Fast alle Menschen auf der Welt möchten nichts Anderes als Frieden. Es sind fast immer die machtpolitischen Interessen und Interventionen der Politikerinnen und Politiker, die zu Kriegen führen. Europa wird schon bald auch von internen Unruhen unter Druck geraten. (Symbolbild)

Die Ukraine und die außenpolitische Krise des Westens

Keine Rückkehr zum „Business as usual“ hatte die Devise westlicher Außenpolitik nach der Integration – nach westlicher Lesart Annexion – der Krim in die Russische Föderation im Jahr 2014 geheißen. Seit dem 24. Februar änderte sich dies zum „No Business at all“ und der Westen droht jedem Staat und auch Individuen mit Sanktionen, welche trotzdem noch Beziehungen zu Russland pflegen. Die Ereignisse der letzten Monate lassen aber Zweifel aufkommen, ob es dem Westen gelingen wird, der Welt seine Auffassungen aufzuzwingen. Die Bedeutung namentlich Westeuropas schwindet; es wird lernen müssen, mit dem ungeliebten Nachbarn im Osten leben zu lernen.

Die außenpolitisch-diplomatischen und wirtschaftlichen Kampfinstrumente des Westens erwiesen sich im Kampf gegen Russland als zu wenig wirksam. Dazu kommt, dass viele Staaten den Führungsanspruch, den gerade US-Präsident Joe Biden im Wahlkampf erhoben hatte, ablehnen. Nach drei Jahrzehnten, in welchen der Westen jeden missliebigen Staat zum „Rogue State“ – zum Schurkenstaat – erklären und bestrafen zu können glaubte, regt sich Widerstand. Der Ruf nach der multipolaren Welt ist die Antwort auf die Dominanz des Westens seit dem Zerfall der Sowjetunion.

Der Westen in Argumentationsnöten

Zur Empörung des Westens über die russische Intervention in der Ukraine mag die Tatsache beigetragen haben, dass die russische Seite im Fall der Krim und des Donbass die gleichen Argumente vorbrachte, mit denen der Westen seine diversen Interventionen in den vergangenen drei Jahrzehnten begründet hatte: Teil dieser Argumentation ist der Hinweis auf das Recht auf Sezession der russischsprachigen Bevölkerung im Süden und Osten der Ukraine versus jenes der Kosovo-Albaner im ehemaligen Jugoslawien (1). Dazu kommt der Begriff der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) bzw. der humanitären Intervention, die ebenfalls im Zusammenhang mit dem Kosovo, aber auch mit der westlichen Intervention in Libyen bemüht worden war (2). 

Zur Argumentationsschwäche des Westens trägt bei, dass sich im Fall Serbiens 1999 und des Irak 2003 die vorgebrachten Begründungen für die kriegerische Intervention nachträglich als haltlos erwiesen. Die Existenz des „Hufeisenplans“ ist und bleibt umstritten und die These der irakischen Massenvernichtungswaffen erwies sich als Lüge (3). Auch im Bereich der Sicherheit erhielt der Westen einen Spiegel vorgesetzt. Russland argumentiert seit dem Februar dieses Jahres mit einem präemptiven Angriff auf die Ukraine, der durch die bevorstehenden ukrainischen Schläge gegen die abtrünnigen Volksrepubliken in Donetsk und Lugansk notwendig geworden sei. Der Begriff des präemptiven Angriffs war 2002 vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush vor dem Kongress erstmals gebraucht worden. Seinen Widerstand gegen die NATO-Osterweiterung begründete Moskau stets mit dem Hinweis auf die Unteilbarkeit der Sicherheit, welche in der Schlussakte von Helsinki verankert ist (4). Der Westen lehnt all diese Argumente Russlands natürlich ab: Die Ereignisse seien nicht miteinander zu vergleichen. Das mag manchem im Westen genügen. Vertreter einer egalitären Auffassung von Völkerrecht sind aber eher geneigt, sich der russischen Sichtweise anzuschließen. Dazu gehören insbesondere jene Länder, die schon Opfer westlicher Interventionen wurden oder sich bedroht fühlen. Es kann hier nicht darum gehen, die Argumentationsketten der Streitparteien zu kommentieren oder gar zu bewerten. Wer heute wem glaubt, ist wohl oftmals eher Resultat von ideologisch gefärbten Überzeugungen und weniger von nüchterner Analyse der Fakten. 

