und ist sowohl von Weißruss­land als auch von Russland angekündigt worden. Weißrussland hatte bereits 2024 die OSZE informiert, Russland am 4. Juni im «OSZE Forum for Security Cooperation» eine ausführliche Darstellung präsentiert. Es sollten zunächst 13 000 Soldaten in Weißrussland beteiligt sein.  Das ist die Größenordnung, ab der ein Manöver bei der OSZE angemeldet werden muss. 

56 Staaten wurden eingeladen, Beobachter zu entsenden, zusätzlich akkreditierte Militärattachés, auch von NATO-Staaten. Die USA waren mit zwei Offizieren als Beobachter vertreten. Insgesamt war etwa die Hälfte der Eingeladenen gekommen. Belarus und Russland waren bestrebt, zu zeigen, dass es ein ganz normales Manöver ist, wie es auch die NATO durchführt. Als vertrauensbildende Maßnahme verlegte Weißrussland das Manöver in das Landesinnere. Außerdem wurde die Anzahl der bei dem Manöver beteiligten Soldaten auf die Hälfte reduziert. 

ZiF: Was wissen Sie über den Teil des Manövers, der in Russland stattfand?

Harald Kujat: Putin hat dieses Manöver am letzten Tag besucht und dazu auch Angaben gemacht. Danach waren in Russland 100 000 Soldaten beteiligt. Geplant waren ursprünglich 30 000. Das Manöver fand an 41 verschiedenen Standorten statt; die russischen Streitkräfte wurden also nicht für einen Angriff in Bereitstellungsräumen zusammengezogen. Es sollen Streitkräfte aus sechs anderen Ländern teilgenommen haben. Auch hier waren etwa 25 Beobachter anwesend. 

ZiF: Ich möchte gerne auf die Drohnen-Geschichte zu sprechen kommen. Was wissen Sie über den Ablauf betreffend Polen?  Es sind verschiedene Begriffe gefallen wie «Provokation», «Test auf die Geschlossenheit der NATO». Auch von einem «geplanten Angriff» wurde gesprochen.

Harald Kujat: Natürlich entstehen durch derartige Vorfälle kritische Situationen und Eskalationsrisiken, die ein besonnenes Krisenmanagement erfordern. Denn es ist immer möglich, dass es auch aufgrund eines menschlichen oder technischen Versagens zu ähnlichen Vorfällen kommen kann. Der polnische Präsident sagte am 15. September in einem Interview mit einer deutschen Zeitung: «Natürlich haben wir keine Zweifel, dass es ein direkt aus Moskau gesteuerter Angriff war. Es ist eine Art Angriff, der zeigt, zu was Wladimir Putin fähig ist.» Ministerpräsident Donald Tusk bezeichnete den Vorfall als «die größte Gefahr eines offenen Konflikts seit dem Zweiten Weltkrieg». Und ein polnischer Staatssekretär zeigte während einer Dringlichkeitssitzung des Uno-Sicherheitsrates ein Foto mit den angeblich durch eine russische Drohne an einem Haus verursachte Schäden. «Wir wissen – und ich wiederhole – wir wissen, dass es kein Fehler war», sagte er als Reaktion auf eine entsprechende Äusserung Präsident Trumps.

Russland beharrte jedoch darauf, keine Ziele in Polen, sondern militärische Anlagen im Westen der Ukraine angegriffen zu haben. Ausserdem hatte Russland angeboten, über diesen Vorfall mit Polen Konsultationen zu führen. Der russische Uno-Botschafter erklärte, Moskau sei bereit, die Angelegenheit mit Polen zu besprechen, «wenn die polnische Seite tatsächlich daran interessiert ist, Spannungen abzubauen, anstatt sie zu schüren». Dieses Angebot wurde von Polen nicht angenommen.

ZiF: Könnte es sich nicht doch um eine Provokation handeln? 

Harald Kujat: Grundsätzlich kann man das nicht ausschließen. Aber es macht wenig Sinn. Zu welchen Reaktionen könnte Russland die NATO provozieren wollen? Welchen Zweck sollte Russland damit verfolgen, die Geschlossenheit der Nato oder unsere Abwehr zu testen? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die russischen Streitkräfte die vier ukrainischen Regionen erobert haben, die Russland am 30. September 2022 annektiert hat. 

