Der Wehrmachtsoffizier, der seinem Land die Niederlage wünschte – Recherche der Kriegsroute meines Großvaters durch die Ukraine
Der Großvater unseres Autors war im Zweiten Weltkrieg als Arzt auf den Ost-Feldzügen – und dadurch fürs Leben verstört worden. Seine Eindrücke hat er mit einer Leica-Kamera auf über 1200 Bildern festgehalten. Diese Spiegelbilder seiner Seele sowie der besetzten Gebiete veranlassten den Enkel zu einer Spurensuche.
Irgendwann wollte ich es wissen. Ich war zeitweise mit einer Russin liiert gewesen und sie hatte mich es nie gefragt. Auch ihre Eltern und Freundinnen nicht. Aber für mich wurde die Frage immer drängender: Wo war mein Großvater in Russland im II. Weltkrieg? Genauer: Wo war er in der Sowjetunion? Plötzlich ging die Weltgeschichte mitten durch die privateste Beziehung. – Idiotischer Affekt: Er wird doch wohl hoffentlich nicht in der Schwarzerderegion gewesen sein, wo Nataschas Eltern und Großeltern lebten! Als ob im anderen Falle irgendetwas besser gewesen wäre. Der bange Gedanke kam immer wieder: Was hat mein Großvater in Russland gemacht? Was hat er dort gesehen? Was mag er mitbekommen haben von den Verbrechen von Wehrmacht und SS?
Die Frage hatte schon jahrelang in mir gearbeitet. Spätestens seit mir 1998 klargeworden war, dass ich zehn Jahre zuvor zwar eine Versöhnungsreise in die Sowjetunion nach Minsk, Moskau und Leningrad unternommen hatte, dass ich zwar damals auf russischen und weißrussischen Gedenkstätten bewegende Begegnungen mit Sowjetbürgern hatte – dass ich jedoch merkwürdigerweise die ganze Reise über und auch noch Jahre später nicht auf die Idee gekommen war, dass mein Großvater in beiden Weltkriegen ja auch in Russland war! Irgendeine Instanz meines Unbewussten hatte offenbar diesen „Link“ blockiert!
Ein Wehrmachtsoffizier, der seinem Land die Niederlage wünschte
Wie bereits im II. Teil dieser Serie (Globalbridge.ch wird noch die ganze Serie bringen. Red.) angedeutet: Mein Großvater mütterlicherseits (Jahrgang 1891), ein hochgebildeter kultivierter Mann, Facharzt für Inneres und Leiter eines katholischen Krankenhauses in Saarbrücken, war kein Nazi. Ein Widerstandskämpfer war er nicht. Ich weiß aber, dass er und seine Frau dem Regime gegenüber soweit auf Distanz gingen wie das damals möglich war, ohne sich und die achtköpfige Familie zu gefährden. Als Vertretern des katholischen Bildungsbürgertums war ihnen die nationalsozialistische rassistische Weltanschauung zuwider. Mein Großvater versuchte seine jüdischen Ärztekollegen solange am Krankenhaus zu halten, bis er selber von der Gestapo vorgeladen wurde. Zusammen mit meiner Großmutter besuchte er die befreundeten und angeheirateten jüdischen Ehepaare noch zu einem Zeitpunkt, als dies für „Arier“ immer gefährlicher wurde. Und ich weiß auch, dass er große Sympathien für das russische Volk hatte.
