
Der Schattenkrieg in Syrien
Es ist Syriens Schattenkrieg um die ungelöste Minderheitenfrage, die das Land immer wieder an den Rand des Abgrunds bringt.
Der US-Sonderbeauftragte für Syrien, Tom Barrack, gab letzten Samstag im Morgengrauen bekannt, dass die USA mit Unterstützung der Türkei und Jordaniens einen neuen Waffenstillstand zwischen Israel und Syrien vermittelt haben. «Wir rufen Drusen, Beduinen und Sunniten dazu auf, ihre Waffen niederzulegen und mit allen Minderheiten eine neue, vereinte, syrische Identität in Frieden und Wohlstand mit ihren Nachbarn aufzubauen», schrieb er auf X.
Türkische Anmahnung
Tom Barrack war sich bewusst, dass der noch anhaltende, bewaffnete Konflikt um Suwaida die Regierung in Ankara nervös machte. Der türkische Außenminister Hakan Fidan hatte laut der türkischen Presse seinen amerikanischen Amtskollegen Marco Rubio in einem Telefongespräch spät am Freitagabend unmissverständlich gemahnt, dass der Konflikt in Syrien beendet werden müsse; und «zwar jetzt».
Wie nervös Ankara wurde, zeigte sich auch, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in seiner gewohnt freimütigen Art Israel „einen gesetzlosen, regelwidrigen, prinzipienlosen, arroganten, verwöhnten und blutrünstigen Terrorstaat“ nannte und der israelischen Führung vorwarf, die Drusen nur als Vorwand für Angriffe auf Syrien zu benutzen. Die Türkei hat mehrere Tausende Soldaten in Nordsyrien stationiert. Hatte Hakan Fidan am Freitagabend die USA mit einem direkten Eingreifen der türkischen Truppen im Konflikt gewarnt?
Konflikt zwischen Drusen und Beduinen
Syrien ist ein Land mit vielen Sprachen, Kulturen, religiösen und ethnischen Zugehörigkeiten. Rund 70 Prozent der Syrer sind sunnitische Muslime und gehören damit der vorherrschenden Glaubensrichtung des Islam an. Etwa drei Prozent sind schiitische Muslime. Die übrigen 22 Prozent setzen sich aus Alawiten, Christen, Drusen und Kurden zusammen.
Der jüngste Konflikt zwischen den Drusen, die Anhänger einer aus dem Schiismus hervorgegangenen, mystischen Glaubensrichtung sind, und sunnitischen Beduinenstämmen war Sonntag vor einer Woche entflammt. Anfänglich mutete der Konflikt dabei als ein in dieser Region «gewöhnlicher» Streit zwischen den beiden religiösen Gruppen an: Drusen und sunnitische Beduinen hegen in Suwaida Anspruch auf dasselbe Land; radikale Islamisten betrachten die religiöse Minderheit der Drusen zudem als „Ungläubige”; beides hat oft zu blutigen Auseinandersetzungen, Entführungen und Brandschatzungen geführt.
Diesmal geriet die sektiererische Gewalt allerdings schon innerhalb von zwei Tagen ausser Kontrolle. Damaskus sah sich gezwungen, Truppen und Panzer nach Suwaida zu entsenden, um, so die offiziellen Erklärungen, dem Blutvergießen ein Ende zu setzen.
Intervention Israels
Es folgten beispiellose Gewalttaten, die die Drusen in erster Linie den syrischen Truppen zuschreiben, darunter summarische Hinrichtungen, Vergewaltigungen, Brandschatzungen und die Demütigung drusischer Geistlicher. „Wir sehen uns einem totalen Vernichtungskrieg ausgesetzt”, erklärte alarmiert der drusische Religionsführer Scheich Hikmat al-Hijri. Er rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, die Drusen zu beschützen. Scheich al-Hijri gilt als großer Kritiker der gegenwärtigen Regierung in Damaskus und betrachtet sie als eine Vereinigung von Dschihadisten.
Das Foto eines älteren drusischen Geistlichen, der von dschihadistischen Kämpfern unter Zwang rasiert wird, verbreitete sich rasend schnell und löste Tumulte unter den Drusen auch in den umliegenden Ländern aus. Die Zahl der Drusen im Nahen Osten wird auf rund eine Million geschätzt. Sie sind in Syrien (mit rund 700.000), im Libanon (rund 200.000), in Israel (150.000) und in Jordanien angesiedelt. Lokale Presseorgane meldeten, dass aufgewühlte Gruppen versuchten, die Grenze zu Syrien zu stürmen, um ihren Religionsbrüdern zu Hilfe zu eilen.
