Ein Mann befestigt eine türkische Flagge auf der Zitadelle in Aleppo. Sie zeigt, wer dort im Moment das Sagen hat ...

Die Türkei versucht in Syrien ein «reset» zu erzwingen

(Red.) Nach dem rasanten Vormarsch der Islamisten in Aleppo tritt die Türkei als neuer Akteur auf und versucht das Schicksal Syriens mitzubestimmen. Nicht zum ersten Mal träumt Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan offensichtlich vom Osmanischen Reich. (cm)

Die militante islamistische Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (Organisation zur Befreiung der Levante, HTS) hat mit ihrer Militäroffensive auf Aleppo am vergangenen Wochenende so ziemlich alle verblüfft. Bärtige HTS-Kämpfer haben ihre Großoffensive aus der Provinz Idlib im syrischen Nordwesten aus begonnen und konnten innerhalb von nur zwei Tagen ihre Flagge auf der mittelalterlichen Burg Aleppos, der zweitgrössten Stadt Syriens hissen. 

Reise in die Vergangenheit

Für manche militanten Kämpfer handelte sich um eine Reise in die Vergangenheit: Im Jahr 2016 war die syrische Opposition in Aleppo von den syrischen Truppen Bassar Al-Assads vernichtend geschlagen worden und hatten gemäss einem Waffenstillstandsabkommen sich in die Provinz Idlib zurückzuziehen. In ihrem Tross zogen damals auch unzählige Flüchtlinge mit, meist Familienmitglieder der Kämpfer oder solche, die sich der syrischen Opposition nahe fühlten. In Idlib, das direkt an die Türkei grenzt, leben seither bis zu vier Millionen Menschen, meist in erbärmlichen Flüchtlingscamps zusammengepfercht. 

Im Laufe der Jahre konnte die dschihadistische Hayat Tahrir al-Sham (HTS) nach blutigen Machtkämpfen unter Idlibs diversen oppositionellen Gruppierungen zuletzt die Macht an sich reissen. Als Al-Qaida-Ableger, der von den USA, Russland und selbst von der Türkei als Terrorgruppe eingestuft wird, gelang es ihr, Idlib zu einer wahren Hochburg ausbauen. 

Syrische Heilsregierung gemäßigt oder nur grausam

Informationen drangen nur selten aus dem isolierten Gebiet, auch weil der Presse jeder Zugang in die Region verwahrt blieb. Was die Außenwelt über den Alltag von Idlibs Zivilisten erreicht, ist widersprüchlich. In den letzten Jahren habe die HTS versucht, ein weniger radikales Gesicht zu zeigen, indem sie auf Christen und andere Minderheiten zugegangen sei, heisst es einerseits. Unter dem Banner der so genannten «Syrischen Heilsregierung» beherrscht die HTS eine autonome Zone «mit Grausamkeiten, Folter, Massenverhaftungen und Hinrichtungen, die laut dem jüngsten Bericht der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für Syrien, der ansonsten Verbrechen der syrischen Regierung dokumentiert, «möglicherweise Kriegsverbrechen darstellen», so die anderen Informationen.

Nach der Eroberung von Aleppo kündigte die HTS an, sich auf den Weg nach Damaskus zu machen. Ihre Kämpfer konnten die Verbindung einer strategischen Straße zwischen Aleppo und Damaskus kappen – und stießen dabei auf keinerlei Widerstand der syrischen Truppen. Ihr Vormarsch schien wie ein Spaziergang; und so schien auch der Zusammenbruch der syrischen Armee verblüffend zu sein. 

Die Motive der Türkei sind vielschichtig

Die Türkei hat bis zur Eroberung Aleppos konsequent behauptet, sie habe von der Offensive nichts gewusst. Das dürfte allerdings wenig wahrscheinlich sein. Ankara befehligt ein Netzwerk von Zehntausenden von Anti-Assad- und antikurdischen Stellvertreterkräften im Norden Syriens. Kein Schritt von HTS oder einer anderen bewaffneten Gruppe in diesem Gebiet kann ohne Ankaras Unterstützung erfolgen.

Abgesehen davon bildet die Türkei die einzige Versorgungslinie für Hilfsgüter und Handel nach Idlib, sie ist förmlich die Lebensader für Idlib. Viele Beobachter der Region stimmen in einem überein, nämlich, dass die Dschihadisten der HTS ohne das grüne Licht aus Ankara eine Offensive in Syrien nie gewagt hätten.

Vielschichtige Motive hätten ihnen zufolge die Türkei bewegt, die Offensive der HTS jetzt zu unterstützen. Die Türkei strebe ein «reset» in Syrien an, sagt etwa Andreas Parasiliti von der internet-Plattform «al-monitor». Ankara wolle mit dieser großen Offensive vor allem der neuen Trump-Administration signalisieren, dass Washington ab nächsten Januar besser Erdogan als „primus-inter-pares-Partner“ der USA anerkennen sollte, für Syrien und den Nahen Osten. Im Klartext bedeute dies, dass der neue Präsident neben Israel auch die Meinung der Türkei berücksichtigen sollte, wenn es künftig um Fragen in Syrien und dem Nahen Osten geht. Der bisherige US-Präsident Joe Biden hatte bekanntlich mit dem autoritären Recep Tayyip Erdogan wenig am Hut. Dazu gehöre laut Andreas Parasiliti «die Errichtung einer sicheren Zone in Nordsyrien», in der die 3,6 Millionen in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlinge rückgeschafft werden können. Die zunehmend fremdenfeindliche Stimmung in der Bevölkerung verschafft seiner Regierung in Ankara oft Kopfweh.   