Aber er war in beiden Kriegen in Russland als Soldat. Im I. Weltkrieg als Sanitätsoffizier und im II. Weltkrieg als Oberstabsarzt und Leiter eines Armeelazaretts. Das grausame Spannungsverhältnis, das er – und als fernes Echo während der Recherche auch ich – aushalten musste: Er war natürlich de facto ein Okkupant – wenn auch ein Okkupant wider Willen. Dies belegte nicht zuletzt eine Aufzeichnung in den Memoiren meiner Großmutter, die sich bereits auf das Jahresende 1939 bezog, als mein Großvater, den man in der ersten Novemberhälfte als Standortarzt in den besetzten „Warthegau“ eingezogen hatte, nach sechs Wochen für einen kurzen Silvesterurlaub seine Familie am Rhein wieder ein paar Tage besuchen konnte:
„Vati war vollkommen verstört. Er sprach fast nichts und immer dasselbe. Er setzte sich irgendwo hin, nur auf einen harten Stuhl und wiederholte immer wieder: ‚Ich mag nicht mehr weiterleben. Ich bin Zeuge gewesen von ungeheuerlichen Greueln und Morden, begangen von Deutschen an Polen und Juden.‘ Einmal hat er es gewagt – es war sehr gefährlich! –, einem SS-Mann sein Entsetzen über die Untaten kundzutun. Er bekam die Antwort: ‚Ihr Gewissen ist durch eine zweitausendjährige falsche Beeinflussung völlig verbildet![1]
Und meine damals elfjährige Tante berichtete von denselben Tagen: „Ich erinnere mich noch genau, wie ich in diesen Weihnachtstagen einmal ein Zimmer betrat, in dem meine Eltern saßen und miteinander sprachen. Ich hörte, wie mein Vater sagte: ‚Ich habe Schreckliches (in Polen) gesehen, der Hitler ist ein Verbrecher, er darf den Krieg nicht gewinnen. Und wenn ja, dann Gnade Gott uns Katholiken.‘ Ich meine auch, er hätte gesagt, ‚Nach den Juden kommen wir Katholiken dran.‘ Ich wußte damals sofort, daß ich mit niemandem über das Gehörte sprechen durfte.“
Ein Wehrmachtsoffizier, der seinem Land die Niederlage wünschte. Das war Ende 1939. Und der noch grausamere Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion sollte erst anderthalb Jahre später beginnen.
Die Recherche
Es war in unserer Familie bekannt, dass es noch Kartons mit einer Menge von Dokumenten über die Zeit meines Großvaters im II. Weltkrieg gibt: Tagebuchaufzeichnungen, Feldpostbriefe – und Filme mit rund 1.300 Fotos, die mein Großvater mit seiner Leica aufgenommen hatte. Die Kriegsroute meines Großvaters zu rekonstruieren, dürfte also im Prinzip kein besonders schwieriges Unterfangen sein. Allerdings waren sowohl meine Mutter als auch eine Tante von mir schon einmal an der Fülle des Materials gescheitert.
Im Frühjahr 2004 war es endlich soweit. Eine Cousine und ich hatten beschlossen, nun endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Wir besorgten uns das gesamte Material und begannen mühsam das Tagebuch unseres Großvaters mit seiner charakteristischen „Doktor-Klaue“ zu entziffern. Die gesamte Arbeit wuchs sich zu einem Projekt aus, das über ein Dreivierteljahr lang dauerte. Gemeinsam transkribierten wir die Tagebücher und die Feldpostbriefe, die mein Großvater geschrieben und erhalten hatte. Die weitere Arbeitsteilung: Meine Cousine scannte anhand der komplett erhaltenen Filme sämtliche 1.300 Fotos ein und ich übernahm die Aufgabe, den Kontext der Kriegsroute, genauer: die Verbrechen, die von den deutschen Besatzern auf dieser Strecke begangen worden waren, zu recherchieren. Am Ende sollte eine CD stehen, die das gesamte Material enthalten und allen Nachfahren meines Großvaters zur Verfügung gestellt werden sollte.
Die Tagebücher, genauer: Tagesnotizen, das zeigte sich sehr schnell, waren kein ‚Seelenspiegel‘ ihres Autors – was hätten sie auch anders sein können unter den Bedingungen strengster Zensur! Als Naturwissenschaftler hatte mein Großvater in der Regel nüchtern externe Fakten notiert: Tagesaktivitäten, Aufenthaltsorte, Einquartierungen, Krankenbelegungen, grassierende Seuchen und fast immer das Wetter. Es fanden sich allerdings auch seltene Goldkörnchen: Stoßseufzer, meist in Form von Stoßgebeten und ironische Zitate besonders absurder Beispiele der aktuellen Nazi-Propaganda. Zudem fanden wir mehrfach Beispiele für subtile Distanzierungen. So hing in jeder seiner improvisierten Arztpraxen, in der er übrigens auch Menschen aus der lokalen Bevölkerung behandelte – die Nazis nannten das „missverstandene Menschlichkeit“ –, ein Foto von seiner jüngsten Tochter als Erstkommunionkind. Da die Nazis bekanntlich stramm antiklerikal gesinnt waren, wusste er auf diese Weise sofort, was er von jemandem zu halten hatte, der dieses Foto mit abfälligen Bemerkungen quittierte. Das Erstkommunionsfoto als ‚projektiver Test‘!