Am Mittwoch bombardierte Israel in einer beispiellosen Demonstration der Macht das Hauptquartier der syrischen Armee in Damaskus sowie Panzer der syrischen Truppen bei Suwaida. Ziel sei es, syrische Truppen daran zu hindern, in den Süden Syriens vorzudringen, erklärte Premier Benjamin Netanjahu kurz darauf, denn Israel habe den Süden Syriens zur entmilitarisierten Zone erklärt. Mit den Bombardements in Damaskus wollte Israel außerdem seine langjährige Verpflichtung zum Schutz der Drusen aufrechterhalten. Seit dem Sturz des Assad-Regimes präsentiert sich Israel gerne als Schutzpatron der syrischen Minderheiten, insbesondere der Drusen und der Kurden.
Fehlkalkulation mit tragischen Folgen?
Damaskus wurde vom Angriff Israels offenbar überrascht. Der syrische Interim-Präsident Ahmet al-Sharaa musste noch am Mittwoch einem für seine Regierung demütigenden Waffenstillstand zustimmen und seine Truppen aus Suwaida abziehen. «Wir befinden uns mitten in einem Kampf, der darauf abzielt, die Einheit unseres Landes, die Würde unseres Volkes und die Standhaftigkeit unserer Nation zu schützen», sagte er in einer an die Nation gerichteten, dramatischen Rede.
War Damaskus einer Fehlkalkulation zum Opfer gefallen, wie am vergangenen Samstag die Nachrichtenagentur Reuters nach einer ausführlichen Recherche vor Ort berichtete?
Demnach habe die Regierung al-Sharaas fälschlicherweise angenommen, von den USA sowie von Israel grünes Licht für eine Entsendung seiner Truppen in den Süden zu haben. Eine Kontrolle Suwaidas durch die syrische Armee hätte al-Sharaa in seiner Position als unumstrittener Präsident Syriens enorm gestärkt. Der US-Sonderbeauftragte habe schließlich Damaskus in den letzten zwei Wochen mehrmals ermutigt, Syrien als «ein Land» ohne autonome Zonen für Minderheiten zentral verwalten zu dürfen, so Reuters.
Geht das Blutvergießen in Suwaida also auf einen Verständnisfehler zurück, wie es der US-Außenminister Marco Rubio nannte?
Türkisch-israelische Schattenkämpfe um Syrien
Nach einer Blitzoperation seiner Hayat Tahrir al-Sham (HTS) konnte Ahmad al-Sharaa im vergangenen Dezember das verhasste Regime der Assad-Familie stürzen und als Sieger in Damaskus einziehen. Die Türkei wurde daraufhin zum mächtigsten ausländischen Akteur im neuen Syrien. Denn Ankara hatte die HTS-Bewegung, deren Wurzeln in der Qaida liegen, jahrelang logistisch unterstützt. Und wurde die Türkei für die Regierung Al-Sharaas, was Israel für die Drusen ist, nämlich zu ihrem Beschützer?
Schattenkämpfe zwischen Israel und der Türkei um Macht und Einfluss in Syrien flammen seitdem immer wieder auf und werden oft, wie jetzt am Beispiel Suwaidas, auf Kosten der Minderheiten ausgetragen. Beiden Regionalmächten schwebt die Vision vor, ihren Einfluss weit über ihre Grenzen hinweg auszubauen und den Nahen Osten nach ihrem Gusto neu zu ordnen.
Während in Tel Avivs Führungsetagen von einem „Großisrael” die Rede ist, spricht man in Ankara vom „Türkischen Jahrhundert”. Für diesen Zweck bieten sie in Syrien zwei völlig unterschiedliche Lösungsmodelle an: Die Türkei befürwortet einen einheitlichen, zentralistischen Staat, der alleinverantwortlich steht für seine Minderheiten. Das neue Syrien sollte unter strikter Kontrolle Ankaras stehen und der türkischen Wirtschaft einen ungehinderten Transport für türkische Produkte zum vielversprechenden Markt Saudi-Arabiens, des Iraks und Jordaniens garantieren.
So ließ al-Sharaa im letzten März im Einklang mit der Türkei eine Verfassungserklärung durchboxen, die dem Präsidenten beinah uneingeschränkte Kompetenzen einräumt. Ahmad al-Sharaa darf demnach für die nächsten fünf Jahre sein Land wie ein kleiner Sultan, wie ein Autokrat regieren. Die Armeeführung und das Innenministerium wurden bekannten Größen der Dschihadisten überlassen und das islamische Recht zur Grundlage der Jurisprudenz erklärt. Die Minderheiten Syriens wurden freilich nicht konsultiert.
