Die neutrale Schweiz – dank Ignazio Cassis aber gleichzeitig in der NATO?
Die Schweiz ist international bekannt für die in ihr gelebte direkte Demokratie. Ihre Regierung, bestehend aus sieben Bundesräten, wird zwar von der sogenannten Bundesversammlung, den vereinigten beiden Parlamentskammern Nationalrat und Ständerat, gewählt, aber die verschiedenen Parteien zugehörenden sieben Bundesräte und Bundesrätinnen legen trotzdem grossen Wert darauf, bei der Bevölkerung beliebt zu sein. Spitzenreiter im Wettbewerb um Lob ist der diesjährige Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis. Leider ist auch seine Politik vor allem darauf ausgelegt, allen zu gefallen.
Ignazio Cassis, Vertreter der Partei «FDP, Die Liberalen», Schweizer Aussenminister und in diesem Jahr Vorsitzender des Bundesrates und damit sogenannter Bundespräsident, ist ein bekennender Opportunist. Wie er in einem erhellenden Gespräch mit Eric Gujer, Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung NZZ, erklärte, ist er stets auf der Suche nach «Opportunitäten».
So ist es auch jetzt, seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Wie soll sich da die Schweiz verhalten, wo sie doch neutral ist – neutral sein sollte – und sich trotzdem allen Sanktionen der EU gegen Russland pauschal (!) angeschlossen hat? Was ist der international wichtige UNO-Verhandlungsort Genf noch wert, wenn aufgrund der pauschal übernommenen EU-Sanktionen gegen Russland auch Wladimir Putin selber nicht mehr nach Genf reisen darf? Was sagt der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis zu diesem Szenario?
Bundesrat Ignazio Cassis sucht also nach einer «Neutralität», die trotzdem eine enge Zusammenarbeit mit der NATO erlaubt, denn prominente Journalisten der grossen Zeitungen, vor allem des CH-Media-Medienkonzerns – ganz vorne dabei Stefan Schmid – fordern einen Anschluss an die NATO und – konkret zum Beispiel Francesco Benini – die Abschaffung der Neutralität, weil nach seiner Analyse nicht mehr zeitgemäss. Ignazio Cassis hält also Ausschau nach einer «Opportunität», die historisch gefestigte Position der Schweiz, die Neutralität, insbesondere die militärische Neutralität, mit der Forderung der Annäherung an die NATO unter einen Hut zu bringen. Er möchte bei den nächsten Bundesratswahlen Ende 2023 ja wiedergewählt werden.
So argumentiert die CH-Media-Presse zur Neutralität
Francesco Benini schreibt: «Die Neutralität als Überlebensstrategie in einem unsicheren Umfeld. So war es im 19.Jahrhundert. Und heute? Es gibt keine Nachbarstaaten mehr, von denen eine kriegerische Aggression zu erwarten wäre. Die Schweiz steht faktisch unter dem Schutz der Nato. Die vormals prekäre geografische Lage des Landes hat sich grundlegend geändert: Nun ist die Schweiz – ausser im Osten – von Nachbarn umgeben, die sich einem Verteidigungsbündnis zusammengeschlossen haben. Diese Allianz bekennt sich zu Frieden, Freiheit, Demokratie und der Herrschaft des Rechts. Wie das die Schweiz auch tut. Schweizer Soldaten werden auf US-Stützpunkten ausgebildet. Es gibt eine Kooperation mit der Nato, und die geht in einigen Bereichen ziemlich weit: So werden Schweizer Berufsoffiziere und auch Unteroffiziere auf Militärakademien in den USA ausgebildet, in Grossbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien. Die Lehrgänge dauern ein bis zwei Jahre. Man liest kaum etwas darüber in Schweizer Medien. Warum nicht? Weil es nicht zusammenpasst, dass ein strikt neutrales Land seine besten Wehrmänner auf amerikanischen Militärstützpunkten schulen lässt? Die Schweiz gehört zum Westen; gleichzeitig will sie neutral sein. Die Position wird zunehmend schwierig, weil es zu einer neuen Blockbildung kommt: Hier die demokratisch geführten westlichen Staaten, dort totalitär geführte Länder wie Russland und China, die sich verbünden, militärisch potent sind und aussenpolitisch aggressiv auftreten. In der Zeit des Kalten Krieges wurde die Zwischenposition der Schweiz akzeptiert. Man sah auch darüber hinweg, dass das Land die Neutralität für geschäftliche Zwecke nutzte. Nun sinkt das Verständnis dafür. Die USA und die EU setzen gemeinsam Standards durch, denen sich die Schweiz nicht entziehen kann. Was bedeutet das für die Neutralität? Viele Menschen finden es nach wie vor richtig, dass sich die Schweiz aus kriegerischen Konflikten heraushält. Aber die Kriterien, nach denen die politische Neutralität bemessen wird, verschieben sich. Es dient dem Landesinteresse nicht, wenn es nach einem klaren Bruch des Völkerrechts in Europa untätig bleibt. Die Zeiten haben sich geändert seit der Einführung der Neutralität. Die Schweiz steht nicht mehr klein zwischen Grossmächten. Sie ist klar in einem Lager.»
Zu Stefan Schmids Plädoyer für eine enge Zusammenarbeit der Schweiz mit der NATO haben wir bei anderer Gelegenheit bereits berichtet, siehe hier.
So eindeutig für die Abschaffung der Neutralität konnte sich der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis nun aber doch nicht äussern, er braucht für seine Wiederwahl als Bundesrat ja die Stimmen beider Seiten, der Neutralitäts-Abschaffer und der Neutralitäts-Hochhalter. Und so erfindet er als neue «Opportunität» einen neuen Begriff und lanciert ihn am 23. Mai am WEF in Davos: die «kooperative Neutralität». Die Schweiz bleibt zwar formal neutral, darf aber mit der einen der Konfliktparteien «kooperieren».
