Die Stimme aus dem Donbass (XXI): Der Alltag in Donezk im Visier ukrainischer Soldaten
Wie viele Leben lebt man an einem Tag in Donezk? Wirklich viele, weil jede Detonation eines Beschusses, nah oder fern, sekundenlang den Herzschlag verlangsamt …
An jedem gewöhnlichen Tag habe ich, wie alle anderen, viel zu tun: Einkaufen, kochen, arbeiten, aufräumen, fernsehen usw. Aber das Leben in unserem Kriegsalltag kann alle Pläne ganz plötzlich zunichtemachen. Früher – noch bis zum 24. August 2022, dem Tag der Unabhängigkeit der Ukraine – konnte man alles Nötige für Haushalt, Auto sowie Bauartikel im „Galaktika“-Supermarkt, dem größten von Donezk, kaufen. Aber nachdem er genau an diesem Tag durch ukrainische Streitkräfte unter Beschuss geriet und in Brand gesetzt wurde – es ist für sie üblich, uns an feierlichen Tagen hart zu beschiessen –, steht er nun als stummer Zeuge dieser vernichtenden Attacke in Schutt und Asche. Jetzt muss man die benötigten Haushaltswaren über die ganze Stadt verstreut in allen möglichen Geschäften kaufen. Im „Galaktika“ war alles an Ort und Stelle erhältlich und am Wochenende konnte man, wenn der Einkauf mehr als 500 Rubel (ca. 7,5 EUR/CHF, Red.) betrug, in der dortigen Caféteria kostenlos eine Tasse Kaffee trinken. Ausserdem wurden an Wochenenden verschiedene Tombolas und Lotterieaktionen durchgeführt, wo man Haushaltsgeräte wie Fernseher, Kühlschränke, Laptops usw. gewinnen konnte. – Jetzt ist das alles bereits Vergangenheit.
Bis Ende Dezember, der Vorneujahrs- und Vorweihnachtszeit – wir feiern in unserer orthodoxen Welt am 6. und 7. Januar –, sind in verschiedenen Supermärkten folgende Preise gültig, die in den nächsten zwei Videos zu sehen sind. In anderen Lebensmittelgeschäften und auf den Märkten können sich die Preise auch für dieselben Waren unterscheiden, aber nicht wesentlich.
Im ersten Video wird das Warenangebot des Supermarkts „Manna“ (abgeleitet von der Wortverbindung „Himmelsmanna“) gezeigt, der auch Kunden, die für mehr als 1000 Rubel eingekauft haben, kostenlose Lieferung anbietet. Zu den Vorteilen dieses Supermarkts gehört diese Dienstleistung – zu den Nachteilen aber die nicht so gute Qualität der verpackten Lebensmittel, z.B.: noch nicht mal geschnittenes, sondern in grobe Stücke gebrochenes Gemüse oder Schweinerücken mit einer dicken Fettschicht, gar nicht so, wie es auf dem Bild aussieht. Um die Preise, die ich hier nenne, besser beurteilen zu können: Ein Lehrer verdient, je nach Ausbildung und Schulstufe, zwischen 15’000 und 40’000 Rubel, also umgerechnet etwa 225 bis 600 Euros oder Franken im Monat, ein Polizist verdient so um die 20’000 bis 30’000 Rubel, also umgerechnet so um die 300 bis 450 Euros oder Franken im Monat, ein Arbeiter in einer Miene 35’000 und 40’000 Rubel, also so zwischen 525 und 600 Euros oder Franken im Monat. Im Video „Manna“ wurden folgende Preise genannt (100 Rubel sind ca. 1,5 EUR oder 1,5 CHF. Red.): Hühnerschenkel – 250 Rubel (1 kg), Eier (ein Päckchen mit 15 Eiern) – 151 Rubel, 1 Flasche Sonnenblumenöl – 128 Rubel, Schweineschinken – 307 Rubel (1 kg), Hühnermagen – 111 Rubel (1 kg), Hähnchen – 179,50 Rubel (1 kg) (≈ 180 Rubel, in der DVR werden die Preise abgerundet– Anm. d. A.), Schinken – 479 Rubel (1 kg), Cervelatwurst 163 Rubel (350 g), Toastbrot-Packung – 31 Rubel, Marmorkäse 200 g-Packung – 139 Rubel, roter Paprika – 89 Rubel (1 kg), Äpfel – 77 Rubel (1 kg), Kräuter/Petersilie – 268 Rubel (1 kg), 1 Bund Petersilie – 36 Rubel, Dill – 289 Rubel (1 kg), 1 Bund Dill – 39 Rubel, Möhren – 31,87 Rubel (1 kg) (≈ 32 Rubel, s.o.), Buchweizen – 128 Rubel (800 g-Packung), Parboilingreis – 93 Rubel (etwa 1 kg-Packung), Zucker – 59 Rubel (800 g-Packung), Snickers – 72 Rubel, Twix – 36 Rubel, Schaumküsse – 306 Rubel (1 kg), Salzstangen – 104 Rubel (1 Packung), Kürbiskörner – 226 Rubel (1 Packung), Heringssalat/Fertigprodukt „Hering unter der Haube“ 499 Rubel (1 kg), Japanische Soße – 72 Rubel, Thailändische Soße – 168 Rubel, Ketchup – 80 Rubel, Toilettenpapier – 6-Stückpackung – 258 Rubel (1 Rolle – 43 Rubel).