Ein Eingreifen der NATO, um dies noch zu verhindern, wäre sicherlich nicht in Russlands Interesse. Zudem ist dies angesichts aller inzwischen bekanntgewordenen Fakten keine rationale Schlussfolgerung. 

Ich denke, im Falle einer Provokation wäre es näherliegend, dass Russland sich für die Unterstützung der Ukraine durch den Westen, die von Russland als Kriegsbeteiligung gewertet wird, revanchieren will. Der russische Außenminister Lawrow hat kürzlich behauptet, die NATO und die Europäische Union hätten Russland den Krieg erklärt und benutzten die Ukraine als Vollstrecker. 

Der Westen finanziert den Krieg, liefert leistungsfähige Waffensysteme und ermöglicht durch Aufklärung und Zielinformationen, dass die Ukraine strategische Ziele in Russland angreifen kann. Insbesondere die Angriffe auf die russische Energieversorgung und die Krim sind für Russland schmerzlich. Rechtlich ist die westliche Unterstützung eine Grauzone, politisch jedoch hochbrisant. Wenn Informationen entscheidend sind, um Angriffe erfolgreich auszuführen, beziehungsweise Angriffe ohne diese Informationen nicht durchgeführt werden könnten, kann dies als Mitwirkung an Feindseligkeiten gewertet werden. 

In diesem Sinne hat der Internationale Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) entschieden, dass bereits umfassende organisatorische, logistische und operative Unterstützung als Mitwirkung gelten. Der polnische Ministerpräsident Tusk ging noch einen Schritt weiter: «Es herrscht Krieg, und es ist auch unser Krieg,» sagte er kürzlich auf einem Sicherheitsforum in Warschau. Der Westen habe in dieser Auseinandersetzung keinen Grund an Kapitulation zu denken, führte er weiter aus.

ZiF: Wurden nicht einige Drohnen abgeschossen? Was ist mit den übrigen passiert? 

Harald Kujat: Drei oder vier. Wenn es sich tatsächlich um einen Angriff auf Ziele auf polnischem Territorium gehandelt hätte, müssten von den 15 Drohnen, die nicht von der Luftabwehr abgeschossen wurden, zumindest einige ihre Ziele getroffen haben. Das war aber nicht der Fall. Offensichtlich stürzten alle Drohnen, ohne zu detonieren, ab, nachdem sie ihre maximale Reichweite erreicht hatten. Das deutet daraufhin, dass es sich überwiegend um unbewaffnete Drohnen zur Ablenkung und Sättigung der ukrainischen Luftverteidigung handelte. 

Die einzige Zerstörung, die entstand, war ein beschädigtes Hausdach. Von polnischer Seite wurde später bestätigt, dass der Schaden durch eine Luft-Luft-Rakete verursacht wurde, die von einem polnischen F- 16-Kampfflugzeug abgeschossen wurde. Die Rakete ist nicht detoniert, weil anscheinend der Sprengkopf nicht scharf gestellt war. Deshalb müsste es eigentlich ein Leichtes gewesen sein, das Geschoss als eigene Rakete und nicht als russische Drohne zu identifizieren.

ZiF: Das heisst doch, dass bei diesem Vorfall vieles unklar und zum Teil auch widersprüchlich ist …

Harald Kujat: Der stellvertretende Verteidigungsminister von Belarus, Generalmajor Pawel Murawejko, hat in einer Erklärung zu dem Vorfall mit wichtigen Informationen für Klarheit gesorgt: «Während des nächtlichen gegenseitigen Schlagabtauschs mit Drohnen zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine wurden die Drohnen, die aufgrund der Auswirkungen der elektronischen Kampfführung der beiden Seiten vom Kurs abgekommen waren, von den diensthabenden Luftverteidigungskräften und -mitteln der Republik Belarus ständig verfolgt. Ein Teil der verirrten Drohnen wurde von den Luftabwehrkräften unseres Landes über dem Gebiet der Republik zerstört.

Über die vorhandenen Kommunikationskanäle tauschten unsere Einsatzkräfte und -mittel zwischen 23:00 Uhr am 9. September und 4:00 Uhr am 10. September Informationen über die Luft- und Radarsituation mit den Einsatzkräften und -mitteln Polens und der Republik Litauen aus. Damit wurden diese über die Annäherung unbekannter Fluggeräte an das Hoheitsgebiet ihrer Länder informiert.