Die Kriegsroute
Die Route selbst war aufgrund der Familiendokumente und einer Anfrage bei der Wehrmachtsauskunftsstelle (WASt) relativ schnell klar: Mein Großvater war Anfang November 1939 als Standortarzt ins besetzte Polen, in den „Warthegau“ eingezogen worden, wo er bis zum Sommer 1940 blieb. Dann wurde er ins besetzte Frankreich nach Nancy verlegt und von dort in der Karwoche 1941 wieder zurück nach Ostpolen, in die Nähe des Flusses San, wo die Demarkationslinie zwischen dem deutschbesetzten und dem sowjetischbesetzten Teil Polens verlief. Interessanterweise hat er mit dem Schreiben eines Tagebuches erst angefangen, als er von Frankreich nach Ostpolen zurückverlegt wurde. Offenbar war ihm bewusst, dass nun ein entscheidender Einschnitt im Kriegsverlauf bevorstand.
Während des Feldzugs gegen die Sowjetunion war mein Großvater als Oberstabsarzt der 17. Armee eingegliedert, die ihrerseits Teil der Heeresgruppe Süd war, die 1941 die Ukraine und 1942 die Krim eroberte. Während der Sommeroffensive 1942 teilte sich die Heeresgruppe Süd im Rahmen des „Unternehmen Blau“: Die Heeresgruppe A rückte in den Kaukasus, Richtung der Ölfelder von Maikop, Grosny und Baku vor, die Heeresgruppe B Richtung Stalingrad.
Die Stationen der Route meines Großvaters verliefen von Sommer bis Winter 1941 quer durch die Ukraine: Über Lemberg[2], Tarnopol, Winniza, Uman, Alexandria, Überquerung des Dnjepr, Krementschug, Lossowaja bis in den Donbass, wo der Vormarsch im Winter 1941/42 zum Stillstand kam. Von Dezember 1941 bis zur Sommeroffensive im Juli 1942 leitete mein Großvater ein Armeelazarett in der Industriestadt Konstantinowka, 80 Kilometer nördlich von Donezk. Außer Konstantinowka (heute ukrainisch: Kostjantyniwka) tauchen während seines achtmonatigen Aufenthaltes im Donbass folgende Orte in seinen Aufzeichnungen immer wieder auf: Artemowsk (Bachmut), Gorlowka (Horliwka), Slawjansk und Stalino (Donezk). Ab Juli 1942 waren die Stationen Richtung Kaukasus: Rostow am Don, Maikop und Apscheronskaja, bevor sich die 17. Armee im Winter 1942/43 unter dem Druck der vorrückenden Roten Armee über Krasnodar auf die Tamanhalbinsel am Asowschen Meer gegenüber der auf der Krim gelegenen Stadt Kertsch auf den sogenannten „Kuban-Brückenkopf“ zurückziehen musste. Im Sommer 1943 konnte mein Großvater im Alter von 52 Jahren zu seiner Familie nach Deutschland zurückkehren.
Skrupel
Soweit die recherchierten externen Fakten. Aber ich wollte ja mehr wissen. Meine Aufgabe war es ja, den Verbrechenskontext der Route zu erforschen: Welche Verbrechen waren dort von den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD sowie von den mit ihnen kooperierenden Teilen der Wehrmacht verübt worden?
Und damit begannen meine Schwierigkeiten.
Mit Beginn der genaueren Nachforschungen wurde mir mulmig. Darf ich das? Darf ich, der Nachgeborene, dem solche Prüfungen nicht auferlegt wurden, darf ich meinem toten, also wehrlosen Großvater so ‚hinterherschnüffeln‘? Wer gibt mir eigentlich dazu das Recht? Dieses Gefühl verstärkte sich, je intensiver die Nachfragen und Informationen ins Detail gingen. – Andererseits, so sagte ich mir: Ist es nicht gerade ein Akt der Verdrängung, jetzt, wo es genau wird, wo es ans Eingemachte geht, die Augen zu verschließen? Ist es nicht zynisch gegenüber den ungezählten Opfern dieser Route, wenn ich so tue, als sei mein Großvater in der Ukraine und im Kaukasus nur im Urlaub gewesen? Geht es nicht genau darum, diesen Konflikt nun auszuhalten? Außerdem: Ich werde doch mit Sicherheit nicht auf Verbrechen meines Großvaters stoßen, es geht doch ‚nur‘ darum, den Kontext seiner Route zu rekonstruieren!
Bis zu diesem Zeitpunkt dachte ich immer, ich würde in Bezug auf das Dritte Reich nichts verdrängen. Nun war ich mir dessen nicht mehr so sicher.
