Bis vor wenigen Tagen estnische Premierministerin und jetzt designierte "Außenministerin" der EU: Kaja Kallas. Sie ist eine extreme Hardlinerin und sagt, Russland müsse "dekolonialisiert" werden – aufgeteilt in mehrere Staaten. Wie würden die USA reagieren, wenn man von ihnen verlangte, Arizona und Kalifornien abzutrennen? (Bild Hollie Adams afp)

Die EU-Hardliner wollen Russland „dekolonialisieren“ …

(Red.) Es gibt kaum ein Land auf dieser Welt, dessen Grenzen sich in den letzten 200 Jahren nicht verschoben haben. Nur in den seltensten Fällen war es die Folge des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung, meistens war es eine direkte Kriegsfolge oder sonst eine Folge von Machtpolitik. Doch auch hier wird mit unterschiedlichen Ellen gemessen: Während niemand auf die Idee kommt, die USA aufzufordern, ihre inneren und äußeren Grenzen zu überdenken und zu korrigieren, gibt es prominente westliche Politiker, die das heutige Russland aufteilen möchten – erwartungsgemäß natürlich, um Russland damit zu schwächen. (cm)

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wurde 1975, mitten im Kalten Krieg, zur Förderung des Dialogs zwischen den West- und Ostblöcken gegründet. Nun ist die OSZE sicherlich eine respektable Institution, die theoretisch wertvolle Vermittlungsarbeit zwischen verschiedenen Ländern und Diplomatie leisten sollte. Doch manchmal lassen sich solche Organisationen von den Ereignissen überwältigen. Einst bezeichnete sich sogar die Europäische Union als „Garant des Friedens“ in Europa. Heute ist sie am Krieg in der Ukraine beteiligt und hat sich von Anfang an gegen jede Verhandlung zwischen Russland und der Ukraine gestellt. Es mag sich unglaublich anhören, aber Russland und die Ukraine haben gezeigt, dass sie mit viel besseren Ergebnissen verhandeln konnten, wenn sich europäische Vermittler nicht einmischten, oder wenn es sich bei den Vermittlern um nicht-westliche Länder wie beispielsweise die Türkei oder sogar Katar handelte. 

Doch zurück zur OSZE. Letzten Monat tagte wie jedes Jahr die Parlamentarische Versammlung der OSZE, diesmal in Bukarest, Rumänien. Im Abschlusscommuniqué hieß es unter dem Absatz „Entschließung über die Verstärkung der Unterstützung für die Ukraine“, Punkt 47, wie folgt:

„[Die Parlamentarische Versammlung der OSZE] erkennt die systematische Politik der Verletzung der Menschenrechte und der Rechte der Völker in der Russischen Föderation zum Nachteil ihrer indigenen Völker als kolonialistisch und als Verstoß gegen die grundlegenden Erklärungen der Vereinten Nationen an und erkennt, aufbauend auf der Entschließung 2024/2579 des Europäischen Parlaments vom 29. Februar 2024 und der Entschließung 2540/2024 der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vom 17. April 2024, an, dass die Dekolonialisierung der Russischen Föderation eine notwendige Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden ist.“

Im Anschluss an diese Erklärung trat Russland, das immer noch Mitglied der OSZE ist, formell aus der Parlamentarischen Versammlung der OSZE aus.

Was bedeutet die Dekolonialisierung Russlands?

Es sollte wenigstens ein bisschen verwundern, dass eine internationale Organisation zur Förderung des Dialogs, der auch Russland angehört, den Begriff der „Dekolonialisierung Russlands“ verwendet. Diese Art Rhetorik wurde bis vor einigen Jahren nur von den radikalsten und pathologisch russophoben Elementen in Ländern wie Polen oder etwa Estland übernommen. Oder von den hemmungslosesten atlantischen Denkfabriken in Washington DC, die sich nach den goldenen Tagen des Kalten Krieges sehnten. 

In Europa versuchte man in der Regel etwas vorsichtiger zu sein, um die Kränkungen der Vergangenheit und den Drang nach totaler Hegemonie auf dem europäischen Kontinent durch Vernunft zu mildern. Russland mochte man aus vielen Gründen nicht, aber man versuchte, den Dialog zu suchen und Differenzen auszugleichen. Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. Man muss ja nicht unbedingt pro-russisch sein. Doch Russophobie bleibt eine Pathologie, die den Intellekt trüben kann. Wie so oft liegt das Gute in der Mitte.

Was ist dann mit der Dekolonialisierung Russlands gemeint? Ist das heutige Russland denn ein Kolonialreich alten Stils, wie wir es aus der Vergangenheit kennen, das Überbleibsel einer längst vergangenen Epoche, in der europäische Nationen schwächere, wirtschaftlich und militärisch weniger entwickelte und in der Regel außereuropäische Nationen kolonisierten und ausbeuteten? 

