Die Schweiz muss wieder echt neutral werden!

Am heutigen 1. August, an dem die Schweiz ihren Geburtstag feiert, sollen nicht nur die geschichtsvergessenen Relativierer der Schweizer Neutralität zu Worte kommen. Die Welt braucht, wie schon oft, eine absolut neutrale Schweiz, die die besten Voraussetzungen hat, bei internationalen Konflikten zu vermitteln. Das aber ist nur möglich, wenn die Schweiz ihren gegenwärtigen Kurs der Neutralitätsverwässerung wieder aufgibt.

Heute, am 1. August, feiert die Schweiz, die «Confoederatio Helvetica, ihren Geburtstag. Das Datum hat sie einem aus dem 13. Jahrhundert erhaltenen Dokument entnommen, wo einige Männer aus den damaligen Talschaften Uri, Schwyz und Nidwalden in der heutigen Innerschweiz «in den ersten Tagen des August»  – oder im lateinischen Original «Actum anno domini M CC LXXXX primo incipiente mense Augusto» – einander bei Angriffen von außen gegenseitige Hilfe zusicherten. 

Nicht schon seit über 700 Jahren, aber seit 175 Jahren versteht sich die Schweiz als neutrales Land, das sich in kriegerische Aktivitäten außerhalb der Schweiz nicht einmischt. Diese Neutralität ist seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 wieder das Thema – nicht zuletzt eben auch am 1. August, wenn die Schweizer traditionellerweise mit einer Wurst vom Grill und ordentlicher Tranksame auf Stadt- und Dorfplätzen sich selbst feiern.

Fünf Tage nach dem Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 hat der Bundesrat, die siebenköpfige Regierung der Schweiz, diese Neutralität schon mal beerdigt, indem er damals beschlossen hat, die Sanktionen der EU gegen Russland pauschal zu übernehmen.

Damals habe ich auf der deutschen Plattform «NachDenkSeiten» spontan einen Artikel geschrieben. Unter der Headline «Die Schweiz hat ihre Neutralität beerdigt. Ich schäme mich.» begann ich meine Beurteilung des jüngsten Geschehens mit diesen Formulierungen: «Die sieben Mitglieder der Schweizer Regierung – der Bundesrat, wie die Regierung in der Schweiz heißt – haben es am 28. Februar 2022 geschafft, in den Schweizer Geschichtsbüchern der Zukunft namentlich aufgeführt zu werden: Sie haben die 173 Jahre alte verfassungsmäßige Neutralität der Schweiz beerdigt und Genf als international hochgeschätzten politischen Konferenzort liquidiert. Der EU wollte die Schweiz noch nie beitreten, sie bevorzugte immer bilaterale Abkommen oder, wie gerade jetzt wieder, Probleme einfach auszusitzen und Distanz zu halten. Ihr Interesse galt immer nur dem Marktzugang zur EU. Und sogar die neuen Kampfjets für die Armee sollen nicht von einem Unternehmen in der EU, sondern von den USA gekauft werden. Jetzt aber, am vergangenen Montag, hat der Schweizer Bundesrat beschlossen, die EU-Sanktionen gegen Russland vollständig zu übernehmen. Ausgerechnet die Sanktionen der EU, um der einen Seite des Konflikts massiv zu schaden.»

Ganz so hart wollten das die meisten Politiker und Medienleute allerdings nicht verstanden haben. Und sie begannen eine Diskussion, wie man die Schweizer Neutralität doch „modernisieren“ sollte. Der damalige Außenminister und sogenannter Bundespräsident Ignazio Cassis kreierte am WEF in Davos den Begriff «Kooperative Neutralität» und liess dazu eine Studie erstellen. Der hochstehende Politiker mit Migrationshintergrund – Ignazio Cassis ist als Italiener geboren – versuchte eine Neutralität zu erfinden, die eben nicht immer absolut sein muss. Seine Studie dazu hat aber nur Eingeweihte bei den Medien erreicht und war schnell wieder vom Tisch. Aber die Versuche etlicher Politiker und Medienschaffender, die Schweizer Neutralität „flexibel“ zu machen, dauern an. 

