Die Schweiz hat ihre Neutralität beerdigt. Ich schäme mich dafür.
Die sieben Mitglieder der Schweizer Regierung – der Bundesrat, wie die Regierung in der Schweiz heißt – haben es am 28. Februar 2022 geschafft, in den Schweizer Geschichtsbüchern der Zukunft namentlich aufgeführt zu werden: Sie haben die 173 Jahre alte verfassungsmäßige Neutralität der Schweiz beerdigt und Genf als international hochgeschätzten politischen Konferenzort liquidiert.
Der EU wollte die Schweiz noch nie beitreten, sie bevorzugte immer bilaterale Abkommen oder, wie gerade jetzt wieder, Probleme auszusitzen und Distanz zu halten. Ihr Interesse galt immer nur dem Marktzugang zur EU. Und sogar die neuen Kampfjets für die Armee sollen nicht von einem Unternehmen in der EU, sondern von den USA gekauft werden.
Jetzt aber, am vergangenen Montag, 28. Februar 2022, hat der Schweizer Bundesrat beschlossen, die EU-Sanktionen gegen Russland vollständig zu übernehmen. Ausgerechnet die Sanktionen der EU, um der einen Seite des Konflikts massiv zu schaden.
Wie stolz war doch die Schweiz – seit 1848 verfassungsmäßig ein neutraler Bundesstaat – in all den Zeiten auf ihre humanitäre Tradition, nachdem der Genfer Bürger Henry Dunant im Jahr 1863 das Rote Kreuz – das IKRK, wie es heute heißt – gegründet hatte. Wie stolz durfte die Schweiz immer wieder sein, zwischen international verfeindeten Ländern als Vermittler eingesetzt zu werden, USA/Kuba, USA/Iran, oder auch bis heute als militärische Grenzwächter zwischen Nord- und Südkorea. Aber ausgerechnet jetzt, wo die russische Regierung aufgrund der von Russland geforderten und von den USA und der NATO verweigerten Sicherheitsgarantien – leider! – mit dem Angriff auf die Ukraine den USA und der NATO zu zeigen versucht, dass sie die weltweite Hegemonie der USA nicht akzeptiert und nicht akzeptiert, dass Länder an Russlands Grenzen von den USA gesteuert werden, wie es im Falle der Ukraine seit dem Euromaidan und dem Regime Change im Jahr 2014 der Fall ist – inklusive enge militärische Zusammenarbeit USA/Ukraine und inklusive massive Waffenlieferungen der westlichen Staaten an die Ukraine! – ausgerechnet jetzt übernimmt die Schweiz pauschal alle EU-Sanktionen gegen Russland.
Genau in diesen schweren Tagen wäre nichts so dringlich erforderlich wie Vermittler, die keiner Seite zugehören. Die Schweiz wäre nach 2014 prädestiniert gewesen, der Ukraine zu zeigen, wie man auch mehrsprachig und mit unterschiedlichen Glaubensbekenntnissen friedlich zusammenleben kann. Die damalige «Schweiz» wurde 1815 vom Wiener Kongress verpflichtet, neutral zu sein, damit die Alpenübergänge nicht in die Hände einer Großmacht fallen. Die Schweiz hätte – der eigenen Geschichte Folge leistend – der Ukraine zeigen können, wie man als neutraler Brückenstaat zwischen den Großmächten sogar sehr erfolgreich leben und wirtschaften kann. Sie hat es nicht gemacht. Aber jetzt, wo ein Stellvertreterkrieg zwischen zwei Großmächten in nächster Nähe stattfindet, vergisst man die Erfolgsgeschichte des neutralen Staates und übernimmt die Sanktionen der EU gegen Russland vollständig. Selbst der russische Außenminister Lawrow darf nicht mehr nach Genf zu Verhandlungen reisen. China, Indien (!), Afrika und ganz Lateinamerika haben begriffen, dass es in der Ukraine nicht primär um die Ukraine geht, sondern um einen Krieg gegen den Anspruch der USA, die ganze Welt zu beherrschen. Sie alle haben deshalb keine Sanktionen gegen Russland ergriffen, weil auch sie keine alleinige Weltherrschaft der USA befürworten.
Ich bin studierter Historiker und habe die West-Ost-Konflikte der letzten 30 Jahre als Journalist aufmerksam verfolgt. In Bern hat man das offensichtlich nicht gemacht. Heute schäme ich mich für meinen roten Pass.
(Dieser Beitrag von Christian Müller erschien zuerst auf den NachDenkSeiten am 3. März 2022)
P.S. vom 2. Juni 2022: Eben habe ich im Newsletter des NZZ Magazins zum Thema Neutralität der Schweiz einen fürchterlichen Text von Marco Maurer gelesen. Müssen wir Schweizer und Schweizerinnen uns wirklich solche Empfehlungen eines deutschen Journalisten gefallen lassen? Man schaue sich doch den Film «Komm und sieh!» an, um zu sehen, wie die Deutschen Krieg führen, wenn sie Krieg führen! – Nach diesem Text eines deutschen Journalisten steht mir einmal mehr eine schlaflose Nacht bevor.