Die Preise entsprechen den Moskauer Preisen in der Russischen Föderation. Wie man diesem Video entnehmen kann, stammen die meisten Lebensmittel aus Russland, der Käse war aus Weissrussland und der Schinken aus Donezk. Seit 2014 wird bei uns alles, wie in der Russischen Föderation, in Rubel bezahlt. Während einer Übergangsperiode bis 2017 konnte man noch einige Waren in der ukrainischen Währung Hrivna bezahlen. Aber auch jetzt können diejenigen, die über keine Rubel verfügen, im Supermarkt „Respublikanskij“ die Waren noch in Hrivna bezahlen.
In vielen Geschäften kann man Dörrobst, Graupen (Bohnen, Buchweizen, Bulgur, Erbsen, Gerste, Hirse, Reis, Weizen usw.), Nüsse sowie Mehl und Zucker nicht nur verpackt, sondern auch einfach offen nach Gewicht kaufen, was viel preisgünstiger ist! Übrigens sind die Packungen verschieden: 1 kg, 900 g, 800 g, 500 g usw.
Seit Ende November stehen schon in der ganzen Stadt geschmückte Tannenbäume vor den grossen Einkaufzentren und Supermärkten, um ungeachtet der Kriegssituation eine feierliche Stimmung zu schaffen. Ende Dezember werden hier Fichten- und Tannenbäume verkauft. Aber die festliche Beschmückung des Haupttannenbaums auf dem zentralen Leninplatz – dem größten Platz von Donezk – steht uns allen noch bevor!
Im zweiten Video sind die Preise im Supermarkt „Obzhora“ am Leninskij-Prospekt gut zu sehen. (Wie man sagt: „Des einen Tod ist des anderen Brot!“) In diesem Video kann man auch sehen, dass auf den Regalen auch Produkte aus der Ukraine vertreten sind, beispielsweise die Handelsmarke „Maк Maй“ (Tomatenmark, Mayonnaise). Ausserdem erwähnt die Autorin des Videos, dass sie am Samstag einkaufen fuhren, nachdem sie in der Wohnung geprüft hatten, ob das Heizungssystem funktionierte. In diesem Jahr begann bei ihr die Heizunsperiode nicht, wie traditionell, am 15. Oktober, sondern am 1. November – und zwar nur nachdem sie sich an das Oberhaupt der DVR, Denis Puschilin, via dessen Internetseite gewandt hatte. Bereits am nächsten Tag wurde das Problem sofort gelöst. Ich kann meinerseits zustimmen, dass alle Probleme in kommunalen Angelegenheiten auf dem Niveau der Kommunalverwaltung immer mit Konflikten verbunden sind und sehr lange brauchen, bis sie endlich gelöst werden. Aber sobald man sich nach diesem lokalen „Krieg“ an das DVR-Oberhaupt wendet, wird das Problem automatisch gelöst, und die Vertreter derselben Kommunalverwaltung leisten tiefste Abbitten, wie sie nur können. In unserem Haus begann die Heizungsperiode sogar erst am 5. November 2022, nach zehn Tagen funktionierte schon nichts mehr und fünf Tage lang hatten wir überhaupt keine Heizung! Unsere Bitten an die Kommunalverwaltung, dem Missstand abzuhelfen, blieben unbeantwortet. Darum beschrieben wir unser Problem auf der Internetseite von Denis Puschilin und – oh, Wunder! – die Heizung in unserem Haus funktionierte am nächsten Tag wieder!
