Die Stadt Genf, bis jetzt ein internationaler Platz für Konferenzen und Vermittlungsgespräche. Doch der Entscheid der Schweizer Regierung, die Neutralität der Schweiz aufzugeben, wird in wenigen Jahren auch Genf in die Bedeutungslosigkeit bringen.

Die Aushöhlung der Neutralität untergräbt das internationale Genf. Aber Genf schweigt …

Mit seiner Entscheidung im Februar 2022, sich den einseitigen europäisch-amerikanischen Sanktionen gegen Russland anzuschließen, obwohl er immer behauptet hatte, nur von den Vereinten Nationen gebilligte und im Völkerrecht verankerte Sanktionen anwenden zu wollen, hat der Bundesrat, die Schweizer Regierung, der Neutralität und dem internationalen Genf einen schweren Schlag versetzt. Doch in Genf rührte sich niemand. Hier wird erklärt, was der Grund dieses Nicht-Reagierens ist. 

Im Prinzip hätte diese fatale Entscheidung, die das IKRK, dessen Ruf für Unparteilichkeit und Unabhängigkeit weitgehend auf der Schweizer Neutralität beruht, doch sehr beunruhigt hat, zu einem donnernden Protest führen müssen. Neben dem IKRK und den «Genfer Konventionen», deren Depositarstaat die Schweiz ist, und den humanitären Anliegen und Menschenrechten, für die sich unser Land angeblich einsetzt, hätte diese Entscheidung auch all jene beunruhigen müssen, die unsere Berufung als Gastland internationaler Organisationen und als Hauptstadt des Multilateralismus hoch schätzen. Dies war aber nicht der Fall. 

Stattdessen forderten lokale und föderale Politiker, insbesondere aus dem linken Spektrum, noch mehr Sanktionen, Verurteilungen, Boykotte und die Beschlagnahmung von Privatvermögen gegen diejenigen, die die Ukraine so „brutal angegriffen“ hatten. Dieselben Abgeordneten hatten aber nichts dagegen einzuwenden, dass die Ukraine zwischen 2014 und 2022 im Donbass 14.000 Menschen, darunter Tausende von unschuldigen Zivilisten und auch Kinder, massakrierte. Und sie rühren sich nicht und fordern keine Sanktionen, wenn ein anderer Staat, im konkreten Fall Israel, Zehntausende von unschuldigen Zivilisten in Palästina umbringt und illegal fremde Gebiete besetzt.

Anfang Juni protestierten NGO-Aktivisten und Gewerkschafter der «Internationalen Arbeitsorganisation» gegen die Wahl eines ihrer russischen Kollegen in den Vorstand der Organisation. Aber als das «Wall Street Journal» in seiner Ausgabe vom 29. Juni die giftigen Praktiken und den Rassismus einiger Führungskräfte des «World Economic Forum» WEF anprangerte, schwiegen die sonst so um gute Zwecke bemühten Aktivisten. Sie protestierten auch nicht, als der Bundesrat als Gipfel der Provokation für eine Stadt, die sich rühmt, eine Stadt des Friedens zu sein und zahlreiche Organisationen beherbergt, die den Dialog zwischen Ländern fördern, die sich im Krieg befinden, die Eröffnung eines Büros der NATO in dem nunmehr eher peinlich benannten «Haus des Friedens» bekannt gab – jener NATO, die in den letzten Jahrzehnten für zahlreiche Angriffskriege verantwortlich war, man denke etwa an die Bombardierung Serbiens im Jahr 1999.  Vor zwei Tagen, am 15. Juli 2024, hat der Direktor der Direktion für Völkerrecht des Schweizer Außenministeriums ein Abkommen über den rechtlichen Status des NATO-Verbindungsbüros in Genf unterzeichnet.

Sie freuten sich, als Russland, ein Gründungsmitglied und ständiges Mitglied des Sicherheitsrates, aus dem Menschenrechtsrat ausgeschlossen wurde. Sie zuckten mit den Schultern und spotteten, als der russische Vizeaußenminister erklärte, dass die Kaukasus-Gespräche nicht mehr in einer Schweiz stattfinden können, die parteiisch und feindlich geworden sei, und dass wir uns daher von weiteren Gipfeltreffen mit dem russischen Präsidenten verabschieden könnten, wie sie zum Beispiel 1985 zwischen Reagan und Gorbatschow oder auch im Juni 2021 zwischen Biden und Putin stattgefunden haben. Sie bedauerten und seufzten, als das CERN sich weigerte, Russland von seiner Atomforschung auszuschließen und lediglich seine Teilnahme aussetzte, obwohl es ein Pionier des Ost-West-Tauwetters war, indem es 1960, mitten im Kalten Krieg, die ersten sowjetischen Physiker aufnahm (CERN hat nicht alle Verbindungen zu Russland abgebrochen, siehe dazu RTS, 7.07.2024).