Schon zum zehnten Mal führte die russische Regierung Mitte August in Moskau ihre traditionelle Sicherheitskonferenz durch, die natürlich im Schatten des Krieges in der Ukraine stand. Die Karte der Herkunft der Sprecher an dieser Konferenz spricht Bände (5): Die Mehrheit der Staaten Asiens und Lateinamerikas nahmen teil, sowie die Hälfte der afrikanischen Länder. Interessant ist die Teilnahme einiger Länder Westeuropas, obwohl die amerikanische Seite bestimmt wie schon in früheren Jahren alles unternahm, um eine solche zu verhindern. Umso bemerkenswerter ist der rege Besuch von Vertretern aus aller Welt in einer Zeit der aktiven Kriegführung Russlands. Russland ist und bleibt relevant für die Weltpolitik und auch Länder, die das russische Vorgehen in der Ukraine nicht in jeder Beziehung gutheißen, möchten mit Moskau in Kontakt bleiben. Der Westen und speziell Europa hingegen verlieren an Relevanz. Damit stellt sich für Russland ganz grundsätzlich die Frage, weshalb es sich dem Willen von einem Europa unterordnen solle, dessen Bedeutung am Schwinden ist.

Wirtschaft und Geoökonomie

Im Jahr 2015 zeigte der damalige deutsche Verteidigungsattaché in Russland, Brigadegeneral Schwalb, an einem Seminar am George C. Marshall Center das Bild eines Bärenfells an der Wand und bemerkte dazu, der Westen könne Russland mit wirtschaftlichen Mitteln in kürzester Zeit an die Wand nageln (6). Sieben Jahre später ist seine Prognose noch immer nicht eingetroffen. Es war wohl auch derselbe Glaube an die absolute wirtschaftliche Überlegenheit des Westens, der bis in den Februar dieses Jahres hinein zur Prognose führte, Russland werde die Ukraine nicht angreifen. In Bezug auf die Wirksamkeit der Geoökonomie hat sich der Westen in den vergangenen Jahren massiv überschätzt.

Angesichts der enormen wirtschaftlichen Kosten und des politischen Risikos eines Kriegs sollte gemäß den Theorien des Edward N. Luttwak Geoökonomie die klassische Kriegführung ersetzen (7). Die Führung einer erfolgversprechenden geoökonomischen Strategie bedingt eine starke und relevante Wirtschaft als Basis. Russlands Wirtschaft verfügte bisher offenbar über die Größe und Relevanz, um westlicher Geoökonomie zu widerstehen. Der Wunsch eines Akteurs, seine wirtschaftliche Basis zu erweitern, kann zum Einbezug bisher unbeteiligter Staaten in einen Konflikt führen – auch der Schweiz als einem der großen Akteure in der Weltwirtschaft. Westliche Kommentatoren freuten sich im vergangenen März nur kurz über den Wertzerfall des russischen Rubel (8). Offenbar hat die russische Zentralbank danach sehr effektiv interveniert und den Rubel rasch stabilisiert. Auch die angebliche wirtschaftliche Atombombe, d.h. der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System, hat nicht zum Kollaps des russischen Wirtschafts- und Finanzsystems geführt

Im Fall Russlands führten die Mittel der wirtschaftlichen und politischen Sanktionen nicht den gewünschten Erfolg herbei. Sollte es inskünftig zu weiteren Konflikten mit Ländern kommen, welche sich der Unterstützung Russlands, Chinas oder anderer Underdogs der Weltpolitik erfreuen, wird der Westen früher als bisher auf militärische Mittel zurückgreifen müssen. Der Abstieg des Westens wird von Gewalt begleitet werden.

Krise im Russland der Neunzigerjahre

Oft hört man die Vermutung, Wladimir Putin wolle die Sowjetunion wiederherstellen. Für breite Kreise der russischen Gesellschaft ist die Rückkehr zum Kommunismus sicherlich keine Option. Die Kommunistische Partei Russlands bringt keine Mehrheiten zustande und ihr Elektorat altert. Aber auch eine Rückkehr zum Raubtier-Kapitalismus, wie er zu Zeiten des liberalen Experiments unter der Führung Boris Jelzins praktiziert wurde, ist keine Option. Zu lebendig ist noch die Erinnerung an die Rubelkrise, als die dramatische Abwertung des Rubel viele Menschen um die Ersparnisse eines Arbeitslebens brachte. Das ging nicht nur vielen Menschen in Russland so, sondern auch in der Ukraine und anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Die Gallionsfiguren des liberalen Experiments, die unter der Bezeichnung „Junge Reformer“ bekannt wurden, sind heute in Russland unpopulär. Dazu gehörten Jegor Gaidar, Boris Nemzov, Sergej Kirijenko, Anatoli Tschubais und andere (9). 

