
Analyse | Der Westen zerbricht vor unseren Augen an seinen inneren Widersprüchen
Die Ukraine-Krise strebt für alle fühl- und sichtbar einem Wendepunkt zu. Was diese Wende letztlich für Ergebnisse zeitigen wird, ist allerdings offen. Offensichtlich für jeden ist jedoch, dass die wenigen Schritte, die bisher dazu gemacht wurden, auf den verschiedenen Konfliktseiten zu völlig gegensätzlichen Reaktionen führen. In Moskau herrscht abgeklärte Ruhe. Man reagiert diplomatisch professionell auf das amerikanische Vorgehen, begleitet dieses verbal sehr sparsam jedoch konstruktiv. In EU- und NATO-Kreisen wurde hingegen eine Nervosität ausgelöst, die an Konfusion grenzt.
Am 13. Februar 2025 telefonierte der neugewählte US-Präsident Donald Trump mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Details sind nicht bekannt, jedoch lassen die Andeutungen aus dem Weißen Haus seither den Puls der europäischen Politelite voller Sorge schneller schlagen.
Nur einen Tag später, am 14. Februar 2025, spricht Trumps Stellvertreter, Vizepräsident J.D. Vance, auf der einst respektierten Münchner Sicherheitskonferenz, der MSC. Löste Trumps Telefonat schon ungläubiges Staunen und hektische Betriebsamkeit im EU- und NATO-Polit-Getriebe aus, so hatte die Rede seines Stellvertreters die Kraft eines Wirkungstreffers beim Boxen. Gäbe es ein „Spektrometer für politische Stimmungslagen“, hätten Selbige wohl zu einem Abschalten des Systems geführt: Überschreitung des Messbereichs.
Die in München im Saal Anwesenden waren schon nach wenigen Sätzen des US-Vizepräsidenten für alle sichtbar angezählt, sie schienen gerade ihren Glauben zu verlieren. Dabei nahm das Grauen erst seinen Anfang. Sie glaubten sichtbar weder ihren Augen und noch viel weniger ihren Ohren. Der Kameraschwenk in das honorige Publikum zeigte einen Bayrischen Ministerpräsidenten Söder, der sich mit einem mehr als fragenden Blick seinem Sitznachbarn zuwandte, keinem Geringeren als Jens Stoltenberg, bis vor Kurzem noch NATO-Generalsekretär. Doch auch dieser stierte nur fassungslos und mit leerem Gesicht vor sich hin.
Andere wiederum dürften so etwas wie eine Offenbarung erlebt haben. Es steht außerhalb jeden Zweifels, Vertreter dieser anderen waren im Münchner Tagungszentrum so gut wie nicht vertreten.
Doch was hatte der frisch gewählte US-Vizepräsident gesagt, dass das Publikum derart reagierte? Der Kern seiner Rede lässt sich mit wenigen Worten sinngemäß so zusammenfassen:
Jeder hat das Recht, seine Meinung zu sagen und gleichberechtigt am politischen Willensbildungsprozess teilzunehmen, egal ob diese Meinung genehm ist oder nicht. Sogenannte Brandmauern mit dem Ziel, bestimmte Meinungen auszugrenzen, sind mit einer Demokratie nicht vereinbar. Und sollte Volkes Stimme auf demokratischem Wege Kräfte wählen, die eine vom bisherigen Mainstream abweichende Meinung vertreten, so ist das zu akzeptieren und Teil und Sinn der Demokratie. Und auch die Annullierung von Wahlen – wie vor Kurzem in Rumänien – oder die Androhung ihrer Annullierung – wie von einem ehemaligen EU-Kommissar im Falle eines möglichen Nichtgefallens des Wahlergebnisses der bevorstehenden Parlamentswahlen in Deutschland angedeutet – ist nicht akzeptabel.
Inhaltlich bewegt sich diese Rede also absolut im Rahmen dessen, was insbesondere auch die EU anderen Staaten stets und ständig zu sagen pflegt und beinhaltet somit nichts Neues.
Oder vielleicht doch für einige Adressaten?
Ein Blick weit zurück in die Geschichte
J.D. Vance gebührt Dank dafür, dass er an diese demokratischen Selbstverständlichkeiten erinnert. Es macht betroffen, dass eine solche Standpauke überhaupt nötig ist. In Europa, dem Geburtsort der bürgerlichen Rechte. Denn inhaltlich entspricht das von J.D. Vance Gesagte dem Folgenden:
„Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen.“ Und damit sind wir bei Voltaire, dem dieses Zitat zugeschrieben wird. Voltaire starb 1778, also noch vor der französischen Revolution.