Die geopolitische Lage hat sich total verändert

Das Gravitationszentrum des Planeten verschiebt sich, die Welt zerbricht, die Spannungen nehmen zu, ein neuer Feuervorhang hat den alten Eisernen Vorhang tausend Kilometer weiter östlich auf dem europäischen Kontinent ersetzt, eine unüberwindbare Mauer der Verachtung trennt den Westen vom Globalen Süden, der jetzt die große Mehrheit an Menschen und Dollars hat, wenn man die neuesten Zahlen der Weltbank in Bezug auf das konsolidierte BIP in Kaufkraftparität betrachtet. Aber warum sollte man sich um solche Kleinigkeiten kümmern?

Ist es Verblendung? Masochismus? Unbewusste Neigung zum Selbstmord? Oder im Gegenteil ein scharfes Bewusstsein für die eigenen kurzfristigen Interessen? Zweifellos ein wenig von allem, aber mit einem klaren Übergewicht des vierten Erklärungsfaktors.

Um die fehlende Reaktion und die Sprachlosigkeit verstehen zu können, gegenüber dessen, was man als Untergrabung der Grundlagen wahrnimmt, was das internationale Genf in den letzten 150 Jahren ausgemacht hat, müssen einige grundlegende Elemente in Erinnerung gerufen werden. Die letzte Studie über die Auswirkungen des internationalen Sektors auf die lokale Wirtschaft, die am 5. März 2024 von der «Stiftung für Genf» veröffentlicht wurde, zeigt, dass das internationale Genf im engeren Sinne, d.h. die Aktivitäten der internationalen Organisationen, diplomatischen Vertretungen und NGOs, die am See ansässig sind, 33.000 Vollzeitarbeitsplätze, Tausende von Konferenzen jedes Jahr und massive Spendeneinnahmen generiert. Hinzu kommt der internationale Handelssektor. Die 2133 im Kanton registrierten privaten multinationalen Unternehmen, insbesondere Banken und Handelsunternehmen, stellten 153.000 direkte Arbeitsplätze und im Total waren es 221.000 Arbeitsplätze im Jahr 2019, und sie generierten mehr als 2,5 Milliarden Franken Steuereinnahmen. Diese beiden Sektoren sind miteinander verbunden, sie sind gewissermaßen ein Biotop und leben in einer für Genf typischen gegenseitigen Abhängigkeit. 

Die Bevölkerung des Kantons, mit 47% Ausländern und Doppelbürgern, spiegelt diese wirtschaftliche Realität perfekt wider. In der Tat schafft der internationale öffentliche und private Sektor heute jeden zweiten Genfer Arbeitsplatz und trägt 67% zur kantonalen Wertschöpfung bei. Es ist daher verständlich, dass man unter diesen Bedingungen nicht die Hennen mit den goldenen Eiern töten will und lieber alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen ergreift, um die Hähne, die den Stall bewachen, nicht zu verärgern.

Noch aufschlussreicher für diese Abhängigkeit ist eine im Juni dieses Jahres vom «Geneva Graduate Institute» veröffentlichte Studie (Paying for Multilateralism: Taking Stock on the Financing of International Organizations in Geneva, 2000-2020, by Livio Silvia-Muller & Remo Gassmann). Diese zeigte, dass jene westlichen Länder, die Mitglieder der G7 und der Europäischen Union sind, 92% der 253,7 Mrd. USD an Beiträgen für die 16 wichtigsten internationalen Organisationen in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts aufbrachten: die USA 26%, Großbritannien 8%, die EU 7%, Deutschland 6,6%. Die Schweiz lag mit 2,2% auf Platz 13.