Diese Idee freute vor allem auch den Sicherheitsberater der Neuen Zürcher Zeitung, NZZ-Redaktor Georg Häsler, der gleichzeitig Oberst der Schweizer Armee ist und unter dessen Ausbildungsstationen auch der Besuch der NATO-Schule Oberammergau zu finden ist. Genial: Formal neutral bleiben, aber gleichzeitig mit der NATO «kooperieren»! Zu den Referenten der NATO-Schule Oberammergau gehört zum Beispiel auch US-Generalleutnant John S. Kolasheski, der seinerseits 2021 auf der ukrainischen – 390 Quadratkilometer grossen! – Militärbasis Yavoriv zur militärischen Weiterbildung der ukrainischen Armee beigetragen hat – alles unter dem Titel: Ukraine-NATO Partnership for Peace.
Sicherheits-zuständiger NZZ-Redaktor und Oberst der Schweizer Armee Georg Häsler wörtlich: «Bundespräsident Ignazio Cassis hat mit der ‹kooperativen Neutralität› einen mutigen Wurf gewagt. Die kooperative Neutralität hat zweifellos das Zeug dazu, zur aussenpolitischen Formel der kommenden Jahre zu werden.»
So schliessen sich die journalistischen, militärischen und politischen Kreise …
Vier Reden zum Nationalfeiertag 1. August – und nicht nur …
Bundespräsident Ignazio Cassis hielt am 1. August vier 1.-August-Reden, mehr als je ein anderer Bundesrat es schaffte. Aber damit nicht genug. Schon am Dienstag, 26. Juli begann er seine Stimmenfang-Tour in Sessa im Tessin, wo er aufgewachsen ist – nicht mit einer Rede zur Neutralität der Schweiz, sondern vor allem mit viel Händeschütteln und Zulächeln. Der Bundespräsident setzt einmal mehr auf die Strategie des südländischen «Simpatico», den man einfach gernheben muss. Ein paar Bilder mögen das zeigen …
Zwischenzeitlich ist auch der Inhalt einer offiziell noch nicht publizierten Studie zum Thema «Neutralität» bekanntgeworden, die Bundesrat Ignazio Cassis in Auftrag gegeben hat. Vor allem deshalb ist die Schweizer Neutralität nun auch vermehrt zum Thema in anderen Medien geworden, so etwa im «Echo der Zeit» am 26. Juli oder auf der Plattform für die Auslandschweizer «swissinfo» (und auch hier). Eher überraschend hat auch der Thinktank «foraus» zum Thema Schweizer Neutralität eine fast 70seitige Studie erstellt und veröffentlicht, die der Ignazio-Cassis-Opportunität «kooperative Neutralität» recht viel Sympathie entgegenbringt. Dass sich die Schweizer Aussenpolitik vor allem auch am Völkerrecht orientieren soll, wie dort mehrfach betont wird, ist allerdings kaum hilfreich, denn auch das Völkerrecht wird oft unterschiedlich interpretiert. Die Sezessionen der Krim und des Donbass von der Ukraine zum Beispiel war völkerrechtlich absolut korrekt, da das «Volk» völkerrechtlich nicht verpflichtet ist, einer Regierung Folge zu leisten, die demokratisch nicht mehr legitimiert ist – so wie es die von den USA eingesetzte Kiewer Regierung nach dem Putsch auf dem Maidan 2014 eben war. Trotzdem hat sich die Schweiz den Sanktionen gegen die Krim angeschlossen. (Siehe dazu die ausführliche Argumentation des US-amerikanischen Völkerrechts-Spezialisten David C. Hendrickson. )
Es ist zu befürchten, dass die typische Ignazio-Cassis-Opportunität, die Schweiz zwar vom internationalen Image her neutral zu erhalten, konkret aber beliebig mit der einen Seite eines Konflikts – bevorzugt mit der NATO – zusammenzuarbeiten, als angenehme Rosinenpicker-Politik zwischen Rhein, Rhone und Inn bereits gut Fuss fassen konnte. Zum Glück gibt es noch Organisationen wie die Schweizerische Friedensbewegung, die Ignazio Cassis eben öffentlich daran erinnert hat, dass er noch nicht einmal den Beitritt zum internationalen Atomwaffenverbot mitunterzeichnet hat, sondern die Unterzeichnung bewusst hinausschiebt.
Auch andere Fragen müsste sich Ignazio Cassis stellen lassen: Warum hat die Schweiz – ein Beispiel nur – darauf verzichtet, die Ukraine zur Einhaltung der Minsk II-Vereinbarungen aufzufordern, obwohl die damaligen Verhandlungen von der prominenten Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini geleitet worden waren? Oder warum verweigert die PostFinance, die staatseigene Schweizer Bank, Geldüberweisungen nach Kuba? Ist das «kooperative Neutralität»? Kooperativ mit wem?
PS: Die Schweiz und die Ukraine scheinen sich mittlerweile einig zu sein, dass die Schweiz formell die Interessen der Ukraine in Moskau übernehme könnte, als international bewährte, neutrale Interessenvertreterin. Dass der Kreml mit Blick auf des Schweizer Aussenministers opportunistitischem Verhalten kein Interesse an einem solchen Vermittlungsmandat für die Schweiz hat, ist nachvollziehbar. Mit der pauschalen Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland hat die Schweiz sich als neutraler Staat abgemeldet. Schade, aber die einäugige Sicht unserer Regierung hat auch diese Chance der Schweiz verpatzt. Dummheit ist nicht strafbar.
Sieben Minuten herzliches Lachen zur Neutralität der Schweiz: hier anklicken!