Die Türkei, «ein völlig zerrüttetes Gemeinwesen»
(Red.) «Über 70 Prozent der Bevölkerung wählten ultranationalistische Parteien», sagt Cengiz Aktar, ein an der Pariser Sorbonne ausgebildeter türkischer Wissenschafter. Die Globalbridge.ch-Autorin Amalia van Gent hat, auf der Suche nach den Ursachen dieser traurigen Entwicklung, mit ihm ein Interview geführt.
Amalia van Gent: Recep Tayyip Erdoğan ist einmal mehr als Sieger aus den Wahlen in der Türkei hervorgegangen. Was bedeutet eine neue Regierung Erdoğan für das Land?
Cengiz Aktar: Das Wahlresultat eröffnet dem Regime einen Weg, ungehindert seine Macht zu konsolidieren und die Gesellschaft gründlich umzugestalten. Im letzten Jahrzehnt hatte Erdoğan die staatlichen Schlüsselinstitutionen unter seine völlige Kontrolle gebracht, nun soll die Gesellschaft dran kommen. Eine neue Verfassung, aus der das Prinzip des Säkularismus fehlt, ist unterwegs, sowie ein neues Zivilrecht, das den Regeln des Islam Priorität gewehrt. Gegenüber Andersdenkenden wird das Regime repressiver. Allgemein wird angenommen, dass die politische Bewegung der Kurden der Türkei zerschlagen und jene Demokraten, die sich gegen den neuen Trend wehren, oder etwa die Gruppe der LGPTI noch mehr unter Druck gesetzt werden. Aussenpolitisch geht es um die Sicherheit der Nachbarregion.
Auf ihrem Weg zum Totalitarismus fühlen sich Erdogan und sein Regime dabei bestätigt. Abgesehen von der politischen Kurdenbewegung und ein paar Überbleibseln aus der rechten und linken Mitte glänzt das Land heute in unterschiedlichen Schattierungen des Ultranationalismus. Bezeichnenderweise sind von den insgesamt 600 Sitzen des Parlaments nur knapp 100 von Abgeordneten besetzt, die sich noch zur Demokratie bekennen. Die übrigen 500 sind antiwestlich und antidemokratisch eingestellt, verabscheuen Migranten, Flüchtlinge und Andersdenkende sowie Kurden, und sind davon überzeugt, jedes Problem mit Gewalt lösen zu können. Die MHP, die BBP, die YRP, die HÜDAPAR, die im neuen Parlament vertreten sind, stehen offen für rassistische Ideen. Auf rechtsnationalistisches Gedankengut berufen sich mittlerweile aber auch Parteien wie die AKP von Erdoğan, die IYI-Partei sowie ein beträchtlicher Teil der oppositionellen, sozialdemokratische CHP. Ihre Wähler machen insgesamt rund 70 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Diese Masse, die Erdoğan als „Mehrheit“, „nationalen Willen“ und „heilige Nation“ bezeichnet, trägt offensichtlich faschistoide Züge. So wächst im Osten des europäischen Kontinents ein gewaltiger türkischer Tumor heran.
Amalia van Gent: Der Gang zur Wahlurne war für die Opposition mit großen Hoffnungen verbunden. Jetzt ist die Enttäuschung unter ihren Wählern umso größer. Was hat die Opposition falsch gemacht?
Cengiz Aktar: Die Selbstüberschätzung war ihr größter Fehler. Noch bis zur letzten Minute behauptete sie, dass „wir sowieso gewinnen werden“. Dabei ignorierte sie bewusst oder unbewusst, dass spätestens seit 2013 in der Türkei der Rechtsstaat, die Justiz, überhaupt die wichtigsten demokratischen Institutionen ausgehöhlt worden waren. Sie ignorierte ferner, dass das Regime bereit war, zu aller Art Manipulation zurückzugreifen, um seinen Wahlsieg zu garantieren. Indem die Opposition die geradezu romantische Vorstellung pflegte, wonach ein Wahlwunder in der Türkei möglich sei, führte sie ihre Wähler in die Irre.