Wenn eine Rede derart betroffen und konfus macht, die inhaltlich auf eine 250 Jahre alte Erkenntnis aufbaut, was bedeutet das? Es kann im Grunde nichts anderes bedeuten, als dass die Angesprochenen sich nicht einmal auf dem Niveau befinden, wie dereinst Voltaire.
Getroffene Hunde …
Der amerikanische Vizepräsident äußerte sich sehr bestimmt, jedoch diplomatisch korrekt. Er kritisierte Zustände, griff allerdings niemanden persönlich an. Um so tiefer lassen die Reaktionen insbesondere deutscher Spitzenpolitiker blicken.
Bundeskanzler Scholz äußerte:
„Aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus haben die demokratischen Parteien in Deutschland einen gemeinsamen Konsens: Das ist die Brandmauer gegen extrem rechte Parteien.“
Mal abgesehen davon, dass der Begriff „Demokratische Parteien“ in der Auslegung von Olaf Scholz eine sehr Umstrittene sein dürfte: Die geschichtliche Erfahrung gerade seiner eigenen Partei sagt auch, dass eine derartige Brandmauer wie in seinem Verständnis damals die Machtübernahme durch die NSDAP erst ermöglichte.
Der deutsche Verteidigungsminister Pistorius kam zu dem Schluss: „Wenn ich ihn richtig verstanden habe, vergleicht er Zustände in Teilen Europas mit denen in autoritären Regimen.“ Der Mann wandelt zumindest auf dem richtigen Pfad. Allerdings ist diese Erkenntnis für ihn rein rhetorischer Natur, denn er lässt die Welt im gleichen Atemzug wissen, dass die Kritik von Vance für das Europa und die Demokratie, in der er lebt, nicht zutrifft. Wo lebt Herr Pistorius? In einem Paralleluniversum?
Auch der deutsche Bundespräsident ließ es sich nicht nehmen mitzuteilen, wie weit entfernt er von den Realitäten dieser Welt lebt: „Die neue amerikanische Administration hat ein anderes Weltbild als wir.“ Damit hat er ganz sicher recht. Allerdings macht er diesen durchaus positiv zu bewertenden Aspekt mit dem folgenden Satz völlig zunichte: „Eines (ein Weltbild), das keine Rücksicht nimmt auf etablierte Regeln, auf gewachsene Partnerschaft und Vertrauen.“
Das sagte Bundespräsident Steinmeier, der als deutscher Außenminister und somit im Namen seines Landes im Jahre 2014 eine Vereinbarung zwischen der damaligen ukrainischen Regierung Janukowitsch und der militanten ukrainischen Opposition unterzeichnete, deren von Deutschland unwidersprochener Bruch die Tür zum heutigen Blutvergießen erst öffnete. Denn der sofortige Bruch dieser vertraglich etablierten Regeln durch die von den USA und der EU installierte und unterstützte, wie gesagt militante ukrainische Opposition störte weder den deutschen Außenminister noch die deutsche Regierung oder die EU-Führung und rief ihrerseits nicht den mindesten Protest hervor.
Unreife, gefährliche, friedensverachtende Politik als politischer Offenbarungseid
Die Reaktionen der deutschen Politik stehen beispielhaft für die Reaktionen der führenden Politiker fast der gesamten EU. Sie lassen wiederum den Schluss zu, dass den führenden Vertretern der EU und der meisten ihrer Mitgliedsstaaten all die wichtigen politisch-zivilisatorischen Errungenschaften seit Voltaire, die das friedliche Zusammenleben der Völker insbesondere seit dem letzten großen Krieg erst möglich machten, ebenfalls fremd sind bzw. fremd geworden sind.
Diese Schlussfolgerung ist keineswegs zynisch gemeint. Denn wenn den führenden Vertretern der EU in ihrem Verhalten schon gegenüber innerstaatlichen Opponenten – worauf Vizepräsident Vance in seiner Rede abstellte – nicht einmal die obige einfache Erkenntnis von Voltaire Richtschnur ihres Handelns ist, wie kann die Öffentlichkeit dann erwarten, dass diese Vertreter in der Lage und vor allem Willens sind, deutlich komplexere internationale Vereinbarungen in Wort und Geist umsetzen zu können und vor allem zu wollen.