Immer wieder verspürte ich wider besseres Wissen in mir den Wunsch, mein Großvater möge von den ganzen Verbrechen nichts gewußt haben. Mit der rekonstruierten Route in der Hand ging ich durch die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht – Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944“ und unterhielt mich mit einem Historiker. Im Innersten wünschte ich mir eine beschwichtigende Auskunft. Der Kommentar fiel ernüchternd aus: „Eine ganz verbrechensintensive Route! Ich kann Ihnen da keine Hoffnungen machen, daß Ihr Großvater davon nichts gewußt hat!“ – Da dachte ich nur noch an die guten Zeilen von Brecht: „Gedenkt, wenn Ihr von unseren Schwächen sprecht, auch der finsteren Zeit, der Ihr entronnen seid!“
Der Kontext
Es waren all die Verbrechen, die auch den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion insgesamt kennzeichneten und in die ich mich in der kommenden Zeit immer intensiver einarbeitete. Der Krieg war ja von Anfang an nicht als ‚herkömmlicher Krieg‘, sondern als „Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen“ geplant gewesen. Der „Jüdische Bolschewismus“ sollte restlos beseitigt werden. Im Einzelnen bedeutete dies:
- Verbrecherische Befehle, die auch gegen das damals geltende Kriegsvölkerrecht verstießen, wie der „Kriegsgerichtsbarkeitserlass“ und der „Kommissarbefehl“ lieferten die Zivilbevölkerung der Sowjetunion der Willkür lokaler Befehlshaber schutzlos aus und gaben die gefangenen Politkommissare der Roten Armee zum Abschuss frei.
- In den besetzten Gebieten wurde die jüdische Bevölkerung von den vorrückenden Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD systematisch ausgerottet, die Wehrmacht leistete bei den Massenerschießungen logistische Hilfe.
- Für die sowjetischen Kriegsgefangenen war von den zuständigen Wehrmachtsstellen keine ausreichenden Vorbereitungen für deren Unterbringung und Versorgung getroffen worden. Die meisten von ihnen – von insgesamt 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen etwa 3,3 Millionen (57,9 %) – starben in deutschem Gewahrsam. Genauer: Sie verhungerten, erfroren oder starben durch Epidemien, wenn sie nicht von der Wehrmacht für den eigenen Arbeitsbedarf rekrutiert wurden.
- Da sich die Wehrmacht, die mit insgesamt drei Millionen Soldaten eingerückt war, aus dem Lande ernähren sollte, um die deutsche Bevölkerung zu schonen, wurde der Hungertod von „zig Millionen Menschen“ bewusst einkalkuliert. Laut Göring sollte das „größte Massensterben seit dem Dreißigjährigen Krieg“ stattfinden. Vor Ort verwandelte die rücksichtslose Requirierung von Nahrungsmitteln ganze Regionen in „Kahlfraßzonen“, in denen keinerlei Lebensmittel oder andere verwertbare Güter mehr vorhanden waren.
- Über drei Millionen sowjetische Zivilisten wurden als Zwangsarbeiter deportiert.
- Die Wehrmacht verwandelte im Rahmen des Antipartisanenkampfes ganze Landstriche in „Wüstenzonen“, nahm unbeteiligte Zivilisten als Geiseln, um sie zu liquidieren und verfolgte beim Rückzug eine Strategie der „verbrannten Erde“, die alles Lebenswichtige zu zerstören suchte.
Soviel war schon mal klar: Auch mein Großvater hatte – ob er wollte oder nicht – den Menschen in der Sowjetunion das Essen weggegessen. In seinen Tagebüchern und Briefen fand ich mehrfach Notizen über die „gute Versorgung“ – Notizen, die ich nur noch mit höchst gemischten Gefühlen lesen konnte. Bisweilen wurde es sogar ganz konkret: Weihnachten 1941 hatte es im okkupierten Donbass, zumindest für die Ärzte, „Pute und mächtige Weihnachtsstollen“ gegeben.[3]
Spannungen in der Familie
Die Rekonstruktion im Detail ging nicht ohne größere innere und äußere Konflikte ab. Ich sichtete die aktuelle Literatur und notierte alles, was ich über die Kriegsroute meines Großvaters durch die Ukraine und in den Kaukasus finden konnte. In mindestens drei Städten, das ergaben meine Recherchen – in Tarnopol sowie in den Orten im Donbass: in Artemowsk und Konstantinowka – wurden die Massaker an den Juden oder ganze Vernichtungsaktionen zeitlich parallel zur Anwesenheit meines Großvater durchgeführt. Sehr unwahrscheinlich, dass er davon nichts mitbekommen haben konnte. Fast alle seiner zahllosen Fotos, die er mit seiner Leica in der Sowjetunion aufgenommen hatte, beschäftigten sich mit liebevollem Blick mit Land und Leuten. In ganz seltenen Fällen hatte er aber tatsächlich Verbrechen direkt dokumentiert: Im August 1941 hatte er in Uman drei Bilder von einem Steinbruch aufgenommen, in dem Hunderte von Sowjetsoldaten festgehalten wurden, die man wenige Tage zuvor nach einer der größten Kesselschlachten gefangengenommen hatte. Unter offenem Himmel saßen sie lethargisch auf dem Boden. Die meisten von ihnen werden in den Wochen danach jämmerlich zugrundegegangen sein. Ein anderes mal hatte mein Großvater ukrainische Zwangsarbeiter in einem offenen Güterwaggon fotografiert – sehr wahrscheinlich auf dem Weg „ins Reich“.
