
Der israelische Vernichtungskrieg weitet sich aus
Die israelische Armee tötet täglich Dutzende Menschen in Gaza, zerstört täglich Häuser und Ländereien der Palästinenser im Westjordanland, zerstört Agrarland in der syrischen Provinz Qunaitra, bombardiert als selbsternannter Schutzpatron der syrischen Drusen deren südsyrische Provinz Sweida und die Hauptstadt Damaskus. Israel bombardiert täglich den Libanon und tötet auch dort täglich – trotz einer Waffenruhe seit Ende November 2024.
Ohne die anhaltende militärische, politische und finanzielle Unterstützung durch die US-Administration, Deutschland, andere EU-Staaten und die NATO wäre das nicht möglich. Möglich ist die israelische Barbarei gegen die arabischen Nachbarländer auch, weil sie von medialer Propaganda begleitet werden. Staatlich orientierte und teilweise auch finanzierte Medien in den westlichen Partnerländern servieren der dort lebenden Öffentlichkeit Berichte, die auf den offiziellen israelisch-militärischen Erklärungen und westlichen Quellen basieren. Position und Perspektiven der anderen Seiten werden übergangen. So wird eine einseitige Sichtweise vermittelt.
Deutschland beispielsweise hat am 15. Juli 2025 erneut verhindert, dass die EU-Außenminister Sanktionen gegen Israel verhängen. In den meisten deutschen Medien war das kein Thema.
„Konfessionell motivierte Gewalt“ in Syrien
Ausführlich wird derzeit über angeblich „konfessionell motivierte Gewalt“ im Süden von Syrien berichtet, in Funk und Fernsehen begleitet von „Experten-Gesprächen“. Im Deutschlandfunk forderte der „Nahostexperte Gerlach“ internationale, ja deutsche Vermittlung. Der Konflikt sei durchaus lösbar“, doch die „Minderheiten in Syrien“ trauten der neuen Regierung nicht.
Am Samstag, 19. Juli, wird zum dritten Mal eine Waffenruhe verkündet, die erneut US-Außenminister Marco Rubio vermittelt haben soll. Der US-Botschafter in der Türkei, Tom Barrack, der auch US-Sonderbeauftragter für Syrien und Libanon ist, wird von den westlichen Nachrichtenagenturen mit den Worten zitiert, der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und der syrische „Interims-Präsident“ Ahmed al-Sharaa hätten sich geeinigt, die Waffen schweigen zu lassen. Die Waffenruhe werde von den USA, der Türkei und Jordanien unterstützt. Per „X“, vormals Twitter rief Barrack alle bewaffneten Gruppen auf, „Drusen, Beduinen und Sunniten“, ihre Waffen niederzulegen und „gemeinsam mit den anderen Minderheiten eine neue, geeinte syrische Identität in Frieden und Wohlstand aufzubauen.“
Mit „Sunniten“ sind vermutlich arabische Stämme aus Deraa und anderen Landesteilen gemeint, die am Freitag in die Kämpfe in Sweida eingriffen.
Hintergründe von Konflikten in Syrien sind nicht religiös
Bei den Kämpfen um Sweida ist es wichtig zu verstehen, dass es sich nicht um einen „konfessionellen“ Konflikt handelt. Vielmehr werden von zumeist ausländischen Akteuren im Eigeninteresse religiöse und ethnische Zugehörigkeiten benutzt, um innersyrische Konflikte mit angeblichen „Minderheiten“ zu schüren. Syrien ist ein Land voller religiöser und ethnischer Gruppen, die seit Jahrtausenden nicht konfliktlos, aber mit einer traditionellen Konflikt- und Versöhnungskultur miteinander gelebt haben.
So gibt es seit Jahrhunderten Konflikte mit Beduinenstämmen und zwar nicht nur in Syrien und nicht nur in Sweida. Es ist kein Konflikt der Religion, sondern es ist ein Konflikt um Land, der vor allem auf völlig verschiedenen Lebensweisen basiert. Beduinen leben in Stämmen und ziehen mit ihren Herden (Schafen, Ziegen, Kamelen) von Nord nach Süd und umgekehrt. Sie folgen den Jahreszeiten dorthin, wo es Futter und Wasser für die Tiere gibt. Sie kooperieren mit Stämmen auf der arabischen Halbinsel oder im syrisch-irakischen Grenzgebiet, sie respektieren keine Regierungen, da sie mit ihren Herden und Zelten in vielen Staaten zu Hause sind.