Das genaue Gegenteil bezweckt Israel. Ein Syrien, in dem die Alawiten, Kurden und Drusen über je eine autonome Region verfügen würden, wäre als schwaches Syrien nicht in der Lage, für Israel zu einer neuen Gefahr zu werden.
Stimmungsumbruch im Westen
In den USA hielten sich beide Modelle im Kongress lange die Waage. Die große Wende kam letzten Mai in Riad, als Donald Trump den syrischen Präsidenten al-Shaara traf und ihn jung, attraktiv und einen harten Kerl mit einer sehr starken Vergangenheit nannte. Die Waagschale schien da zugunsten des «einheitlichen, zentralverwalteten Syriens» zu fallen. Was in Ankara Wohlwollen, gar Euphorie auslöste.
Gleich nach diesem Treffen haben die USA ihre Sanktionen gegen Syrien größtenteils aufgehoben. Dem Beispiel der USA folgte alsbald auch die EU.
Ein deutlicher Stimmungsumbruch zeichnete sich damals weg von den Kurden und anderen Minderheiten zugunsten von Damaskus ab, stellte die Kurdenkennerin Amberin Zaman fest. Die USA malten sich aus, dass ein stabiles Syrien in der Lage wäre, den Iran in Schach zu halten und keine Bedrohung mehr für Israel zu sein. Von einem stabilen Syrien erhoffte die EU nur eines: keine neue Flüchtlingsströme.
In Syrien funktioniere Föderalismus nicht …
Im Mai wurde Tom Barrack zum US-Botschafter in Ankara und gleichzeitig zum US-Sonderbeauftragten für Syrien ernannt. Als enger Vertrauter des US-Präsidenten machte sich der amerikanische Milliardär umgehend daran, die neue Politik seiner Regierung für Syrien umzusetzen.
In einem Interview im kurdischen Nachrichtenportal rudaw am 10. Juli forderte er in erster Linie die syrischen Kurden und im weiteren Sinn auch die Drusen auf, ihre Milizen und zivilen Institutionen ohne Wenn und Aber in den zentralistisch regierten syrischen Staat zu integrieren. Für Syriens Minderheiten gebe es nur «einen Weg, und der führt nach Damaskus», sagte Tom Barrack. Denn: «Föderalismus funktioniert in Syrien nicht».
Hat Tom Barrack mit diesen Worten unbeabsichtigt Syriens neustes Blutbad ausgelöst? Unklar.
Grosser Blutzoll
Am Sonntag rief US-Außenminister Marco Rubio die Behörden in Damaskus auf, «gewalttätige Dschihadisten» unverzüglich unter Kontrolle zu bringen, sie zur Rechenschaft zu ziehen, und ihre Einreise in Suwaida zu verhindern. Wenn Damaskus noch eine Chance auf ein vereintes, inklusives und friedliches Syrien bewahren wolle, müsse diese Katastrophe beendet werden, so Rubio.
Lokale Medien berichten tatsächlich, dass am Sonntag die Waffen in Suwaida geschwiegen haben. Die Provinz steht wieder unter der Kontrolle der Drusen. Die Gewalt hat von dem Land aber einen hohen Blutzoll gefordert. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) sind 940 Menschen ums Leben gekommen. Die Organisation warf den syrischen Regierungstruppen schwere Menschenrechtsverletzungen vor, darunter die Entführung und Hinrichtung von 165 drusischen Zivilisten und Zivilistinnen. Die Internationale Organisation für Migration der UNO meldet, dass fast 80.000 Menschen vertrieben worden seien. Die Wasser- und Stromversorgung in der betroffenen Region soll zusammengebrochen sein, Nahrungsmittel und Medizin sind Mangelware.
Ein paar Stunden zuvor traf sich Tom Barrack mit Mazlum Abdi, dem Chef der kurdisch-geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Wie Barrack auf X schrieb, um mit dem kurdischen Führer praktische Schritte «zur Integration in ein vereintes Syrien für eine friedliche prosperierende, inklusive und stabile Zukunft für alle Syrer» zu diskutieren.
Noch zehn Tage zuvor machte sich ein allzu selbstsicherer, sichtbar arroganter Barrack über die Bedenken der syrischen Minderheiten bezüglich des von ihm präsentierten US-Plans für Syrien lustig. Die USA würden zwar versuchen, einen guten Deal zwischen den Minderheiten und der syrischen Regierung zu erreichen, sagte er der Presse. Um mit einem demütigenden Unterton hinzuzufügen: „Aber wir werden nicht ewig als Babysitter hier sein”. Nun musste aber auch Barrack einsehen, dass sich ein friedliches Syrien ohne Berücksichtigung seiner Minderheiten nicht erreichen lässt.