Wer sich nicht dessen bewusst ist, was in den Neunzigerjahren in Russland geschah, wird das heutige Russland nicht begreifen. Eine Generation, welche die katastrophalen Neunzigerjahre in Erinnerung hat, wird jeden erdenklichen Widerstand dagegen leisten, dass Russland wieder zu dem gemacht wird, was es in den Neunzigerjahren war: Ein Land, das seine Rohstoffe um einen Spottpreis hergibt und dazu gleich auch noch die entsprechenden Produktionsbetriebe, das aber ansonsten in der internationalen Politik nichts zu melden hat. Deshalb war es das Ungeschickteste, was der ehemalige Oberkommandierende der US-Streitkräfte in Europa, General Ben Hodges, sagen konnte, als er anlässlich einer Veranstaltung der OSZE in Wien erklärte, er wünsche sich eine Zusammenarbeit mit Russland wie in den Neunzigerjahren (10). Diese Form der Zusammenarbeit wird nicht mehr akzeptiert werden. 

Heute schmerzt es viele Menschen in der ehemaligen Sowjetunion, dass nun Russen gegen Ukrainer kämpfen, Aserbaidschaner gegen Armenier, Tadschiken gegen Kirgisen, u.a.m. Genau im Hinblick auf ungelöste Konflikte in diesem Raum war 1991 die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten gegründet worden, die heute aber leider ein Mauerblümchendasein fristet, als Station für die Endverwendung altgedienter Diplomaten. Europa aber hat sich in einen Konflikt gestürzt mit einem Land, das fest entschlossen ist, sich nicht nochmals unterzuordnen. Ein neuer modus vivendi muss gefunden werden.

Gespaltene Wertegemeinschaft Europa

Die Wertegemeinschaft, als die Europa sich selbst sieht, ist gespalten und die EU wird es schwer haben, Geschlossenheit zu wahren. Gerade in Fragen des Gender Mainstreaming besteht ein ausgeprägtes Ost-West-Gefälle: Einige Staaten Osteuropas sind nicht ohne weiters bereit, diesen Trend mitzumachen (11). Damit kehren sich die ideologischen Verhältnisse des Kalten Kriegs um: War damals Kommunismus nach sowjetischer Art keine Option für die westeuropäischen Länder, so tendiert die Öffentlichkeit mehrerer westlicher Länder eher zur Ideologie des angeblichen Gegners Russland. In mehreren Ländern Osteuropas sind die „neuen Werte“ nämlich ebenso wenig ein Thema wie in Russland. Mit einer aggressiven Förderung ihrer LGBTI+-Ideologie könnten die Eiferer aus West- und Nordeuropa Regierungen in Osteuropa zu einer eindeutigen Stellungnahme zwingen und ihre eigene Wertegemeinschaft spalten. 

Europa hat den Fehdehandschuh einer Gesellschaft zugeworfen, die fest entschlossen ist, ihren Way of Life zu bewahren. Dazu kommt, dass man in Russland die Europäer für unfähig hält, ihre Werte zu verteidigen. Andererseits ist Russland kein GULAG mehr, wie zu Zeiten der Repression Stalins. Russische Bürger können frei ein- und ausreisen. Jährlich immigrieren 1 Mio. Menschen mehr nach Russland, als emigrieren (12). Das schafft einerseits ein gesellschaftliches Ventil und zeigt andererseits, dass das Leben in Russland nicht so furchtbar ist, wie man uns zuweilen weismachen will. 

Russlands geostrategischer Nachteil

Die globale Bedeutung russischer Landwirtschaft ist im Zuge des Ukraine-Konflikts deutlich zum Vorschein gekommen. Landwirtschaftlich nutzbar ist in Russland das Dreieck St. Petersburg – Irkutsk – Rostow-am-Don. Damit fällt auch die Verteilung der Bevölkerung in Russland zusammen: Über 80% Bevölkerung Russlands leben im europäischen Teil des Landes, namentlich im Viereck St. Petersburg – Jekaterinburg – Tscheljabinsk – Rostow-am-Don (13). Das Gros der Bevölkerung Sibiriens lebt an dessen Südrand.