Dass der Vormarsch der HTS Erdogan eine neue Machtposition verschafft hat, stellt auch die türkische Journalistin Amberin Zaman nicht in Frage: Seit mehr als einem Jahr habe Erdogan mit Unterstützung des Kremls Assad immer wieder aufgefordert, zu vergessen, dass Ankaras Regierung aktiv versucht habe, ihn zu stürzen und unter dem Schlagwort «Normalisierung der bilateralen Beziehungen» eine neue Seite aufzuschlagen; stattdessen habe der syrische Führer Ankaras Angebot jedes Mal zurückgewiesen.  Solange die Türkei ihre Truppen nicht aus Syrien abziehe, gebe es nichts zu besprechen, beharrte Assad. «Mit diesem Schritt erinnert die Türkei Assad daran, wie verwundbar er ist».

Amberin Zaman zählt zu den Prioritäten Ankaras, «die Zerschlagung der Demokratischen Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens, auch als Rojava bekannt, sowie der von den USA unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Zaman gilt als eine der besten Kennerinnen der Kurdenfrage im Nahen Osten.

Kämpfe gegen die autonome kurdische Region

Parallel mit der Offensive der Dschihadisten auf Aleppo begannen letzten Mittwoch schwere Angriffe der von der Türkei ausgebildeten und bewaffneten Syrischen Nationalarmee (SNA) auf Gebiete rund um Aleppo und in Rojava, die bis dahin unter der Kontrolle der kurdischen SDF lagen. Heftige Zusammenstöße brachen zwischen der kurdischen SDF und der Syrischen Nationalarmee (SNA) in der nördlichen Provinz Aleppo, in der Nähe der von Kurden gehaltenen Stadt Tal Rifaat und in der Nähe von Afrin und Shahba aus, bevor die Verwaltung von Rojava letzten Sonntag zu einer generellen Mobilisierung ihrer Truppen aufgerufen hatte.  

Die Lage für die Zivilisten hat sich in den umkämpften Gebieten dramatisch verschärft: Alarmiert berichtet die kurdische Nachrichtenagentur im Nordirak rudaw: «Das Schicksal von rund 500.000 Kurden und 5.000 Jesiden, die in den kurdischen Vierteln der Provinz Aleppo eingeschlossen sind, wird immer bedrohlicher. Die kurdischen Bewohner von Sheikh Maqsoud, Ashrafiyeh in Aleppo und der Region Shahba sind in großer Sorge». Sie zitiert Ali Iso, Direktor von Ezdina, einer in Deutschland ansässigen jesidischen Rechtsorganisation, der gegenüber rudaw erklärte: «Es wird befürchtet, dass es zu groß angelegten Vergeltungsmaßnahmen gegen die kurdische und jesidische Zivilbevölkerung in der Region kommen könnte“.

Vergangenen Montag gab Mazloum Abdi, der Oberbefehlshaber der SDF, in einer Erklärung bekannt, dass seine Truppen versucht hätten, einen humanitären Korridor zwischen den belagerten Stadtteilen Aleppos mit Tal Rifaat und Rojava zu errichten, um die Zivilisten sicher evakuieren zu können, was allerdings von den von der Türkei unterstützten Kräften verhindert worden sei. Seine Verwaltung arbeite aber weiterhin mit „relevanten Parteien“ in Syrien zusammen, um eine sichere Evakuierung der Bevölkerung nach Nordostsyrien (Rojava) zu erreichen. Kurz zur Erinnerung: Während die kurdische SDF in den Jahren 2015-2019 der wichtigste Verbündete des Pentagons und Europas im Kampf gegen den Islamischen Staat in Syrien war, stand die Türkei damals wie heute auf die Seite der islamistischen Opposition. Heute scheint in Washington weder die alte noch die neue Regierung am Schicksal ihrer Verbündeten interessiert. Die Kurden sind heute wieder auf sich allein gestellt. 

Erdogan in Damaskus

Der türkische Journalist Can Dündar ist entsetzt: «Aus der Region erreichen uns Bilder nicht nur von gestürzten Assad-Statuen, sondern auch von enthaupteten und erschossenen syrischen Soldaten. HTS erklärt, ihr nächstes Ziel sei Damaskus», schreibt er auf seiner internet-Plattform ozguruz.de.  

Als Chefredakteur der einflussreichen Zeitung Cumhurriyet hatte Can Dündar im Jahr 2015 aufgedeckt, dass die Türkei die syrischen Islamisten mit Waffen versorgte. Der Journalist wanderte hinter Gitter, konnte wenige Jahre später aber fliehen und lebt heute im Exil in Deutschland. 

Ankara hoffe, über die von ihr ausgebildete und bewaffnete Syrische Nationale Armee Druck auf die Regierung in Damaskus auszuüben, Assad seine Bedingungen aufzuzwingen und die Dschihadisten an der Macht zu beteiligen, folgerte der renommierte Journalist. Er wies darauf hin, dass neulich auf türkischen Fernsehsendern immer daran erinnert werde, «dass Aleppo einst eine ‘Provinz des Osmanischen Reiches’ war».

Am Montag brach der türkische Präsident sein langes Schweigen über die Offensive der Dschihadisten in Syrien. Ankara sei bereit, «alles zu tun, was wir tun müssen, um das Feuer in der Region zu löschen», sagte er während einer Pressekonferenz in Ankara. Ankaras größter Wunsch sei es, „die Bewahrung der territorialen Integrität und der nationalen Einheit Syriens und die Lösung der andauernden Instabilität – nun im 13. Jahr – durch einen Konsens auf der Grundlage der legitimen Forderungen des syrischen Volkes“, fügte Erdogan hinzu. Nur kurz zuvor hatte sein Außenminister Hakan Findan Damaskus aufgerufen, mit der islamistischen Opposition Verhandlungen aufzunehmen.