Der Nahen Osten verkommt zu einer rechtslosen Geographie
Südisrael, Gaza und Rojava: der Nahe Osten verkommt in einen rechtslosen Zustand, in dem die Menschen nur als wertlose Manövriermasse geduldet werden.
Eine knappe Woche nach dem Überfall der Hamas in Israel wandte sich die israelische Journalistin Amira Hass mit einem «offenen Brief» an den Bundeskanzler Olaf Scholz: Die Aufgabe der deutschen Regierung sei es, „Israels Zerstörungsfeldzug jetzt zu stoppen“, schrieb sie in ihrem in der israelischen Zeitung Haaretz veröffentlichten Brief. Sie klagte die Regierung Scholz an, ihre „aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung“ verraten zu haben. Mit einer vorbehaltlosen Unterstützung für Tel Aviv erteile Berlin „einen Blankocheck für ein verwundetes, verletztes Israel, hemmungslos zu vernichten, zu zerstören und zu töten“. Amira Hass mahnte, der Bundeskanzler riskierte damit, „uns alle in einen regionalen Krieg zu verwickeln, wenn nicht sogar in einen dritten Weltkrieg, der auch Israels Überleben gefährden würde, seine Sicherheit und Existenz“.
Abrutschen in einen Zustand des alt-testamentarischen Rechts
Welche Farbe hat ein Tag, an dem 1400 Menschen wahllos ermordet, Frauen vergewaltigt, Kleinkinder geköpft, über 200 als Geiseln verschleppt und Abertausende in Schock versetzt werden? Der 7. Oktober, an dem die Gewaltorgie der palästinensischen Hamas in Israel ein Gefühl der ständigen Bedrohung verbreitete, ging als der „schwärzeste Tag“ in die jüngere Geschichte dieses Landes ein.
Bundeskanzler Olaf Scholz reiste unverzüglich nach Tel Aviv und sicherte seinen israelischen Gesprächspartnern die vorbehaltlose Unterstützung der Bundesrepublik zu: „Unsere eigene Geschichte, unsere aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung macht es uns zur immerwährenden Aufgabe, für die Existenz und für die Sicherheit des Staates Israel einzustehen.“ Diese Zusicherung erteilten Israel persönlich auch der amerikanische Präsident Joe Biden und unzählige europäische Regierungschefs. Drei Wochen später misst der Westen mit wenigen Ausnahmen geschlossen dem Recht Israels auf Selbstverteidigung die höchste Priorität ein.
Gleich nach dem Attentat der Hamas ließ Israel den Gazastreifen vollständig abriegeln. Die Versorgung mit Lebensmitteln, sauberem Trinkwasser, Medikamenten, Strom und Treibstoff wurde eingestellt. Drei Wochen später bleiben Gazas 2.2 Millionen Palästinenser ohne Wasser, ohne Nahrungsmittel, ohne Medikamente und Treibstoff; die Gaza-Stadt, in der noch vor einem Monat rund 1.1 Millionen lebten, ist nach den pausenlosen israelischen Luftschlägen grösstenteils zu Trümmern verwandelt worden. Nun irren laut Menschenrechtsorganisationen über 700‘000 Frauen, Kinder und ältere Menschen hungrig und verzweifelt im Süden des Gaza-Streifens herum, in panischer Angst, doch nicht überleben zu können, in der Furcht, vertrieben zu werden.