Dies ermöglichte es der polnischen Seite, schnell auf die Aktionen der Drohnen zu reagieren und ihre Einsatzkräfte in die Luft zu schicken.

Der Fairness halber sei angemerkt, dass die polnische Seite auch die belarussischen Einsatzkräfte über die Annäherung unbekannter Fluggeräte aus dem Gebiet der Ukraine an die Grenze der Republik Belarus informiert hat.

Der Austausch von Informationen über die Luftlage ist ein wichtiger Bestandteil der Gewährleistung der Sicherheit in der Region insgesamt und trägt zur Vertrauensbildung und zur Stärkung der Sicherheit bei.»

Ich zitiere das Statement im Wortlaut, weil darüber in den westlichen Medien nicht berichtet wurde. Jedenfalls habe ich nichts gesehen. Ergänzen möchte ich Folgendes: Belarus und Russland haben eine gemeinsame Luftverteidigung. 

Das bedeutet, dass Russ­land nicht nur von dem engen Informationsaustausch zwischen der belarussischen und polnischen Luftverteidigung sowie der Information Litauens wusste, sondern dass es ohne die russische Billigung keine Zusammenarbeit gegeben hätte. Auch der Abschuss der Drohnen im Luftraum von Belarus wurde zweifellos vom russischen Anteil an der gemeinsamen Luftverteidigung mitentschieden. 

ZiF: Hat die offizielle Darstellung des Vorgangs etwas mit den Forderungen Selenskyjs nach präventiven Maßnahmen zu tun? Wird hier bewusst eskaliert und Russland Kriegshandlungen unterschoben, damit die NATO an der Seite der Ukraine mit in den Krieg eingreift? 

Harald Kujat: Richtig ist, dass es gegenwärtig eine Häufung von Fällen gibt, in denen Drohnen über NATO-Territorien auftauchen und Störungen des zivilen Luftverkehrs verursachen, wie beispielsweise in Dänemark. 

Es sollen auch bereits Hunderte von russischen Drohnen über Deutschland gesichtet worden sein, die unsere Verteidigungsfähigkeit aufklären und «vermessen». Selbstverständlich kann man nicht ausschließen, dass sich unter den gesichteten Drohnen auch russische Drohnen befinden, aber sicherlich nicht Hunderte. Es ist auch zu berücksichtigen, dass Russ­land über sehr leistungsfähige Aufklärungssysteme verfügt. 

Wer daraus eine hybride Bedrohung, wenn nicht sogar eine hybride Kriegsführung konstatiert, übersieht, dass hybride Kriegführung per definitionem eine Mischform aus militärischen Operationen und dem Einsatz nicht-militärischer Mittel ist. Es sei denn, wir befänden uns bereits in einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland. 

Bisher ist jedoch nur die NATO-Ostflanke durch Jagdflugzeuge verstärkt worden, unter anderem  auch von Deutschland. Obwohl auch weitergehende Forderungen wie die nach einer Flugverbotszone in der West-Ukraine laut werden. Und nach der angeblichen Verletzung estnischen Luftraums durch drei russische MIG-31-Kampf­flugzeuge wurde für derartige Fälle sogar der Abschuss gefordert.

Am Anfang des Krieges gab es bereits die Forderung nach einer Flugverbotszone. Das wurde abgelehnt, weil der Abschuss russischer Kampfflugzeuge durch Flugzeuge von NATO-Staaten als aktive Kriegsbeteiligung an der Seite der Ukraine gewertet wurde.

ZiF: Die Frage taucht immer wieder auf, ob die NATO in diesen Krieg eingreifen soll oder nicht.

Harald Kujat: Seit Beginn des Krieges hat die Ukraine immer wieder versucht, Situationen zu schaffen, die das erzwingen sollten, wie zum Beispiel die Angriffe auf Kernkraftwerke, auf das interkontinentalstrategische Frühwarnsystem oder die strategische Bomberflotte Russ­lands. Der ehemalige polnische Präsident, Andrzej Duda, hat in einem Interview des polnischen Magazins Do Rzeczy am 3. September bestätigt, dass dies immer die Absicht der Ukraine war. Am 15. November 2022 schlug eine ukrainische Patriot-Rakete auf polnischem Boden ein, die vom Kurs abgekommen war. 