Und genau in der Osteuropäischen Ebene liegt die offene Tür zum russischen Territorium. Die meisten anderen Grenzregionen eignen sich nicht für den Einsatz starker konventioneller Kräftegruppierungen. Zugänglich ist das russische Territorium eigentlich nur im Baltikum und in der osteuropäischen Ebene. Eine zweite offene Türe liegt in Fernost: Östlich der sogenannten Heihe-Tengchong-Linie in China wären die Ressourcen für einen Angriff auf russisches Territorium vorhanden. Wer aber würde Russland helfen, seinen Fernen Osten zu verteidigen, wenn es auf Konfrontationskurs mit China ginge? Russland ist sich dessen wohl bewusst, dass es geostrategisch im Nachteil ist. Das latente Gefühl der Bedrohung, das die politische Elite Russlands hegt, rührt von diesem Nachteil her. 

Neuordnung in Osteuropa

Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit ihrer Teilrepubliken fanden sich nach 1991 schlagartig Millionen von Menschen in einem Land wieder, dessen Amtssprache sie nicht beherrschten und bekamen Pässe eines Staats, für den sie wenig übrighatten. Dieses Problem blieb bis heute ungelöst. Immerhin haben es Kasachstan und Belarus geschafft, zwei Amtssprachen anzuerkennen. Russland und Kasachstan sind die einzigen Länder der ehemaligen Sowjetunion, die sich als Vielvölkerreich betrachten. Alle anderen betreiben eine mehr oder weniger ausgeprägte Politik des Nationalismus. Der Konflikt in der Ukraine könnte sich leicht anderswo wiederholen.

Eigentlich wäre es wohl auch im Fall der Ukraine keine unannehmbare Forderung gewesen, Russisch als zweite Amtssprache einzuführen. Auch Belgien, Finnland, Irland, Luxemburg und die Schweiz verwenden mehrere Amtssprachen, ohne dass deshalb die staatliche Einheit gefährdet wäre. Eine Mehrheit der Mitgliedsländer der EU ist aber einsprachig und viele davon bekundeten in der Vergangenheit Mühe mit nationalen Minderheiten (14). Die EU hat bisher herzlich wenig getan, um die Rechte der russischen Minderheit in den baltischen Republiken zu schützen (15). Die sprachliche Selbstbestimmung der russischsprachigen Gebiete im Osten der Ukraine, wie sie im Minsker Maßnahmenpaket formuliert war, wurde deshalb in acht Jahren nie umgesetzt.

Eine weitere Bestimmung, an welcher die Umsetzung der Minsker Abkommen scheiterte, war der Artikel über die Föderalisierung des Landes. Dieser Begriff wurde von ukrainischen Politikern und Oligarchen als Freipass für die Etablierung von Kleinkönigreichen interpretiert. Rund um den Oligarchen Rinat Achmetow mag man frohlockt haben, nun werde der Donbass ein solches Reich werden, und Ihor Kolomojskyj hatte wohl für seine Heimatstadt Dnipro/Dnjepropetrowsk ähnliche Absichten. In Dnipro sind er und sein Statthalter Gennadyi Korban mögliche Kandidaten für den Thron, in Charkow Evgeniy Muraev und Vadim Rabinovich. Das sind möglicherweise Persönlichkeiten, welche die Oblaste Dnipro und Charkow mittelfristig auf Sezessionskurs bringen. 

Insgesamt wird die Ukraine aus dem aktuellen Krieg als finanziell, wirtschaftlich, demographisch und infrastrukturell geschwächter Staat hervorgehen. Das war wohl eine der Zielsetzungen des Kriegs insgesamt und Hintergrund der Aussage des russischen Staatspräsidenten Putin, es gehe darum, die militärische Sicherheit Russlands über eine Frist von zwei bis drei Generationen zu gewährleisten. 