Auch bedankt sich die Autorin des zweiten Videos bei den Zivilschützern, die die schwierigste Arbeit erfüllen, indem sie für die Versorgung der Stadt mit Brauchwasser (kein Trinkwasser!) zuständig sind. Diese Männer arbeiten rund um die Uhr, insbesondere bei den Beschüssen. Laut SMS von offizieller Stelle sollte seit dem 31. August diesen Jahres planmäßig alle drei Tage Wasser in verschiedene Bezirke von Donezk per Lastwagen mit Schläuchen geliefert werden, um die Behälter der Anwohner mit Wasser zu füllen. Aus welchen Gründen auch immer galt diese Regel allerdings nur für drei Bezirke: den Woroschilower, Kalininer und Kujbyschewer Rayon. In unserem Bezirk aber lebten wir nach diesem Wasserzuführungsplan nur in der ersten Oktoberhälfte, zweimal im November und jetzt schon dreimal im Dezember. Die übrige Zeit unterschieden sich die Angaben der vielversprechende SMS und die Wirklichkeit riesig. Immer noch liefert der Wagen das technische Wasser in unseren Bezirk entweder am Vormittag oder am frühen Abend gegen 18.00 Uhr, wenn es schon dunkel ist und man nicht so gut sehen kann, wohin man treten muss, um nicht auszurutschen oder gar hinzufallen. Dabei gibt es keinen festen Ort, wohin man mit seinen Wasserbehältern zu diesem Wagen kommen sollte – jedes Mal wechselt die Stelle, wo der Wagen parkt! Es gibt hier überhaupt keinen Plan, zur Orientierung können bestenfalls die Huptöne dienen, wenn die Fahrer so gnädig sind, sie auch zu benutzen! (Der Fairness halber muss man allerdings sagen, dass sie meistens doch gnädig sind.)
Am 6. Dezember 2022 wurde eine Passagierin der Buslinie vom Budjonnyj-Platz bis zum Donskoj-Mikrorayon plötzlich ohnmächtig. Der Fahrer Andrej Kudelin traf die einzig richtige Entscheidung, die der älteren Frau das Leben rettete. Er fragte die Fahrgäste: „Fahren wir ins Krankenhaus?“, was alle bejahten. Danach klammerten sich alle wegen der schnellen Fahrt an ihren Sitzplätzen fest und in zwei Minuten waren sie bereits vor dem Krankenhaus. Es wurde eine rollbare Trage geholt, auf der die Passagiere die Patientin Tatjana Sacharowa in die Aufnahme transportierten. Laut Vorschrift sollte der Fahrer eigentlich alle Fahrgäste absetzen und auf den Krankenwagen warten, aber in diesem Falle hätte man unschätzbare Zeit verloren. Ein Menschenleben wurde gerettet – und das zählt! Der Fahrer schaffte es übrigens noch, den Fahrplan wieder rechtzeitig einzuholen. Die gerettete Frau ist allen sehr dankbar und träumt davon, sie alle zum Tee einzuladen.
Wenn man durch unsere Stadt Donezk fährt, kann man ganz deutlich sehen, wie die Stadt tagsüber beinahe menschenleer ist, weil alle sicherheitshalber zu Hause bleiben und es ohne triftigen Grund nicht verlassen. Im Stadtzentrum glimmt das Leben gerade noch, aber gut achteinhalb Minuten entfernt verändert sich die Welt: Im Kiewer Bezirk, erheblich näher an der Kampflinie, sind an den Haltestellen nur noch vereinzelt Personen zu sehen.
Das Schlimmste aber sind die verfluchten Beschüsse von Seiten der Ukraine, die uns alle überall überrumpeln, egal zu welcher Tageszeit: ob vor dem Drama-Theater oder auf dem Puschkin-Boulevard oder im Schwimmbad des Hotels „Ramada“, ob vor dem Einkaufszentrum „Donezk City“ oder im Bus (wo diesmal alle Fahrgäste des Busses № 17 unverletzt blieben!) oder im Park der Schmiedefiguren oder im Leninskij-Komsomol-Park oder in der Allee der Engel – die Gedenkstelle für die im Krieg von Seiten der Ukraine getöteten Kinder der DVR (und die in der englischen Version der Wikipedia-Seite merkwürdigerweise verschwand) – oder im Kindergarten oder im Polizeiwagen (wo einmal ein Polizist getötet wurde); ob vor dem Bestattungsunternehmen „Requiem“ in der Uliza Postyschewa oder in der Kalmius-Uferstraße oder sogar zu Hause, wo ein unbewaffnetes Kind friedlich schläft (das am Tag des Beschusses 13 Jahre alt wurde!), ob vor dem ehemaligen Gastronom „Moskwa“ – heutzutage in „Moloko“ umbenannt – oder vor den Kirchen (am 5. Dezember diesen Jahres gab es einen Volltreffer in der Christi-Geburt-Kirche, die völlig zerstört wurde; einen Tag später wurde zum dritten Mal die St. Verklärungskathedrale getroffen und beschädigt) – also überall …
Die Menschen dürfen nicht auf solch lasterhafte Weise ums Leben kommen, sie sollten glücklich leben und das Leben geniessen dürfen – besonders die Kinder!
(Red.) In den letzten Tagen wurde die Stadt Donezk von ukrainischen Streitkräften besonders intensiv beschossen. Und man darf nie vergessen: Diese Beschießungen starteten im Jahr 2014, also schon acht Jahre (!) vor der dem Angriff der Russen auf die Ukraine. Aber darüber schweigen die grossen Medien einfach. (cm)