In Russland will man oft Indizien sehen, die beweisen sollen, dass der Westen an einem Auseinanderbrechen der Russischen Föderation interessiert sei. Das Trauma der Auflösung der Sowjetunion und die turbulenten 1990er Jahre haben die Denkweise und die Weltanschauung einer ganzen Generation geprägt. Die Wirtschaft wurde durch die Schocktherapie kaputt gemacht, das, was blieb, wurde von einigen wenigen Oligarchen kontrolliert. Im Hintergrund gab es zwei Kriege in Tschetschenien und andere separatistische Bewegungen — gemeint ist vor allem in Tatarstan, wo 1992 ein Referendum für die Unabhängigkeit abgehalten worden war. Die Auflösung Russlands schien eine mehr als mögliche Perspektive.

In Russland glauben viele, dass der Westen eine mögliche Auflösung Russland plant. Im Westen ist es üblich, mit einer gewissen unverhohlenen Herablassung auf solche Anschuldigungen zu reagieren. Das sei nichts weiter als eine weitere Manifestation typisch russischer Paranoia, der Paranoia eines Imperiums im Niedergang. Doch in den letzten Jahren haben sich tatsächlich viele westliche Politiker und Experten immer häufiger und offener für eine Dekolonialisierung Russlands geäußert. Einfach das als russische Paranoia abzutun wäre zu billig und irgendwie nicht konsequent. Im Januar 2023 tagte im Europäischen Parlament das „Forum Freier Nationen des Post-Russlands“, eine Plattform, die darauf abzielt, für die Völker Russlands die Unabhängigkeit zu erreichen und Russland in viele kleine unabhängige Staaten aufzuteilen. Das Forum tagte später im japanischen Parlament, Ende des Jahres auch im italienischen Senat. Vielleicht geht es hier nicht nur um einen Verfolgungswahn seitens der Russen.

Die Idee, auf den Zerfall Russlands hinzuarbeiten, ist nicht neu. Sie geht dem antikolonialen Diskurs voraus, der in den 1950er und 1960er Jahren mit der Auflösung der britischen und französischen Imperien und dem darauf folgenden „Schuld-und-Reue-Narrativ“ aufkam. Bereits während des Ersten Weltkriegs hatte sich das Deutsche Reich für die Förderung des Nationalismus vieler indigener Völker innerhalb des riesigen russischen Reiches eingesetzt, insbesondere in der Ukraine und den baltischen Staaten, einer Region, in der der Einfluss der deutschen Kultur jahrhundertelang massiv gewesen war. Der ideologische Vater des romantischen Nationalismus, Johann Gottfried Herder, war ein preußischer Deutscher, der fünf wichtige Jahre seiner Jugend in Riga, im damaligen Livland, verbracht hatte.

Nach einer in Russland weit verbreiteten Theorie erhielt der ukrainische Nationalismus, die Herausbildung eines ukrainischen Nationalbewusstseins, schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts von Österreich aus einen großen Schub. In Galizien, der westlichsten Region der heutigen Ukraine, die damals zum Habsburgerreich gehörte, wurden die ukrainische Kultur und der Unterricht in ukrainischer Sprache gefördert, um potenziell destabilisierenden „moskofilischen“ Tendenzen in Lemberg entgegenzuwirken. Die Ukrainer nannten sich damals „ruski“ (mit einem „s“), viele legten mehr Wert auf die Einheit des orthodoxen Glaubens mit Moskau als auf sprachliche Unterschiede.

Die Oktoberrevolution, der Sieg der Bolschewiki im heftigen russischen Bürgerkrieg und Stalins zentralistische Vision hielten die zentrifugalen Impulse des neuen Sowjetstaates eine Zeit lang unter Kontrolle. Im benachbarten Polen, das nach mehr als einem Jahrhundert der Besatzung wieder auferstanden war, entstanden dagegen Ideen der Revanche gegenüber dem alten russischen Gegner. Unter der Führung von Marschall Jozef Pilsudski, der bis zu seinem Tod im Jahr 1935 die Zweite Polnische Republik führte, wurden die Ideen des Prometheismus und des Intermariums zum politischen Ziel. Der Prometheismus zielte darauf ab, die Unabhängigkeit der nicht-russischen Nationen innerhalb der Sowjetunion zu unterstützen. Das Intermarium-Projekt strebte ein multikulturelles Polen an, das sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstrecken sollte. 

Doch im Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920 gelang es Polen nicht, Kiew einzunehmen. Einige Monate später waren die Bolschewiken bei Warschau. Der polnischen Armee gelang es überraschenderweise, die sowjetischen Truppen zurückzuschlagen, die berühmte Schlacht ist als das „Wunder an der Weichsel“ in die Geschichte eingegangen. Prometheismus und Intermarium waren zwar Ideen, die viele Bewunderer fanden, aber sie blieben auf das Reich der Ideen beschränkt, ohne in konkrete Projekte umgesetzt werden zu können, Polen war damals dafür einfach zu schwach. Heute betrachten viele in Polen die sogenannten „Kresy“ (Polnisch für „Grenzregionen“), Gebiete, die einst zur Republik Polen-Litauen gehörten, als legitime Einflusssphäre. Es handelt sich ja aus polnischer Sicht um Gebiete, die Polen zu Unrecht genommen wurden. Es ist kein Zufall, dass sich unter den Befürwortern einer Dekolonialisierung Russlands heute viele Polen befinden.

