(Red.) Die 35mm-Munition für die Fliegerabwehr-Doppelkanonen gab es schon 1964, als ich, Christian Müller, als Schweizer die Rekrutenschule absolvieren musste und dies als Radarist bei der Fliegerabwehr tun konnte. Damals kamen die Kanonen von der Schweizer Waffenfabrik Oerlikon-Bührle, die mittlerweile zum Rheinmetall-Konzern gehört. Diese Oerlikon-Doppelkanonen und damit natürlich auch die zu ihr passende 35mm-Munition werden bis heute in über 30 Ländern eingesetzt. Die damaligen Feuerleitgeräte mit dem Namen "Superfledermaus" kamen von der Firma Contraves, die zuerst mit Oerlikon-Bührle fusioniert, später aber an die staatseigene (und gegenwärtig in üble Korruptionsgeschäfte verwickelte) Rüstungsfirma RUAG übergegangen ist. In diesem Bereich ist die heutige Technologie mit der damaligen natürlich nicht mehr zu vergleichen. (cm)

Die Brüsseler Weihnachtsgans sucht Geld

Der Auftritt der neuen US-Administration in München und Brüssel, der Eklat zwischen US-Präsident Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus, sowie die spektakuläre Offensive der russischen Armee im Raum Kursk haben Schockwellen durch Europa gesendet und schon fast panisch anmutende Reaktionen verursacht. Die späte Erkenntnis, dass sich der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine nicht militärisch lösen lässt, würde eigentlich zu einem Umdenken zwingen. Manchem Transatlantiker steht eine schwierige Wende bevor und einige haben bereits klargemacht, dass sie dazu nicht bereit sind. 

Heute stellt sich für die Schweiz die Frage nach der erneuten Aufrüstung der Schweizer Armee vor dem Hintergrund der derzeitigen geopolitischen Lage. Diese Diskussion ist wohl in erster Linie einmal als Schattenboxkampf zu beurteilen, bei welchem es darum geht, aus der Politik mehr Geld für die Armee herauszupressen. Auch nach dem durchschlagenden Erfolg der russischen Armee im Kursker Frontbogen und auch nach einer bevorstehenden Expansion der russischen Streitkräfte auf möglicherweise 2½ Millionen Mann in den kommenden Jahren ist nach wie vor keine militärische Bedrohung der Schweiz durch Russland zu sehen. Es ist auch schwer vorstellbar, dass man am Sitz des Generalstabs am Moskauer Arbat die Schweiz als Bedrohung wahrnimmt. Andere Feindbilder als Russland aber haben Politik und Presse in den letzten Jahren nicht geboten. Der letztjährige Jahresbericht des Nachrichtendienstes des Bundes, der in Kooperation mit dem Militärischen Nachrichtendienst erstellt wurde, erwähnt die Möglichkeit eines militärischen Angriffs von Russland auf die Schweiz mit keinem Wort (1). Im Lichte der Praxis militärischer Beschaffungsprojekte der letzten Jahre ist die Ansicht der politischen Linken in der Schweiz, die bezweifelt, dass die Schweiz in der Lage wäre, zusätzliche Mittel für die Rüstung sinnvoll auszugeben, wohl durchaus berechtigt. Die aktuelle Bedrohung beruht auf einem Popanz. Das könnte sich schon bald wieder legen. Insofern ist der Sinn von Panikkäufen auf dem Rüstungsmarkt zu hinterfragen. 

Doch selbst wenn man einen Sinn hinter der Aufrüstung der Schweiz zu erkennen vermag, stellt sich die Frage, wie diese ihre Neutralität wahren und gleichzeitig ihre militärische Stärke ausbauen kann. Die politische Führung der Schweiz hat hoffentlich ihre Lektion aus den vergangenen drei Jahren gelernt und begriffen, dass die Beschaffungsvorhaben der Schweizer Armee bei den Rüstungsfirmen in Westeuropa und den USA letzte Priorität genießen und dass im Falle eines sich anbahnenden Kriegs in Europa generell eine Wieder-Aufrüstung der Schweizer Armee scheitern wird, weil alle anderen Kunden zuerst bedient werden (2). Möglicherweise muss die Schweiz für Neubeschaffungen in Zukunft Lieferanten von außerhalb Europas in Betracht ziehen, weil der Ausbruch eines Kriegs auf der ganzen Welt doch als erheblich weniger wahrscheinlich zu betrachten ist, als ein regionaler Krieg in Europa. Aber man möchte natürlich bei Milliarden-schweren Rüstungsgeschäften immer gerne Gegengeschäfte machen und das geht eben am besten mit den europäischen Nachbarn der Schweiz. 