Auf die Frage, ob man sagen könne, dass Selenskyj Druck ausgeübt hat, damit Polen sofort erklärt, es handele sich um eine russische Rakete, antwortete Duda: «Das kann man so sagen.» Und auf die weitere Frage, ob er das nicht als einen Versuch gesehen habe, Polen in den Krieg hineinzuziehen, bestätigte dies der ehemalige polnische Präsident: «So habe ich es wahrgenommen.» Er fuhr fort: «Sie versuchen von Anfang an, alle in den Krieg hineinzuziehen. Das ist offensichtlich, es liegt in ihrem Interesse, und am besten wäre es, wenn es ihnen gelingt, NATO-Staaten in den Krieg zu ziehen. 

Es ist offensichtlich, dass sie nach denen suchen, die aktiv an ihrer Seite gegen die Russen kämpfen würden. Das geschieht seit dem ersten Tag.» Der ukrainische Präsident lässt nichts unversucht, die europäischen Staaten mit immer neuen Vorstössen in den Krieg hineinzuziehen und ihn auf diese Weise auf ganz Europa auszudehnen. 

Auf dem bereits erwähnten Sicherheitsforum in Warschau schlug Selenskyj den Europäern den Aufbau eines gemeinsamen Luftverteidigungssystems vor: «Die Ukraine schlägt Polen und all unseren Partnern vor, einen gemeinsamen, absolut zuverlässigen Schild gegen die russische Bedrohung aus der Luft zu errichten.» Es ist nicht bekannt, wie dies von den anwesenden Politikern aufgenommen wurde.

ZiF: Sie erwähnten den Zwischenfall, bei dem drei MIG-31 in den Luftraum eingedrungen sind und unter anderem auch deutsche Politiker in diesen Fällen den Abschuss verlangt haben.

Harald Kujat: Es ist richtig, dass dies auch von deutschen Politikern gefordert und in den Medien ausführlich diskutiert wurde, ohne den genauen Sachverhalt, die rechtlichen Aspekte sowie die dadurch ausgelösten Kriegsgefahren in verantwortungsvoller Weise zu berücksichtigen.

Am 19. September sind nach estnischen Angaben drei MIG 31-Kampfflugzeuge in den estnischen Luftraum eingedrungen und haben sich dort zwölf Minuten aufgehalten. Die russischen Flugzeuge befanden sich auf einem Überführungsflug nach Kaliningrad. 

Russland hat bestritten, dass russische Kampfflugzeuge den Luftraum Estlands verletzt hätten. Die Flugroute habe über neutrale Gewässer mehr als drei Kilometer nördlich der estnischen Insel Vaindloo geführt.

Die vom estnischen Verteidigungsministerium veröffentlichte Karte bestätigt, dass die Flugzeuge nicht in Richtung Estland, sondern auf geradem Weg Richtung Kaliningrad flogen. Der Finnische Meerbusen ist ungefähr zwischen 120 und 50 Kilometer breit. Da er größtenteils durch die Hoheitsgewässer der Anrainerstaaten abgedeckt wird, verbleibt im mittleren Korridor zwischen Finnland und Estland ein schmaler Streifen als internationale Transitzone von nur etwa drei Seemeilen (rund 5,6 Kilometer). 

Estland nimmt jedoch offenbar Rücksicht auf die estnische Insel Vaindloo und schränkt so den internationalen Luftraum ein. Hinzu kommen Unsicherheiten über den genauen Verlauf der Grenzen der Territorialgewässer. Estland und Russland haben 2014 eine Seerechtsvereinbarung («Maritime Delimination Treaty») über die Seerechtsgrenzen geschlossen, die jedoch noch nicht vollständig in Kraft getreten ist. Deshalb wäre es sinnvoll gewesen, den Vorfall zunächst in Konsultationen der beiden Staaten aufzuklären.

Offenbar haben die am Air Policing beteiligten NATO-Piloten die Vorschriften des «Chicagoer Abkommens» über Abfang- und Identifizierungsmaßnahmen angewendet und die russischen Piloten haben entsprechend reagiert. Eine Angriffsabsicht, die einen Abschuss als Selbstverteidigung gerechtfertigt hätte, wird von Estland nicht behauptet. 