Waffenhandel und Stabilität

Was Korruption und Waffenhandel betrifft, sind die Berichte, wonach 60 bis 70% der aus dem Westen gelieferten Waffen im Sumpf ukrainischer Korruption verschwinden, wohl glaubwürdig. Im September 2014 ließ der damalige Innenminister Arsen Awakow eine Delegation der OSZE in Kiew regelrecht „auflaufen“ (16). Damals war die OSZE besorgt über die unkontrollierte Abgabe von Waffen aus allen möglichen Depots an die neu entstandenen Freiwilligen-Formationen der Ukraine und bot der ukrainischen Regierung eine Software zur Registration dieser Waffen an. Diese hatte sich in anderen Ländern schon bewährt, aber das ukrainische Innenministerium zeigte kein Interesse daran. Über die Gründe hierfür lässt sich trefflich spekulieren. Damals „kauften“ die im Aufbau befindlichen Freiwilligen-Bataillone ihre Ausrüstung. Die zahlreichen westlichen Uniformteile, die man in jenen Jahren im Osten der Ukraine beobachten konnte, waren nur ein Teil davon. Die mangelnde Kontrolle von Waffen war damals vielleicht gar nicht ungewollt. Nun strömten in den vergangenen Monaten Waffen und Munition in bisher ungeahntem Ausmaß in die Ukraine und es ist zu befürchten, dass über deren Verbleib kaum Kontrolle besteht. Heute geht es aber nicht mehr nur um Handfeuerwaffen, sondern um schwere Waffen gegen Panzer und Flugzeuge. Europa könnte sehr bald Attentate erleben, die mit westlichen Kriegswaffen ausgeführt werden. Politische Extremisten und die Organisierte Kriminalität können solche in naher Zukunft für ihre Zwecke nutzen und die gesamte Osthälfte Europas destabilisieren. Den Preis dieser fahrlässigen Politik werden die Länder Osteuropas zu zahlen haben.

Fazit

Heute kann der Westen andere Länder nicht mehr überzeugen und wohl auch nicht mehr zwingen, seine Auffassungen zu übernehmen. Seine Geschlossenheit kann der Block derzeit nur noch durch Angstmache vor Russland wahren. In Russland besteht auf der anderen Seite ein gewisser Konsens, sich dem Westen, der ohnehin kein großes Ansehen genießt, nicht erneut unterzuordnen. Eine Kehrtwende russischer Politik ist derzeit nicht in Aussicht. Ob die EU den Wiederaufbau der Ukraine, die Entwicklung Osteuropas und eine Welle der Aufrüstung finanzieren kann, ist noch ungewiss. Die aktuelle wirtschaftliche Lage lässt daran zweifeln.

Westliche Geopolitik wird Russland in den kommenden Jahren, vielleicht Jahrzehnten dazu zwingen, seine Nachbarn in Osteuropa zu destabilisieren, damit dort keine solide Basis für einen Angriff aus Russland entstehen kann. Mit der nach wie vor grassierenden Korruption bestehen in Osteuropa günstige Voraussetzungen für dieses Vorhaben, und in Form der zahlreich vorhandenen Waffen auch die Mittel. Russland ist in der internationalen Staatengemeinschaft gut genug vernetzt, um sich eine aggressive Politik gegenüber Europa erlauben zu können und wird auch durch Sanktionen kaum mehr davon abzuhalten sein. Gleichzeitig wird westliche Außenpolitik aggressiver, beinahe militaristisch auftreten. 

Die Ukraine und die Hardliner im Westen werden die Suche nach einem modus vivendi mit Russland behindern. Dessen Ausgestaltung wird der Westen aber nicht diktieren können. 

Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Originalartikel auf BKOSOFT.CH hier anklicken.

Zum Autor: Ralph Bosshard studierte Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte, absolvierte die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee und arbeitete 25 Jahre als Berufsoffizier (Instruktor). Er absolvierte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau sowie eine Ausbildung an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee. Mit der Lage in Osteuropa und Zentralasien ist er aus seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE vertraut, in der er als Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz und Operationsoffizier in der Hochrangigen Planungsgruppe tätig war.

Zur Selbstzerstörung Europas siehe insbesondere auch den Beitrag von Peter Vonnahme, hier anklicken. Und auch die brillante Analyse von Jens Berger auf den NachDenkSeiten, hier anklicken.

Anmerkungen:

  1. Vgl. hierzu Hans Rudolf FuhrerWas war der Auslöser der russischen «Spezialoperation»? Ukrainischer Angriffsplan oder russischer Imperialismus?, bei Zeit Fragen, 19/20, 20.09.2022, online unter https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2022/nr-19/20-20-september-2022/was-war-der-ausloeser-der-russischen-spezialoperation.
  2. Siehe die Homepage der Global Center for the Responsibility to Protect, online unter https://www.globalr2p.org/what-is-r2p/#:~:text=The%20Responsibility%20to%20Protect%20%E2%80%93%20known,cleansing%20and%20crimes%20against%20humanity. Zum Thema allgemein siehe Christian SchallerGibt es eine „Responsibility to Protect“?, bei Bundeszentrale für politische Bildung, 31.10.2008, online unter https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30862/gibt-es-eine-responsibility-to-protect/.
  3. Siehe stellvertretend für die zahlreichen Publikationen dazu insbesondere Serge HalimiPierre RimbertDas Märchen vom Hufeisenplan, bei Le Monde diplomatique, 11.04.2019, online unter https://monde-diplomatique.de/artikel/!5584546 und 20 Jahre Nato-Angriff auf Serbien, örtlich gebombt bei TAZ, 24.03.2019, online unter https://taz.de/20-Jahre-Nato-Angriff-auf-Serbien/!5579713/. Zur Lüge des damaligen US-Außenministers Colin Powell im UN-Sicherheitsrat: Christoph BurgmerAuf Lügen gebaut, bei Deutschlandfunk 05.02.2013, online unter https://www.deutschlandfunk.de/auf-luegen-gebaut-100.htmlRieke HavertzDieser eine Moment, bei: Zeit online, 18.10.2021, online unter https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-10/colin-powell-tod-ehemaliger-us-aussenminister-nachruf-weisses-haekchen-augen-erhobene-haendeKatta KottraLügen im Irakkrieg, Die langen Nasen von Powell & Co, bei Süddeutsche Zeitung, 18.03.2008, online unter https://www.sueddeutsche.de/politik/luegen-im-irakkrieg-die-langen-nasen-von-powell-co-1.264076.
  4. Die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von Helsinki 1975 ist online verfügbar unter https://www.osce.org/files/f/documents/6/e/39503.pdf.
  5. Vgl. die Liste der Sprecher auf der Homepage des russischen Verteidigungsministeriums online unter https://eng.mil.ru/en/mcis/speeches.htm.
  6. An jenem Seminar nahm der Verfasser teil.
  7. Zu Luttwak und Geoökonomie siehe: From Geopolitics to Geo-Economics, Logic of Conflict, Grammar of Commerce, 1990, in: THE NATIONAL INTEREST 20, 1990, S. 17–23, eingeschränkte Vorschau unter https://www.jstor.org/stable/42894676.
  8. Vgl. die Abbildung dazu auf https://www.finanzen.ch/devisen/chart/us_dollar-russischer_rubel-kurs.
  9. Vgl. dazu stellvertretend für die zahlreichen Publikationen Christian SteinerAls Russland die schwerste Krise seit dem Ende der Sowjetunion erlebte, bei: Neue Zürcher Zeitung, 17.08.2018, online unter https://www.nzz.ch/wirtschaft/als-der-rubel-nicht-mehr-rollte-ld.1412034?reduced=true.
  10. Dabei war der Verfasser anwesend.
  11. Vgl. Pew Research CenterEuropean Public Opinion Three Decades After the Fall of Communism, 15.10.2019, S. 5, online unter http://docs.dpaq.de/15433-pew_research_center_europe_report_embargoed.pdf.
  12. Siehe die Abbildung unter: https://www.statista.com/statistics/1009483/emigration-and-immigration-russia/.
  13. Quelle: Rosinfostat: Плотность населения России по регионам и городам на квадратный километр, online unter https://rosinfostat.ru/plotnost-naseleniya/. Siehe dazu die Karte, die Aklexej Glushkov (Алексей Глушков) für Wikipedia Russland erstellte.
  14. Vgl. https://arbeit.studiumineuropa.eu/s/3704/75716-Europaischen-Landern-Amtssprachen-Einwohnerzahl-Hauptstadt-Wahrung-Telefonvorwahl-Internet.htm.
  15. Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen BundestagsDie russischen Minderheiten in den baltischen Staaten, Sachstand, WD 2 – 3000 – 02/17, 24.02.2017, online unter https://www.bundestag.de/resource/blob/502250/4a724aa7d34d30c84baed59a7046500f/wd-2-010-17-pdf-data.pdf. Von den zahlreichen Publikationen dazu: Aufstand der „Nichtbürger“ in Lettland, bei Deutschlandfunk Kultur, 25.04.2014, online unter https://www.deutschlandfunkkultur.de/baltikum-aufstand-der-nichtbuerger-in-lettland-100.html und „Nichtbürger“ in Estland und Lettland, Angst vor der russischen Minderheit, bei Spiegel Ausland, 03.10.2017, online unter https://www.spiegel.de/politik/ausland/estland-und-lettland-das-problem-mit-der-russischen-minderheit-a-1169422.html.
  16. Der Verfasser war Teil der damaligen OSZE-Delegation.