Konflikte treten dort auf, wo die sesshaften Menschen ihre Dörfer und Ortschaften erweitern, wo Straßen entstehen, wo Felder, Obst- und Olivenplantagen angelegt werden. Immer wieder ziehen die Beduinen quer durch Ansiedlungen, Felder und Plantagen, weil es ihre uralten Wanderrouten sind. Die Tiere freuen sich über frisches Grün, das sie von den Pflanzen fressen, sie ziehen durch Wasserbecken, die für die Bewässerung der Landwirtschaft angelegt wurden.
In Kriegs- und Krisenzeiten werden die Beduinenstämme gegen gutes Geld zu Trägern von Nachrichten über Grenzen, sie helfen Waffen und Kämpfer ebenso wie Flüchtlinge zu schmuggeln. Sie transportieren Waren aller Art über beliebige Grenzen. Jenseits ihrer Stammesverbände kennen sie keine Loyalitäten und haben daher viele Auftraggeber. Ausländische Mächte, auch das deutsche Kaiserreich, nutzten die Beduinen schon im Ersten Weltkrieg für eigene Interessen. 1914 entstand an der deutsch-kaiserlichen Botschaft in Konstantinopel eine „Nachrichtenstelle für den Orient“. Leiter war der Archäologe Max von Oppenheim, der seine guten Kontakte zu Beduinenstämmen im Norden und Osten Syriens nutzen sollte, um sie in den Kampf gegen Großbritannien und Frankreich und zugunsten Deutschlands einzubinden.
Dank ihrer grenzüberschreitenden Kenntnisse und Kontakte konnte der Krieg in Syrien von Jordanien, Irak, aus der Türkei und aus Israel immer weiter befeuert werden.
Was geschah in Sweida?
Die Deutsche Presseagentur (dpa) sprach in ihren Berichten von Kämpfen zwischen „sunnitischen Beduinen“ und „der drusischen Minderheit“ seit dem vergangenen Sonntag (13.7.2025). Quelle der Meldungen sei die aus dem Krieg bereits bekannte „Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ mit Sitz in London, die „über ein weites Netz von Informanten“ in Syrien verfüge und „in der Regel verlässlich“ sei. Diese Einrichtung wird teilweise vom Britischen Außenministerium und der EU finanziert.
Die „Regierung“ in Damaskus habe Truppen nach Sweida geschickt, um die Lage zu stabilisieren, so die Beobachtungsstelle. Dennoch steige die Todeszahl stündlich. In den folgenden Tagen eskalierte die Lage, die „Beobachtungsstelle“ berichtete von „Schnell-Hinrichtungen“. Mehrheitlich seien demnach Angehörige der syrischen Truppen und „andere Sicherheitskräfte der Regierung“ getötet worden. Zudem wurden „20 sunnitische Beduinen“ und „rund 70 Anwohner der mehrheitlich von Drusen bewohnten Provinz“ getötet. Wie üblich teilte dpa mit, dass sich „die Opferzahlen nicht unabhängig überprüfen“ ließen. Die Menschen versuchten zu fliehen, man fürchte Knappheit an Lebensmitteln und Medikamenten.
Am 14. Juli meldete sich der israelische Verteidigungsminister Israel Katz zu Wort und erklärte, Israel werde die Drusen „nicht im Stich“ lassen. Er beschuldigte die syrischen „Regierungs“-Truppen, die Drusen anzugreifen und forderte deren Abzug. Israelische Kampfjets bombardierten syrische Panzer und „wenn die Botschaft nicht ankommt“ werde man die Angriffe verstärken, so Katz. Die USA forderten Israel auf, die Angriffe auf die syrischen Truppen einzustellen, Syriens Verteidigungsminister erklärte, es gäbe eine „vollständige Waffenruhe“, man habe sich „mit den Würdenträgern“ geeinigt. Doch die Kämpfe hielten an, die Zahl der Toten stieg.