In derartigen Fällen gilt das Gewaltverbot nach Art. 2 Abs. 4 der Uno-Charta. Die Forderung, ein Flugzeug abzuschießen, das in den Luftraum eines anderen Staates einfliegt, wenn es sich nicht eindeutig um einen bewaffneten Angriff handelt, ist deshalb völkerrechtswidrig. Gemäss § 80a StGB in Verbindung mit § 13 Abs. 4, Ziff. 4 VStGB und Art. 26 Abs. 1 GG ist eine öffentliche Aufforderung zum Abschuss strafbar. 

ZiF: Wo soll das enden? Kommen wir noch auf die Kriegführung der Russen zu sprechen. In unseren Medien, deren manipulative Berichterstattung bekannt ist, liest man immer wieder, dass Russland nur langsam vorankomme. Das liege an der Schwäche der russischen Armee. Nun hat sogar Präsident Trump geäussert, die Ukraine sei in der Lage, die von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern.

Harald Kujat: Im Gegensatz zu seiner bisherigen Position, die Ukraine müsse für einen Friedensvertrag mit Russ­land Territorium aufgeben, schrieb Trump auf seiner Plattform «Truth Social»: «Ich denke, dass die Ukraine mit Unterstützung der Europäischen Union in der Lage ist, die gesamte Ukraine in ihrer ursprünglichen Form zurückzugewinnen.» Ausserdem bescheinigte er Russ­land «große» wirtschaftliche Probleme.

Trump warnte, dass seine Geduld «schnell zu Ende geht». Er sagte an anderer Stelle in Bezug auf Verhandlungen: «Es ist erstaunlich. Als Putin es tun wollte, wollte Selenskyj es nicht. Als Selenskyj es tun wollte, wollte Putin es nicht. Jetzt will Selenskyj es, und Putin ist ein Fragezeichen. Wir müssen sehr, sehr hart durchgreifen.»

Trump hat seine Meinung mehrfach geändert und wird das auch künftig tun. Aus seinen Worten spricht eine gehörige Portion Frustration, und zugleich ist es der Versuch, Druck auf Russland auszuüben. Für den gegenwärtigen Stillstand in den Friedensbemühungen ist jedoch die Verhärtung der Positionen beider Kriegsparteien verantwortlich. 

Außenminister Rubio sprach, anders als Trump, nach einem bilateralen Treffen mit dem russischen Außenminister Lawrow davon, dass der Krieg auf diplomatischem Wege beendet werden muss. Russ­land hat der Ukraine am 2. Juni ein Memorandum übergeben, in dem es seine Position zu einem Waffenstillstand und zu Friedensverhandlungen dargelegt hat. 

Russland hatte die Ukraine aufgefordert, in den letzten Verhandlungsrunden in Istanbul darüber zu sprechen. Selenskyj war jedoch nur bereit, über einen Gefangenenaustausch und über die Kinder, die nach Russ­land gebracht wurden, zu reden. Die Initiative für Verhandlungen ist also von Russ­land ausgegangen. Auch im Hinblick auf ein mögliches Treffen zwischen Selenskyj und Putin oder ein Dreiertreffen mit Trump haben beide Seiten Hürden aufgebaut. 

Die Russen haben gesagt, das Treffen müsse sorgfältig vorbereitet werden, mit einer Tagesordnung und einem Verhandlungsvorlauf auf möglichst hoher Ebene. So verliefen auch die Verhandlungen im März und im April 2022 in Istanbul. Die Ukraine kündigte an, Einzelheiten für die Sicherheitsgarantien ausarbeiten zu wollen, die vor dem Treffen der Präsidenten von Russland akzeptiert werden müssten. Das sind Hindernisse, die nur sehr schwer zu überwinden sind. 

ZiF: Und wie sehen Sie Trumps Äußerung zu der militärischen Stärke Russlands und der Kriegsführung?

Harald Kujat: Trump sagte dies unmittelbar nach seinem Gespräch mit Selenskyj. Und es klingt so, als handelte es sich um Selenskyjs Worte. Ich halte das für realitätsfern, ja geradezu für absurd. Zumal die USA sich aus diesem Stellvertreterkrieg zurückziehen und die Verantwortung für die weitere Unterstützung der Ukraine und damit auch für eine militärische Niederlage von den Europäern zu tragen ist. Der Stellvertreterkrieg Russ­land-USA wird zu einem Stellvertreterkrieg Russland-Europa. 