Beispielhaft seien hier nur einige genannt: UNO-Charta, KSZE-Konferenz von Helsinki, Charta von Paris, Istanbuler Vereinbarungen, Budapester Memorandum, Minsker Vereinbarungen, ja auch die NATO-Russland-Akte. Die Reihe ließe sich noch lange fortsetzen. Sie alle bauen aufeinander auf, beziehen sich aufeinander und bildeten in ihrer komplexen und komplizierten Gesamtheit das tragfähige Geflecht, auf dem insbesondere die Völker Europas ihr friedliches Zusammenleben seit dem letzten großen Krieg gestalten konnten.
Diese Basis wurde durch die Ereignisse und Handlungen des Westens in den letzten 10-20 Jahren nachhaltig und vorsätzlich geschädigt, wenn nicht gar unwiederbringlich zerstört. Zumindest ist das politische Europa – also die EU, so wie sie sich heute darstellt – im Ergebnis dieser „Entwicklung“ weder für Russland und nun auch für USA kein Gesprächspartner mehr.
Zeitgleich anderswo
Am Tag, als Vance seine Rede in München hielt, gab der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson in den Vereinigten Arabischen Emiraten ein Interview. Darin ging Orban auch auf die innere Verfasstheit der EU ein und bestätigte die Aussagen von Vance – ohne dessen Rede zu diesem Zeitpunkt zu kennen. Er beschreibt gegenüber Carlson die Lage in Europa so:
„Sie [er meint Carlson] leben in den Vereinigten Staaten und es ist wahrscheinlich schwierig für Sie, sich die Stärke der liberalen Diktatur im öffentlichen Leben vorzustellen, unter der wir in Europa leben. Der Druck seitens der liberalen öffentlichen Meinung ist so stark, dass in den letzten drei Jahren die Staats- und Regierungschefs alle demselben Weg folgten.
Stellen Sie sich vor, ein großer europäischer Führer sagt: Wir müssen die Ukraine unterstützen, was immer es kostet. Dann gibt es einige Veränderungen in der Welt, also ist unsere bisherige prinzipielle Position nicht mehr dieselbe. Eine solche Veränderung mit den derzeitigen Führern vorzunehmen, ist schwer vorzustellen.
Angesichts der amerikanischen Entscheidungen ist es an der Zeit, nüchtern zu werden. Doch wir befinden uns noch in der Phase des Zuprostens. Gerade heute haben die großen europäischen Zeitungen bekanntgegeben, dass die großen europäischen Nationen weitermachen wollen wie bisher.“
Es sagt viel über die innere Verfasstheit der EU aus, dass dieses Interview Tucker Carlson/Viktor Orban in Medien wie der FAZ oder der Süddeutschen Zeitung mit keinem Wort erwähnt wird.
Abschließendes
Die USA und Russland – so hat es den Anschein – sind fest entschlossen, den Ukraine-Konflikt zu einem Ende zu bringen und führen inzwischen dazu Gespräche in Saudi-Arabien. Um ihn zu lösen, werden beide Seiten viele heiße Eisen anfassen müssen, die weit über den unmittelbaren Konflikt hinausgehen und in ihrem Ergebnis einer Neuordnung der internationalen Beziehungen gleichen dürften. Der Begriff „Neues Jalta“ wird nicht von ungefähr immer wieder genannt.
Ausgehend von der realpolitischen Lage innerhalb der EU ist es nur konsequent und überaus vernünftig, dass die beiden Großmächte darauf verzichten, bei dieser Diskussion der EU irgendein Mitsprachrecht einzuräumen.
Die Führung der EU ist offensichtlich nicht in der Lage, außerhalb des eigenen begrenzten Meinungskorridors auch nur zu denken. Die Reaktionen auf die Rede von Vance sowie das in München ganz offen dem nicht legitimierten Selenskyj gegebene Versprechen, gemeinsam mit der alles andere als demokratischen Ukraine gegenüber Russland nur aus einer Position der Stärke verhandeln zu wollen, zeigt die Verbohrtheit, Unfähigkeit, politische Unreife und völlige Weltfremdheit der derzeitigen Machthaber in der EU. (Hervorhebung durch die Redaktion.)
Solange die EU und insbesondere Deutschland die sich schnell verändernden internationalen Realitäten nicht anerkennen und ihre Politik entsprechend neu justieren, solange werden die großen Entscheidungen über den Kopf der Europäer hinweg getroffen, mit all den sich daraus zwingend ergebenden negativen Folgen. Zu Recht.
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Siehe zur gleichen Thematik auch den Kommentar des US-Politologen Oliver Boyd-Barrett.