Ein besonderes Problem bereitete mir die Frage nach der Darstellung des rekonstruierten Kontextes. Wie kann das Drama eines Okkupanten wider Willen deutlich gemacht werden? Wie konnte eine Form der Darstellung gefunden werden, die sowohl meinem Großvater als auch den Opfern dieser Route gerecht wurde? Nach längeren Diskussionen entschied ich mich für die Form einer Synopse: Neben einer Zeitleiste eine Spalte mit den Tagesnotizen meines Großvaters, dann in anderer Schrift eine Spalte mit den rekonstruierten Informationen zum Kontext – und dazwischen zur Abgrenzung ein dicker schwarzer Balken.
Schon diese Darstellung der räumlich-zeitlichen Nähe von Tagesnotizen und Verbrechenskontext sorgte jedoch bei einigen Familienmitgliedern für allergrößte Aufregung. So genau wollten es viele nicht wissen. Die direkte Gegenüberstellung wurde als polemisch, als subtiler Vorwurf gegen meinen Großvater empfunden. Beziehungen wurden zeitweise auf eine harte Probe gestellt. Welche Dynamik, das wurde mir immer klarer, musste erst in Familien virulent sein, deren Väter oder Großväter richtige Naziverbrecher gewesen waren!
Für mich selbst blieb vor allem eine Frage offen. Wir hatten die Kriegsroute meines Großvaters rekonstruiert. Ich wusste mittlerweile ziemlich genau, wie der Alltag für ihn als Oberstabsarzt und Leiter eines Armeelazaretts ausgesehen hatte. Ich wusste ebenfalls jetzt recht genau Bescheid über die zeitlich parallelen Judenerschießungen und andere Verbrechen entlang der Route. Eines wusste ich aber überhaupt nicht: Wie hatten die Sowjetmenschen auf dieser Strecke, wie hatte die lokale Bevölkerung den Krieg erlebt? Welche konkreten Erfahrungen hatte sie mit den deutschen Besatzern vor Ort gemacht? Woran konnten sie sich – sofern sie überlebt hatten – heute noch erinnern? Mit welchen Gefühle dachten sie heute an die Zeit der Okkupation und an die Deutschen?
Im Mai 2005 fuhr ich in die Ukraine.
Nach Kiew und in den Donbass.
(Die Fortsetzung mit wichtigen Informationen auch zu Bachmut, wo gegenwärtig heftigste Kämpfe stattfinden, folgt in den nächsten Tagen)
[1] Im Frühjahr 2007 unternahm ich zusammen mit meiner Cousine eine Recherchereise ins polnische Wartheland und konnte anschließend sehr plausible Hypothesen aufstellen, von welchen deutschen Greueln und Morden mein Großvater vermutlich unfreiwillig Zeuge gewesen war: Es waren unter anderem sehr wahrscheinlich Massenexekutionen an der lokalen Elite der polnischen Zivilbevölkerung.
[2] Ich verwende die Ortsbezeichnungen so, wie sie in den Aufzeichnungen meines Großvaters auftauchen.
[3] Die 17. Armee, der mein Großvater zugeteilt war, verfügte, als sie im November 1941 das Donezbecken erreichte, nur über eine Lebensmittelreserve für wenige Tage. Sie saß mit ihren 270.000 Mann und 65.000 Pferden bis zur Sommeroffensive im Juli 1942 in dieser Industrielandschaft fest, einem Ballungsgebiet mit nur wenigen Flächen. Erschwerend für die 17. Armee kam hinzu, dass die wenigen Lebensmittelreserven, die sich in den Städten befunden hatten, von der abrückenden Roten Armee zum größten Teil noch abtransportiert oder vernichtet worden war. Mit anderen Worten: Die „Zeche“ bezahlte die Zivilbevölkerung vor Ort, die hungerte.