Kriege der NATO finanziert durch die Schweiz?

Bevor man auf die Diskussionen um die Erhöhung der Militärausgaben der Schweiz aus 3 bis 5 Prozent des BIP eingeht, wie jüngst der deutsche Politiker Roderich Kiesewetter vorschlug (3), sollte man sich vergegenwärtigen, was das überhaupt bedeuten würde: Das wären Beträge von bis gegen 40 Milliarden Franken und damit fast die Hälfte des aktuellen Bundesbudgets. Die Ausgaben des Bundes für die Armee wachsen bis Ende der gegenwärtigen Finanzplanung im Schnitt mit 4,5 Prozent, vor allem wegen beabsichtigter steigender Rüstungsausgaben (4). Die Idee von Roderich Kiesewetter und seiner transatlantischen Kollegen dürfte vor allem darin bestehen, dass die Schweizer diese Summen primär für Waffen aus ihren Ländern ausgeben, notabene für solche, die sich in der Ukraine in den letzten drei Jahren nicht bewährt haben (5). Dazu kommt, dass mit der Steigerung der Rüstungsbeschaffung die große Gefahr entsteht, dass der Schweizer Armee danach nicht genügend Geld zur Verfügung steht, um den Ausbildungsbetrieb des Geräts zu finanzieren, sodass man es danach de facto stilllegen muss. Herr Kiesewetter war wohl einfach nicht unverfroren genug, um der Schweiz gleich vorzuschlagen, 30 Milliarden Franken jährlich à fonds perdu an die NATO zu überweisen, damit diese ihre weltweiten Kriege und die Korruption in der Ukraine weiter finanzieren kann. Anstatt dessen schlägt Herr Kiesewetter einfach eine Quersubvention mittels Rüstungskäufen vor. Eigentlich müsste man meinen, dass die Schweizer Fragen ihrer nationalen Sicherheit selbst beurteilen können. Wieso ausgerechnet Herr Kiesewetter, der 2023 die Chance gehabt hätte, an der Entwicklung der Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands mitzuwirken und die Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ, glaubt, andere belehren zu müssen, kann wohl nur er selbst beantworten (6). 

Schweizer Waffen als Game Changer? Wohl kaum!

In der Hoffnung, sie würden die eidgenössische Politik nun munter machen, haben die eifrigsten Transatlantiker begonnen, die Schweizer Zulieferer zur europäischen Industrie unter Druck zu setzen, insbesondere mit der Drohung, dass sie schweizerische Unternehmen nicht mehr berücksichtigen würden, wenn die Schweiz beim Wiederexport von Waffensystemen mit schweizerischen Komponenten Hindernisse schaffe. Als Paradebeispiel wird nach wie vor gerne die 35mm-Munition für die Fliegerabwehrkanonen angeführt (7). Diese Argumentation ist aber nur schon deshalb wenig stichhaltig, weil die Schweiz ohnehin nicht in der Lage wäre, den im Kriegsfall dramatisch steigenden Bedarf an Munition und Ersatzteilen zu decken. Natürlich möchte sich die Schweizer Industrie einen Anteil am 800 Milliarden Euro großen Rüstungskuchen Europas abschneiden. Grundsätzlich ist die Schweiz kein geeigneter Standort für Rüstungsproduktion, nicht nur wegen der restriktiven Gesetzgebung im Bereich der Waffenexporte. 

Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Schweiz keine nennenswerte eigene Rüstungsindustrie besitzt. Der Anteil der Rüstungsproduktion an der gesamten Wirtschaftsleistung der Schweiz betrug im vergangenen Jahr nur wenig mehr als 1 Promille und sie bestreitet lediglich 0,6 Prozent der gesamten Industrieproduktion des Landes (8). Zu behaupten, ohne schweizerische Lieferungen verliere die Ukraine den Krieg gegen Russland ist reine Demagogie. Die Schweiz kann die Produktion von Waffen und Gerät für ihre eigene Armee im eigenen Land nicht sicherstellen, dafür ist der eigene Bedarf zu gering. Sie ist auch nicht in der Lage, auf dem internationalen Rüstungsmarkt als Lieferant bewährter Waffensysteme aufzutreten, weil ihr Gerät kaum je irgendwo im Kampfeinsatz gestanden hat oder steht. So erging es den Schweizern beispielsweise mit dem Panzer 68 und in neuerer Zeit mit dem Sturmgewehr 90, das anderen westlichen Baumustern durchaus ebenbürtig ist (9). Darüber hinaus ist die schweizerische Gesetzgebung in Sachen Rüstungsexporte recht streng. Die Schweizer sind gut beraten, alles zu unterlassen, was sie als Kriegsgewinnler aussehen lässt, als Land, das aus sicherer Position heraus von Kriegen und vom Unglück anderer Länder profitiert. 

Europa: eine dumme, fette Weihnachtsgans

Angesichts der aktuellen geopolitischen Spannungen gibt es für die Schweiz derzeit keinen Grund, ihre Neutralität aufzugeben, denn sie hat alternative Wege, die eigene Sicherheit zu gewährleisten, ohne auf militärische Blöcke angewiesen zu sein. Das stellt die pure Existenz der NATO in Frage und ärgert Brüssel dermaßen, dass es gar nicht darum herum kommt, die Schweiz an ihre Seite zu pressen. 

Die Schweiz kann ihre Sicherheit am besten gewährleisten, indem sie sich nicht von den Trittbrett-Imperialisten in ihrer Nachbarschaft zur Beteiligung an Kriegen nötigen lässt, die nicht ihre sind. Um der Krim willen wollte die Ukraine die Welt in einen Krieg gegen Russland ziehen und jetzt bemerken die Westeuropäer mit Konsternation, dass die USA nicht mehr gewillt sind, ihnen zur Umsetzung ihrer geopolitischen Ambitionen zu helfen oder diese zu finanzieren. Das ist der Grund für die nun um sich greifende Panik in Westeuropa, wo es manchem Spitzenpolitiker – mit einiger Verzögerung freilich – zu dämmern beginnt, dass die Idee, den Ukraine-Konflikt auf dem Schlachtfeld zu lösen, nicht umsetzbar war und dass man in einer der wichtigsten Fragen aktueller globaler Politik nicht mehr gehört werden wird. Außerhalb Europas hat mancher wohl schon längst begriffen, dass selbst die Zugehörigkeit zur auf dem Papier stärksten Militärallianz der Welt kein Garant für militärische Sicherheit ist. In den vergangenen zehn Jahren hat das politische Europa es verpasst, aus einer gesicherten militärischen Stellung heraus konstruktive Initiativen zur Lösung eines Konflikts zu ergreifen, der sich in ähnlicher Form an zahlreichen anderen Orten auf dem eurasischen Kontinent wiederholen könnte. Die Europäer haben sich als dumm und reich erwiesen – ein ideales Opfer, das man nun ausnehmen kann wie eine Weihnachtsgans. 

Anmerkungen:

  1. Siehe «Sicherheit Schweiz 2024»: Der Nachrichtendienst des Bundes publiziert seinen neuen Lagebericht, Bern, 22.10.2024, online verfügbar unter https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-102858.html
  2. Die Verzögerung bei der Lieferung der Flugabwehrraketen „Patriot“ zugunsten der Schweiz führte im vergangenen Jahr zu einer Debatte. Stellvertretend dafür siehe „Verzögerte Rüstungslieferungen‘. Von «Ukraine first» ist auch die Schweiz betroffen“, bei Tages Anzeiger,21.06.2024, online unter https://www.tagesanzeiger.ch/ukraine-first-usa-verzoegern-ruestungslieferungen-an-andere-laender-211818547689
  3. Siehe „Kritik aus dem Norden: Deutschland hat genug von der Schweizer «Mini-Aufrüstung»“, bei Watson, 09.03.2025, online unter https://www.watson.ch/schweiz/international/552481553-die-schweiz-ruestet-zu-wenig-auf-sagen-die-deutschen. Vgl auch Simone Brunner, Matthias Daum und Sarah Jäggi: Zwei Löcher im Donut, bei ZEIT online Nr. 11/2025, 12. März 2025, online unter https://www.zeit.de/2025/11/militaer-oesterreich-schweiz-verteidigungsfaehigkeit-europa. Mit den aktuell 4 aktiven Landbrigaden des Österreichischen Bundesheers kann man im Vergleich zum angrenzenden Ausland kaum von militärischer Schwäche sprechen. Siehe „Organisation“ auf der Homepage des ÖBH, online unter https://www.bundesheer.at/unser-heer/organisation. Dasselbe gilt für die Schweiz mit ihren 3 mechanisierten Brigaden und den 4 Territorialdivisionen, die de facto Brigadestärke haben.
  4. Siehe „Ausgaben“ auf der Homepage der Eidgenössischen Finanzverwaltung EFV, online unter https://www.efv.admin.ch/efv/de/home/finanzberichterstattung/bundeshaushalt_ueb/ausgaben.html und „Der Bundeshaushalt im Überblick, Voranschlag 2025“, als Pdf-Datei ebd. verfügbar. 
  5. Symptomatisch dazu Patrick Zwerger: Alte F-16 ohne Chance gegen Russlands Su-35S? bei Flug Revue, 14.03.2025, online unter https://www.flugrevue.de/militaer/ukrainische-luftwaffe-ernuechtert-alte-f-16-ohne-chance-gegen-russlands-su-35s/
  6. Zu diesem Strategiepapier äußerte sich der Verfasser am 19. Juni 2023 in der öffentlichen Anhörung des Deutschen Bundestags unmissverständlich, indem er die Ruckweisung an die Bundesregierung empfahl. Siehe Homepage des Deutschen Bundestags: “Auswärtiges, Nationale Sicherheitsstrategie stößt auf geteiltes Echo”, 19.06.2023, online unter https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw25-pa-auswaertiges-sicherheitsstrategie-952500, inkl. Video ab Minuten 1 h 40′ ff.
  7. Vgl. beispielsweise Saya Bausch, Christian Rensch: Wie wichtig ist die Schweizer Munition für den Gepard-Panzer?, bei SRF News, 28.04.2022, online unter https://www.srf.ch/news/schweiz/waffenlieferungen-im-krieg-wie-wichtig-ist-die-schweizer-munition-fuer-den-gepard-panzer
  8. Siehe „Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Schweizer Rüstungsindustrie Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO Basel, September 2021“, hrsg. Von der BAK Economics AG, online unter https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/70745.pdf
  9. Es gelang der Schweizer Rüstungsindustrie nicht, die zahlreichen Mängel am Panzer 68 zu beseitigen, bevor auf dem Rüstungsmarkt eine neue Generation von Panzern verfügbar wurde, die dem, konzeptionell aus den frühen Sechzigerjahren stammenden Panzer 68 überlegen waren. Diese Mängel waren im Übungsbetrieb in der Schweizer Armee zutage getreten und. Siehe „Mängel am Panzer 68; Bericht des Ausschusses über seine Abklärungen sowie Schlussfolgerungen der Militärkommission des Nationalrates vom 17. September 1979“ online unter https://www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc.do?id=10047830. Das im internationalen Vergleich sehr präzise und in Bezug auf die Handhabung sehr vorteilhafte Sturmgewehr 90 der Schweizerischen Industrie-Gesellschaft wurde außerhalb der Schweiz lediglich in kleinen Stückzahlen von den Sondereinsatzkräften Deutschlands, Frankreichs, der USA, Indiens und Ägyptens, sowie von der Marine Saudi-Arabiens beschafft. 
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