Hundert Jahre nach der Gründung der Republik ist das Land heute ein völlig zerrüttetes Gemeinwesen. Sechs Oppositionsparteien vereinigten sich mit dem einzigen Ziel, „Recep Tayyip Erdoğan in die Wüste zu schicken“. Keine der sechs war aber bereit, zu hinterfragen, was die Türkei so weit gebracht hatte. Niemand sprach über eine Lösung der kurdischen Frage, niemand über die unwiderruflich verlorene Chance eines EU-Beitritts, über die enorme Unterdrückung und Zerstörung von Natur-Mensch-Tier-Stadtkultur. Niemand fragt sich auch, warum mindestens die Hälfte der Gesellschaft für faschistische Parteien eintritt.
Amalia van Gent: Was werden die Folgen seines Wahlsiegs für Europa sein?
Cengiz Aktar: Die Europäer werden wie immer versuchen, mit dem Regime zu leben und dessen totalitäre Auswüchse weitgehend ignorieren, vorausgesetzt, die Türkei bleibt in der NATO und macht ihre Grenzen dicht für die schätzungsweise fünf Millionen Flüchtlinge und Asylbewerber, die heute in der Türkei leben. Und hält fortan seine Grenzen auch für die eigenen Bürger dicht, die nach diesen Wahlen verzweifelt versuchen werden, das unerträgliche innenpolitische Umfeld zu verlassen.
Amalia van Gent: Und welche Folgen hat der Wahlsieg für die NATO?
Cengiz Aktar: Im Ausland ist man wie gesagt damit beschäftigt, die Wahlergebnisse „realpolitisch“ zu verdauen. Das westliche Bündnis geht davon aus, dass Erdoğan letztlich nicht in der Lage sein werde, sich von der NATO zu lösen. Erdoğan seinerseits weiß, dass die Türkei für die NATO von besonderer geostrategischer Bedeutung ist und missbraucht diese Machtposition in höchstem Maße: Er hat seit 2016 bekanntlich eine neue „besondere Beziehung“ zu Putins Russland aufgebaut und Waffenkäufe in Moskau getätigt, was sich direkt gegen die Interessen der NATO richtet. Seine neue Regierung wird diesen Kurs, den er als Balanceakt bezeichnet, höchstwahrscheinlich fortsetzen.
Es ist bemerkenswert, dass Erdoğan im Gegensatz zu Putin international noch immer kein Paria ist. Trotz allen gepredigten Werten scheinen westliche Demokratien heute wieder bereit, mit Ländern wie der Türkei zu leben, die keine Demokratien, oft gar Feinde von Demokratien sind. Der deutsche Bundeskanzler Scholz hat erst kürzlich mit Erdoğan telefoniert und über eine Vertiefung des Austauschs zu verschiedenen Fragen der Kooperation gesprochen.
Amalia van Gent: Dabei hatte ausgerechnet Erdoğan nach seinem ersten Wahlsieg bahnbrechende demokratische Reformen eingeleitet, um einen EU-Beitritt der Türkei zu ermöglichen. Wie erklären Sie seinen Wandel von einem Demokraten zu einem leidenschaftlichen Autokraten?
Cengiz Aktar: Zwischen 1999 und 2005 tat sich tatsächlich viel Gutes für das Land: Die Zivilgesellschaft war zum Wandel entschlossen und diese Eigendynamik der Gesellschaft in Verbindung mit der EU-Bewerbung führte dazu, dass erstmals eiserne Tabus der Republik abgebaut und einmalige soziale und wirtschaftliche Reformen eingeführt werden konnten. Damals wurde etwa der politische Islam durch die AKP-Regierung legitimiert. Gleichzeitig durfte die kurdische Bewegung der Türkei ihre legale Partei gründen, Lokalverwaltungen übernehmen und sicht- und hörbar werden. In dieser Zeit herrschte im Land Frieden, Wohlstand und Selbstvertrauen wie nie zuvor.
Amalia van Gent: Warum hat sich dieses Märchen also so rasch zu einem Horrorfilm verwandelt?