Die „syrische Armee“ – ein Gemisch aus ehemaligen Kämpfern der Nusra Front, Hay’at Tahrir al-Sham und extremen dschihadistischen Kämpfern – habe den klaren Befehl, die Drusen vor den Beduinenstämmen zu schützen, hieß es aus dem Verteidigungsministerium in Damaskus. Doch ob absichtlich oder aus Unkenntnis der Lage, marschierten die Damaskus-Truppen in Sweida ein, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Süden des Landes, auch Jbeil Ali genannt und seit Jahrhunderten Heimat der syrischen Drusen. Dort begannen sie die Drusen in ihren Häusern, Geschäften, auf ihren Feldern, in Gotteshäusern und Kirchen anzugreifen und zu ermorden. Familien, deren Kinder in Damaskus studieren, berichteten (telefonisch), dass extremistische dschihadistische Kämpfer in Uniformen der „syrischen Armee“ in die Häuser eingedrungen seien, gestohlen, Feuer gelegt und Menschen erschossen hätten. Über ein Netzwerk syrischer Mediziner in Syrien wurde bekannt, dass im städtischen Krankenhaus von Sweida zwei der vier diensthabenden Ärzte – Talaat Amer und Faten Hilal – ermordet wurden.
Das Netzwerk SOS Christen im Orient teilte mit, dass in dem Ort Al Soura al-Kabira 38 Häuser christlicher Familien angezündet worden seien. Etwa 70 Personen aus dem Ort hätten in der Kirche von Shahba Zuflucht gefunden. Die Bewohner Al Souras seien arm gewesen, berichtete ein Augenzeuge der Organisation „Kirche in Not“. Nun hätten sie alles verloren. Auch die melkitisch-griechisch-katholische Kirche St. Michael in Al Soura sei in Brand gesetzt worden, hieß es in der Mitteilung von SOS Christen im Orient. Der Mitteilung beigefügt waren erste Bilder aus dem verwüsteten Gotteshaus.
Während die Nachrichten von Angriffen und Morden international bekannt wurden, machten sich Drusen aus der Stadt und Umgebung von Majdal Shams, in den von Israel besetzten syrischen Golan-Höhen, auf den Weg in Richtung Sweida, um ihren bedrängten Brüdern und Schwestern zu helfen. Israelische Medien berichteten, die Menschen seien erst zurückgewichen, als israelische Besatzungstruppen Platzpatronen und Tränengas gegen die Menschenmenge eingesetzt hätten. Dann wurde bekannt, dass die israelische Luftwaffe zugunsten der syrischen Drusen eingreifen werde. Israelische Kampfjets bombardierten Panzer der Truppen aus Damaskus, die israelische Luftwaffe ging sogar so weit, Ziele in Damaskus anzugreifen. Bombardiert wurden das Verteidigungsministerium und andere Einrichtungen der syrischen Armee am dicht befahrenen Ommayyaden-Platz sowie unweit der Mezzeh-Hauptstraße. Live-Mitschnitte des syrischen Fernsehens und des katarischen Nachrichtensenders Al Jazeera aus Damaskus zeigten Reporter vor der Kamera, während hinter ihnen Raketen einschlugen.
Al-Sharaa ordnete erneut den Rückzug der Armee aus Sweida an und versprach, dass die Sicherheit der Drusen fortan in Syrien Priorität haben solle. Die Täter der Massaker sollten in Damaskus vor ein Militärgericht gestellt werden. Doch die Kämpfe gingen weiter.
Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates
In einer eilig einberufenen Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates am Donnerstag (17. Juli 2025, New York Ortszeit) dokumentierte Khalid Khiari, der stellvertretende UN-Generalsekretär für den Nahen Osten, Asien und den Pazifikraum das Geschehen: „Die Kämpfe forderten Hunderte von Opfern unter den Sicherheitskräften von Damaskus und den drusischen Kämpfern sowie tragischerweise auch unter drusischen und beduinischen Zivilisten, darunter Frauen, Kinder und ältere Menschen. Hunderte wurden verletzt. Es gab alarmierende Berichte über außergerichtliche Hinrichtungen und erniedrigende und entwürdigende Behandlung von Zivilisten, religiösen Persönlichkeiten und Inhaftierten. Aufnahmen von Leichenschändung und Verstümmelung sowie von Vorfällen sektiererischer Aufwiegelung und Plünderung von Privateigentum wurden in den sozialen und konventionellen Medien weit verbreitet, was zu weiteren Traumata führte und die Spannungen und Gewalt zwischen den Gemeinschaften weiter anheizte.“
Am Mittwoch hieß es, Damaskus habe seine Truppen zurückgezogen, doch schon am Donnerstag berichteten die Medien, die Kämpfe hätten erneut begonnen. Ein Kommandeur der Beduinenstämme habe der Nachrichtenagentur Reuters gesagt, die Waffenruhe gelte nur für die syrische Armee, nicht aber für die Beduinen. Sie würden kämpfen, um ihre gefangenen Brüder aus den Händen der Drusen zu befreien. Die Zahl der Toten stieg laut der „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ (London) auf über 500. Am Freitag hielten die Kämpfe an, die Zahl der Toten wurde mit „mehr als 600“ angegeben. Die israelische Armee setzte ihre Angriffe fort und „erlaubte“ schließlich Damaskus, erneut Sicherheitskräfte nach Sweida zu entsenden.