Im Detail zeigt sich, dass 15 Geber 75% der Beiträge leisteten, darunter 14 Staaten und ein privater Geber, die Bill und Melinda Gates Stiftung (3,7% des Gesamtbetrages oder 9,4 Mrd. USD über 20 Jahre). Die Mittelzuflüsse haben sich in zwei Jahrzehnten verfünffacht und belaufen sich bis 2020 auf 23,6 Mrd. USD. Die Sektoren Gesundheit (11,5 Mrd. im Jahr 2020) und humanitäre Hilfe (Flüchtlinge, Migranten und IKRK, 9 Mrd.) sind die Hauptbegünstigten. Es sei am Rande bemerkt, dass eine Organisation wie das WEF, die vollständig privat ist, aber 2015 einen von der Schweiz anerkannten Status als internationale Organisation (und damit eine Steuerbefreiung) erhielt, jährlich zwischen 350 und 400 Mio. CHF an Einnahmen aus ihren Foren erzielt. 
Für die Schweiz ist dies ein sehr gutes Geschäft. Mit einer Nettoinvestition in Infrastruktur und Gebäude von 3,2% und jährlichen Beiträgen von 350 Mio. pro Jahr profitiert sie von hundert Prozent der Beiträge und Gebühren, die von anderen Ländern gezahlt werden. 

Wer zahlt, befiehlt!

Kurz gesagt: Wer zahlt, befiehlt! Wenn der Westen beschließt, ein Drittland zu sanktionieren, und sei es auch ein so wichtiges Land wie Russland, halten sich Bern und Genf bedeckt und haben nichts dagegen einzuwenden. 

Wird sich diese unterwürfige Haltung langfristig auszahlen? Das ist nicht so sicher. Die Autoren der Studie stellen im Übrigen die Frage nach der Abhängigkeit von diesen großen Gebern und dem größten von ihnen, den USA, in einer Welt, die in Aufruhr ist und sich in einem multipolaren Umbruch befindet, mit einem wachsenden Süden und mit den BRICS-Staaten. Ohne Lösungen anzubieten. Die Diversifizierung der Finanzierung in Richtung Privatwirtschaft ist nicht ungefährlich, wie man an der Bedeutung der Gates-Stiftung im Bereich der Impfstoffe und ihrer wachsenden Macht über die WHO seit der Covid-Krise gesehen hat. 

Diese Abhängigkeit vom Westen steht in krassem Widerspruch zum Prinzip des Multilateralismus, dessen Fackelträger Genf zu sein vorgibt. Sie führt in eine Sackgasse, aus der kein Ausweg zu sehen ist. Auf der einen Seite sieht der Westen keinen Sinn darin, seine Kontrolle über die internationalen Organisationen zugunsten von Staaten zu lockern, die ihrer Meinung nach nicht den richtigen Preis für ihren Platz zahlen. Die Länder des Südens haben ihrerseits kein Interesse daran, ihre Beiträge für Organisationen zu erhöhen, die von den Ländern des Nordens kontrolliert werden und auf die sie keinen Einfluss haben, wie man an der Blockade der Reform des UNO-Sicherheitsrates sehen kann, der nicht in der Lage ist, Indien, Brasilien oder Afrika einen Platz einzuräumen.

Es ist nicht sicher, ob die Schweiz langfristig die richtige Wahl getroffen hat, als sie im Februar 2022 ihre Neutralität opferte, um sich dem westlichen Lager anzuschließen. Durch die Bevorzugung einer Block-gegen-Block-Strategie wird sie nicht nur in Bezug auf ihre Sicherheit wenig gewinnen, sondern auch an Universalität verlieren. Sie schwächt ihren Platz auf der internationalen Bühne nachhaltig. Sie untergräbt ihre Berufung als Vermittlerin zwischen kriegführenden Staaten und ihre Rolle als Gastland des europäischen Sitzes der Vereinten Nationen und als globaler Sitz der wichtigsten internationalen Organisationen. 

Im Endeffekt wird ein sehr hoher Preis dafür fällig, Ländern zu gefallen, die uns nicht einmal dankbar dafür sein werden.

Zum Autor: Guy Mettan ist Journalist, Buchautor und Abgeordneter im Genfer Parlament. Er ist Mitglied des GIPRI-Komitees.
Zum französischen Originaltext von Guy Mettan.

Siehe dazu auch die durch das Schweizer Außenministerium geförderte Platzierung der NATO in Genf. Und so sieht es Russland.