Cengiz Aktar: Anfangs hat der Westen sein Bestes getan, um die Türkei herum zu schubsen und auszugrenzen. Die EU hatte in Wirklichkeit nie ernsthaft an eine Mitgliedschaft der Türkei geglaubt. Anstatt einer echten Beitrittsperspektive für das Land bevorzugte Brüssel eine transaktionale Beziehung wie den „Refugee Deal“ von 2016. Und so geschah es, dass Ankara der EU Abertausende von Flüchtlingen vom Leibe hielt. Im Gegenzug dafür sah Brüssel über den immer stärker werdenden Autoritarismus der Türkei hinweg und gab sich mit einem zunehmend repressiven Erdoğan und seinem Regime zufrieden. Damit wurde eine historische Chance vertan, die zu einer friedlichen Koexistenz der Menschen in der Türkei in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt geführt hätte, sowie zu einer Stärkung und zur Beständigkeit einer demokratischen Türkei im Osten des europäischen Kontinents.
Amalia van Gent: Im Vorwort zur aktualisierten türkischen Fassung Ihres Buches sprechen Sie von einem Grundübel der türkischen Nationsbildung, das totalitäre Strömungen geradezu hervorbringt. Was meinen Sie damit?
Cengiz Aktar: Alle Prozesse der Nationenbildung sind blutig, schmerzhaft und gewalttätig, und der Prozess der türkischen Nationsbildung gehört mit Sicherheit zu den schlimmsten Beispielen dafür. Der Gründungswille, der sich mit dem Satz „dieser Staat braucht eine Nation“ auf den Weg machte, führte eine gewaltige ethnisch-religiöse Säuberung durch. Dreißig Jahre lang, zwischen 1894 und 1924, wurden im Osmanischen Reich etwa drei Millionen Bürger, d.h. ein Fünftel der Gesamtbevölkerung, vernichtet und deren Eigentum beschlagnahmt. Für dieses gigantische Ausmaß an Blut, Schmerz, Brutalität und Gewalt musste auch hundert Jahre später noch niemand Rechenschaft ablegen. Statt auf Aufarbeitung setzt der Staat immer noch auf strikte Leugnung und will diese Verbrechen vergessen und vergessen machen.
Diese Politik ist aber ein Feind der Geschichte. Nationen, die nicht fähig sind, Verbrechen von solch gewaltigem Ausmass wie einen Genozid oder einen Holocaust zu hinterfragen und zu bedauern, sind bestrebt, auch jede andere Art von Gesetzlosigkeit und Unrecht zu verdauen. In der Türkei verklären sie bösartige Eigenschaften aus der Zeit des Aufbaus ihres Staates, entziehen sich jeglicher Verantwortung für alles, was nicht richtig gelaufen ist, und bevorzugen autoritäre Herrscher. Das ist der Preis, den die türkische Gesellschaft heute für das geleugnete nationale Grundübel kollektiv zu bezahlen hat.
Von Cengiz Aktar ist 2021 im Kolchis Verlag das Buch «DIE TÜRKISCHE MALAISE; Ein kritischer Essay» erschienen. Dazu die Leseempfehlung: «Selten zuvor hat sich ein türkischer Wissenschaftler so eingehend und schonungslos mit dem Scheitern der Annäherung zwischen Europa und der Türkei auseinandergesetzt. Dafür gräbt Aktar in diesem kritischen Essay tief in der Geschichte des Osmanischen Reiches und Europas und führt der staunenden Leserschaft vor Augen, wie sehr sich beide Seiten geprägt haben, bis sie sich vom jeweils ‹Anderen› angewidert abwandten. Die türkische Malaise ist nach Aktar aber nicht nur Ausdruck einer fehlgeschlagenen Verwestlichung. Er attestiert der türkischen Gesellschaft auch eine Unfähigkeit, sich der eigenen Geschichte zu stellen: ‹Der Genozid an den Armeniern, die grosse Katastrophe Anatoliens, ist die Mutter aller Tabus. Sein Fluch wird uns so lange verfolgen, wie wir uns weigern, darüber zu sprechen, ihn zu entziffern, uns ihm zu stellen.›»