Ich erinnere an die große ukrainische Sommeroffensive 2023, als die ukrainischen Streitkräfte noch zu einer zusammenhängenden Operationsführung in der Lage waren. Daran haben zwölf kampfstarke Brigaden teilgenommen, die von NATO-Staaten für diese Offensive ausgebildet und modern ausgerüstet wurden. 

Der Operationsplan war ebenfalls von NATO-Offizieren erarbeitet worden. Trotzdem ist die Offensive mit großen ukrainischen Verlusten gescheitert. Die Wahrheit ist, dass die ukrainischen Streitkräfte zu keiner Zeit fähig waren, die strategische Lage zu ihren Gunsten zu wenden und diese Fähigkeit auch in Zukunft nicht erlangen werden.

ZiF: Sie waren nach dem Treffen in Anchorage optimistisch, dass es Fortschritte auf dem Weg zu Friedensverhandlungen gibt. Sind Sie das immer noch angesichts des gegenwärtigen Stillstands und der Meinungsänderung Trumps?

Harald Kujat: Es stimmt, ich war davon überzeugt, dass sich Fortschritte einstellen würden, nachdem Trump Putin wieder auf die Weltbühne zurückgeholt hatte und der Diplomatie wieder den Vorrang vor der ziellosen Fortsetzung des Kriegs gab. Die Gründe für den gegenwärtigen Stillstand habe ich erklärt. Allerdings bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass Putin den Krieg mit einem Friedensvertrag beenden will und Trump seine Vermittlerrolle nicht aufgeben wird. Darin fühle ich mich durch die jüngste Entwicklung bestätigt. 

Der weißrussische Präsident Lukaschenko erklärte am 26. September nach einem Gespräch mit Putin, der russische Präsident werde einen «sehr guten Vorschlag» zur Beendigung des Krieges bekannt geben, der von den USA unterstützt werde. Es sei «ein guter Vorschlag für die Ukraine, ein sehr guter Vorschlag». Zugleich warnte Lukaschenko jedoch vor den Folgen, falls die Ukraine den Vorschlag nicht akzeptiere. 

Es darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass Trump Lukaschenko in den letzten Wochen angerufen und ihn als «hoch angesehenen» Führer bezeichnet hat.

ZiF: Was bedeutet diese Perspektive für die Ukraine? 

Harald Kujat: Lukaschenko sagte: «Um nicht die gesamte Ukraine zu verlieren, muss Selenskyj nicht nur verhandeln, sondern auch günstigen Bedingungen zustimmen, Bedingungen, die größtenteils von den Amerikanern gebilligt werden.» 

Die Tragik der Ukraine besteht darin, dass sie während des gesamten Krieges immer wieder an eine Wegscheide kam, wo sie den Weg des Friedens hätte einschlagen können, aber die Chance nicht nutzte. Nun könnte sich eine neue Gelegenheit ergeben, das Leid der Menschen und die Zerstörung des Landes zu beenden – vielleicht die letzte.

ZiF: und für die Europäer?

Harald Kujat: Die Europäer machen im Grunde genommen bis heute das, was sie dreieinhalb Jahre gemacht haben. Sie tun alles – auch zum Nachteil ihrer Bürger und unter Vernachlässigung der Gefahren für ihr Land – damit der Krieg weiter geht. Das endet in einer militärischen Niederlage der Ukraine, falls es nicht vorher zu Verhandlungen kommt. 

Die europäischen Regierungen sollten deshalb nicht noch einmal den Zug in Richtung Frieden verpassen. Sie könnten in einer Fortsetzung des Krieges als Stellvertreterkrieg Europa-Russ­land nicht bestehen. Die Gefahr der Ausweitung des Ukraine-Kriegs zu einem großen europäischen Krieg darf nicht länger verdrängt werden. 

Nur eine Friedensregelung, die den Interessen der Ukraine und Russlands entspricht und für die USA wie für Eu­ropa annehmbar ist, schafft die Voraussetzungen für eine gerechte und dauerhafte europäische Sicherheits- und Friedensordnung. Ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung dabei eine konstruktive Rolle übernimmt, denn das Grundgesetz ist eine Friedensverfassung und maßgeblich für das Handeln eines jeden Politikers.

ZiF: Herr General Kujat, vielen Dank für das Gespräch.

(Red.) Die Fragen stellte Thomas Kaiser. Zum Originalartikel in der Zeitschrift «Zeitgeschehen im Fokus» hier anklicken.

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