Der Krieg soll laut lokalen Angaben mittlerweile über 8000 Menschen das Leben gekostet haben, davon sind über 3500 Kinder. In einem vor kurzem im britischen Guardian veröffentlichten Meinungsartikel nannte der Schweizer Diplomat und Chef des Uno-Palästinenserhilfswerks UNRWA Philippe Lazzarini den Gazastreifen „Friedhof einer Bevölkerung, die zwischen Krieg, Belagerung und Entbehrungen gefangen ist“. Er fügte hinzu: „Die Geschichte wird fragen, warum die Welt nicht den Mut hatte, entschlossen zu handeln und diese Hölle auf Erden zu beenden.“
Erdoğan positioniert sich als „Retter der Palästinenser“
Der Krieg in Gaza hat die Kluft zwischen der Welt des Westens einerseits und der Welt der Muslime und des sogenannten «Globalen Südens» andererseits mit einem Schlag weiter aufgerissen. „Wie viele Tonnen Bomben müssen noch auf den Gazastreifen fallen, wie viele Kinder noch sterben, damit die Europäer endlich zu einem Waffenstillstand aufrufen?“, fragte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am letzten Donnerstag zornig. Gerade hatten die EU-Staats- und Regierungschefs in einem gemeinsamen Communiqué einmal mehr auf das Recht Israels auf Selbstverteidigung bestanden. Dass Israel als Kriegspartei gemäß geltendem Völkerrecht auch die Pflicht hat, Zivilisten zu schonen, erwähnten sie nur nebenbei.
Der türkische Präsident ist ein gewiefter Populist. Er spürt, was die Strasse in Palästina, in der arabischen Welt und in der Türkei von ihm hören will: Westliche Länder würden behaupten, für die Menschenrechte einzutreten, würden diese aber ignorieren, «weil in Gaza das Blut der Muslime ist, das fließt», sagte er letzten Samstag vor einer pro-palästinensischen Demonstration in Istanbul. Nicht erst in diesem Krieg positioniert sich Erdoğan als Fürsprecher der Palästinenser per se und als Verteidiger der unterdrückten, moslemischen Massen überhaupt. Unschuldige Menschen zu bombardieren, die in die Moscheen, Schulen und zivile Siedlungen fliehen, sei ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das fast einem Völkermord gleichkommt“, sagte er. Und er bezeichnete die Hamas als «eine Gruppe von Befreiungskämpfern und Mudschaheddin, die für den Schutz ihres Landes und ihrer Bürger kämpft». Die Menschenmassen, gemäß den Organisatoren über eine Million Demonstranten, zollten ihrem Präsidenten frenetischen Beifall – das Leid der Palästinenser bewegt sie zweifelsohne. Das unfassbare Leid, das die Hamas verursacht hat, wird geschichtlich begründet und verschwindet rasch aus dem Gedächtnis. Aus Sicherheitsgründen zog Israel seine Diplomaten aus der Türkei zurück – die israelisch-türkische Annäherung, die beide Länder in den letzten Monaten angestrebt hatten, auch sie lag in Trümmern.
Erschütternde Parallelen
Während Erdoğan Israel öffentlich anprangert, in Palästina die Zivilisten kollektiv zu bestrafen und damit fragrant gegen das Völkerrecht zu verstossen, bedient sich seine eigene Regierung der Praxis Benjamin Netanyahus: Nach einem Terroranschlag, den zwei Mitglieder der kurdische Arbeiterpartei (PKK) im Zentrum Ankaras am 1. Oktober verübt hatten, bombardierte die türkische Luftwaffe zwischen dem 5. und 9. Oktober das kurdische Nordsyrien Rojava flächendeckend: Moscheen, Schulen, Wasseranlagen und zivile Siedlungen wurden zerstört und 17 wichtige Erdölstandorte, darunter das lebenswichtige Kraftwerk Suwaydiya, getroffen. Zwei Krankenhäuser in den Regionen Cizîrê und Kobanê mussten den Betrieb vollständig aussetzen, Tausende von Schülerinnen und Schüleri ihre Ausbildung unterbrechen, 44 Menschen kamen ums Leben.
Laut der kurdischen Selbstverwaltung sollen die türkischen Luftschläge bis zu 80 Prozent der lokalen Infrastruktur zerstört haben. Die Anschläge auf den Ölsektor Nordostsyriens, einschliesslich der Gas- und Treibstoffdienstleistungen, werden demnach das Leben von rund vier Millionen Menschen langfristig beeinträchtigen. Jahrelang kämpften die Kurden Nordsyriens auf Seite der westlichen Alliierten gegen die Dschihadisten des Islamischen Staats (IS) und hofften, nach der Niederlage des IS in ihrer Heimat in Frieden leben zu können. Die massiven Angriffe der Türkei verbreiteten auch in Rojava ein Gefühl der ständigen Bedrohung. Abertausende sehen ihre Existenz bedroht.