In den gestrigen CH-Media-Zeitungen – dem Verbund der großen deutschsprachigen Regionalzeitungen – schreibt Chefredakteur Patrik Müller auf der Frontseite aus Anlass des zeitungsfreien heutigen Bundesfeiertages einen sogenannten Leitartikel. Dieser hat die folgende Headline: «Die Neutralität ist genial – aber wenn wir sie nicht weiterentwickeln, bedroht sie unsere Sicherheit». Das ist – «man erkennt die Absicht und ist verstimmt» (Goethe) – mit anderen Worten die Aufforderung, die Neutralität zu relativieren. Und Patrik Müller kritisiert darin die Schweizer Regierung, die nach dem 24. Februar «mehrere Tage» brauchte, um mit der Übernahme der EU-Sanktionen «die Konsequenzen zu ziehen». Neutralität hin oder her, der Bundesrat hätte aus Sicht von Patrik Müller noch schneller reagieren müssen. Und der CH-Media-Chefredakteur hat keine Hemmung, einmal mehr die europäische Geschichte zu manipulieren. Wörtlich: «Dass sie (die Neutralität) auch Schwäche sein kann, zeigte sich nach der russischen Invasion in die Ukraine, dem ersten Angriffskrieg in Europa, seit Hitler Polen überfiel.» Wirklich? Der erste Angriffskrieg in Europa seit Hitlers Angriff auf Polen im Jahr 1939? Was ist mit den späteren Angriffen Hitlers auf etliche andere Länder Europas, im Norden und im Westen? Und was ist mit Hitlers Angriff 1941 auf die Sowjetunion? Auch den Angriff der NATO-Truppen in Jugoslawien unter Führung der USA im Jahr 1999 – das «humanitarian bombing», wie es der vielbewunderte tschechische Staatsmann Vaclav Havel sinnverkürzt formulierte, hat Patrik Müller – in diesem Fall sicher bewusst und absichtlich – einfach unter den Teppich gewischt. 

Die Schweiz mit ihrer Neutralität hat sich über lange Jahrzehnte den Ruf eines idealen Vermittlerstaates erworben, auch aufgrund des Roten Kreuzes, dessen Gründung historisch auf das Engagement eines Schweizers zurückgeht. Sie hat im Konflikt zwischen den USA und Kuba die jeweilige Interessenvertretung wahrgenommen, oder auch zwischen den USA und dem Iran. Man könnte viele Beispiele aufzählen. Auf der Website der Offiziellen Schweiz kann man aus dem Bericht des Bundesrates aus dem Jahr 2016 die folgende Formulierung lesen:

«Die Schweiz nutzt das Instrumentarium der Guten Dienste in der Krisen- und Konfliktbearbeitung. Es reflektiert die Tradition und die Bereitschaft der Schweiz, Menschen in Not beizustehen und den Frieden weltweit zu fördern. Die Schweiz geniesst im In- und im Ausland den Ruf als vertrauenswürdige Vermittlerin. Ihre Neutralität ohne koloniale Vergangenheit, ihr demokratisches System, welches auf Austausch, Ausgleich und Kompromiss aufbaut, sowie ihre Erfahrung mit kultureller Vielfalt schaffen Vertrauen und sind hierfür zentrale Eigenschaften.»

All das soll jetzt relativiert werden? Wer wäre, ohne den historischen Missgriff des Bundesrates vom 28. Februar 2022, besser geeignet gewesen, auch im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland zu vermitteln, als eben die Schweiz? 

Noch besteht die Chance, dass die Dummheiten der Politiker und Politikerinnen und der gegenwärtigen Schweizer Medien-Stars von der Schweizer Bevölkerung wieder korrigiert werden – mit einer Abstimmung dank der direkten Demokratie, um die uns viele Menschen in anderen Ländern beneiden. Die gegenwärtige geopolitische Situation, nicht nur in Europa, auch in Asien und anderen Orten, macht deutlich, dass es Mediatoren, internationale, neutrale Vermittler braucht. Und Genf soll, als Stadt in der neutralen Schweiz, ein Ort für internationale Konferenzen und als Sitz des IKRK erhalten bleiben. Und dies auch dann, wenn es um Konflikte geht, an denen Russland beteiligt ist. 


Der Kommentar von Christian Müller «Die Schweiz hat ihre Neutralität beerdigt. Ich schäme mich dafür», kann auch auf der Plattform Globalbridge.ch eingesehen werden.