Der postimperiale koloniale Diskurs

Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Auflösung der Kolonialreiche hielt der antikoloniale Diskurs Einzug in die Universitäten und die öffentliche Meinung. In den Jahren des Kalten Krieges unterstützte die antikapitalistische und internationalistische Sowjetunion sowohl materiell als auch ideologisch die kolonialen Befreiungsbewegungen, insbesondere in Afrika. 

Heute ist der antikoloniale Diskurs in der westlichen Welt zum Mainstream geworden. Doch diese Rhetorik hat oft den Beigeschmack von Heuchelei. Es stimmt, dass der Westen den Kolonialreichen als offene Form der Ausbeutung und militärischen Besetzung abgeschworen hat. Aber andererseits ist der Überlegenheitskomplex des Westens gegenüber dem Rest der Welt keineswegs geringer geworden. Es gilt einfach nicht mehr als gute Etikette laut auszusprechen, was so viele nach wie vor denken, nämlich dass der Westen dem Rest der Welt und den Alternativen möglicher gesellschaftlicher Organisation weit überlegen ist. Früher hat man versucht, die Welt zu evangelisieren. Heute werden Kriege geführt, um die Welt sicher für die Demokratie zu machen, egal ob in der Ukraine oder im Irak. Dass die Ergebnisse dabei oft bescheiden ausfallen, scheint niemanden zu stören. Für die Demokratie muss man notwendigenfalls auch sterben, scheinen viele zu denken.

Der antikoloniale Diskurs in Bezug auf Russland

Russland ist ein föderaler Staat, der innerhalb seiner aktuellen Grenzen von praktisch allen Staaten der Welt anerkannt wird. Die laufenden territorialen Streitigkeiten zwischen Russland und der Ukraine sind im Zusammenhang mit der inneren Stabilität der Russischen Föderation von geringer Bedeutung. Sicherlich hat Russland im Laufe seiner Geschichte Gebiete besetzt, die irgendwann von anderen indigenen Völkern bewohnt wurden. Doch Russland erreichte den Pazifischen Ozean bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts, mehr als ein Jahrhundert vor der Gründung der USA. Heute würden nur wenige Fanatiker von einer Dekolonialisierung der Vereinigten Staaten sprechen oder fordern, dass die USA Arizona und Kalifornien an Mexiko zurückgeben. Doch in Bezug auf Russland ist es akzeptabel und wird als realistisch angesehen, solche scheinbar anachronistischen Streitigkeiten wieder ins Leben zu rufen. Es ist salonfähig geworden, von so etwas wie den unabhängigen Vereinigten Staaten von Sibirien oder einem unabhängigen Kaukasus zu sprechen. Und das, obwohl in den meisten Regionen der heutigen Russischen Föderation die Russen fast überall die größte ethnische Gruppe sind. 

Natürlich strebt jedes kleine Volk nach Unabhängigkeit, das ist in gewisser Weise natürlich. Aber dass Europa jeden Anflug von Nationalismus zu Hause stigmatisiert und andernorts einen potenziell zerstörerischen Nationalismus schürt, ist nicht nur heuchlerisch, sondern geradezu irre. Kaja Kallas, die estnische Ex-Premierministerin und designierte neue außenpolitische Chefin der EU, findet es normal, lächelnd zu erzählen, dass es schön wäre, wenn es anstelle von Russland eine Reihe kleinerer Staaten gäbe. Aber was wären die Folgen, wenn man einen solchen Ansatz zu ernst nähme? Der Krieg in der Ukraine hat die Welt bereits gefährlich nahe an einen möglichen Atomkonflikt gebracht. Bislang hat sich Russland zurückhaltend und unwillig gezeigt, den Konflikt mit dem Westen zu eskalieren, und hat die atomare Schwelle nicht überschritten. Viele Falken im Westen behaupten sogar, Angst vor einer nuklearen Eskalation zu haben bedeute, in die Falle des bösen Putins zu tappen. Putin wüsste ja, dass westliche Bürger nicht bereit seien, für die Demokratie zu sterben, deswegen wolle er in den Europäern Angst vor einem Atomkrieg schüren. Doch die russische Nukleardoktrin äußert sich klar über mögliche Bedrohungen der Einheit des russischen Staates und den Einsatz von Atomwaffen. Einige scheinen zu glauben, dass, wenn die Sowjetunion ohne eine nukleare Katastrophe zerfiel, dasselbe auch mit Russland geschehen könnte. Aber es bleibt ein riskantes Spiel, bei dem Russland vielleicht nicht das einzige Land wäre, das auseinanderfallen könnte.

Siehe dazu auch: «Der größte Schweizer Medienkonzern prämiert die schlimmsten Kriegshetzer und Russenhasser».