Gewalt macht nicht vor den Grenzen von Gaza halt. Was Benjamin Netanyahu und Recep Tayyip Erdoğan eint, ist ihre rechtsnationalistische Gesinnung sowie ihre Bereitschaft, für ihren Machterhalt alles einzusetzen. Dafür sind beide Machtpolitiker auf kleinere, noch extremere Parteien angewiesen: Während in Israel die Siedlerpartei eine „Integration Palästinas ohne Palästinenser“ befürwortet, drängt Devlet Bahceli, der Vorsitzende der türkischen rassistischen Nationalistischen Bewegungspartei (MHP) auf die Errichtung einer sogenannten „türkischen Sicherheitszone“ entlang der gesamten Grenze der Türkei mit Syrien und dem Irak. Diese sollte bis zu 30 Kilometer tief innerhalb des Territoriums der Nachbarländer reichen, und nach den Vorstellungen Bahcelis von Kurden, die der Türkei nicht ergeben sind, bereinigt sein. Seit Erdoğan 2016 die unheimliche Allianz mit der MHP geschlossen hat, führt die türkische Armee faktisch ununterbrochen Krieg in dem von Kurden besiedelten Norden von Syrien und dem Irak.
Die dringlichen Appelle der UNO sowie des Internationalen Roten Kreuzes, in Gaza die Zivilisten zu schonen, verhallen wirkungslos. Netanyahu und Erdoğan glauben, sich über jeweilige internationale Verpflichtungen und über das Völkerrecht hinwegsetzen zu können. Es ist auch die Arroganz der Macht, die beide eint.
Nichts als wertlose Manövriermasse?
Aushungern, Krieg und Vertreibung: Fand im ehemals armenisch-besiedelten Berg-Karabach des Südkaukasus die Generalprobe für ein Modell statt, das nun bevorzugt auch anderswo eingesetzt werden soll?
Monatelang belagerte Aserbaidschan das kleine, abtrünnige Berg-Karabach und liess keine Nahrungsmittel, keine Medizin und keinen Treibstoff durch. Am 19. September begann seine Armee den letzten Krieg um Berg-Karabach. Einen Tag später deklarierte Aserbaidschans Despot und Erdoğans geistiges Ziehkind Ilham Alijew seinen Sieg und öffnete die Grenze zu Armenien. Abgesehen von rund 1000 Alten und Gebrechlichen haben innerhalb von nur einer Woche über 100.000 ihre angestammte Heimat in Richtung Armenien verlassen. In den neuen Landkarten Aserbaidschans, die bereits im Umlauf sind, ist keine Spur von Berg-Karabach zu sehen. Als hätte es diese Jahrtausende alte Kultur in diesem geographischen Raum nie gegeben.
„Stoppt Israels Zerstörungsfeldzug jetzt“, forderte Mitte Oktober die israelische Journalistin Amira Hass. Stoppt den Zerstörungsfeldzug der Türkei, forderten auch die Kurden Nordsyriens; sie wurden von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen. Die Weltgemeinschaft hatte es bislang vorgezogen, den Krieg in der Ukraine, das Morden im Süden Israels, den Horror in Gaza, die flächendeckende Zerstörung der Infrastruktur in Rojava und die Vertreibung der Karabach-Armenier als vereinzelte Katastrophen wahrzunehmen und darauf selektiv zu reagieren. Solange die Strafen auf dieselben Verbrechen aber anders ausfallen, solange werden vermeintliche Despoten die Gelegenheit ergreifen, die westliche Welt der „Heuchelei“ und der doppelten Moral anzuprangern und neue rechtslose Räume zu schaffen, in denen die Menschen lediglich als wertlose Manövriermasse hin- und hergeschoben werden.
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