Die Vorgeschichte
Ohne die Vorgeschichte kann der Konflikt zwischen Beduinen und Drusen der unwissenden westlichen Öffentlichkeit als „konfessioneller“ religiöser Konflikt dargestellt werden, zumal die Beduinen als „sunnitisch“ bezeichnet werden, die Drusen aber als eine Religionsgemeinschaft, die irgendwie vom Islam abstamme, doch die Drusen sähen sich nicht als Muslime. Der Konflikt zwischen Drusen und Beduinen ist jedoch nicht religiöser Natur, wie oben beschrieben, es geht um Land, das die einen kultivieren und die anderen als ihr Territorium betrachten, durch das sie seit Jahrhunderten ihre Viehherden treiben.
Seit dem politischen Umbruch und der Machtübernahme durch Ahmed al-Sharaa haben die Drusen eine Verfassungsgebende Versammlung gefordert, um ordentliche Wahlen durchzuführen. Erst wenn ein Parlament installiert, eine Regierung und ein Präsident gewählt seien und eine neue Verfassung unter Mitwirkung aller Syrer inkraft getreten sei, werde man die Waffen abgeben. Ähnliche Erklärungen gab es von den Alawiten und von den Kurden. Al-Sharaa war zu schwach, um diese bewaffneten Gruppen zu überzeugen und in die Armee zu integrieren. Hinzu kommt, dass Israel und die Türkei eigene Pläne für Syrien haben. Die Türkei hat ihren Einfluss im Norden des Landes ausgedehnt, auch in der Stadt Aleppo. Israel fordert eine entmilitarisierte Zone südlich von Damaskus in den Provinzen Qunaitra, Deraa und Sweida. Um klarzustellen, dass auch eine wie auch immer geartete syrische Armee über keine Waffen verfügt, bombardierte Israel mit mehr als 500 Luftangriffen im Dezember 2024 syrische Militärbasen im gesamten Land. Die bewaffneten Drusenmilizen versucht Israel seit Dezember 2024 – ebenso wie die bewaffneten kurdischen Verbände im Nordosten – als „Schutzmacht“ zu umschmeicheln.
Doppeltes Spiel
Unmittelbar vor Beginn der jüngsten Kämpfe zwischen Drusen und Beduinen, ausgelöst durch die Entführung eines drusischen Kaufmanns, der auf dem Weg nach Damaskus war, kam es zu einer Vereinbarung zwischen den Machthabern in Damaskus und Israel. Das geheim gehaltene Treffen fand in Baku, der Hauptstadt von Aserbeidschan statt. Offiziell hatte sich der syrische Machthaber al-Sharaa am 12.7. in Baku mit dem aserbeidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev getroffen, um über die Lieferung von Gas aus Aserbeidschan nach Syrien zu beraten. Im Schatten dieser Begegnung fand hinter verschlossenen Türen ein geheimes Treffen zwischen dem syrischen Außenminister Assad al-Shibani, Kampfgefährte von al-Sharaa seit der gemeinsamen Gründung der Al Qaida-nahen Nusra Front (2012), Mitarbeitern eines neuen syrischen Geheimdienstes und israelischen Geheimdienstmitarbeitern statt. Das Treffen war von den USA vermittelt worden. Israel verlangte eine entmilitarisierte Zone im Süden Syriens, in den Provinzen Sweida, Deraa und Qunaitra. Shibani soll dem zugestimmt haben. Israel sagte im Gegenzug zu, die Regierung von al-Sharaa zu stabilisieren. Vereinbart wurde, dass die syrische Armee Sweida einnehmen und kontrollieren sollte, um die Autonomiebestrebungen der Drusen einzudämmen und die drusischen Milizen und deren Waffen dem syrischen Verteidigungs- und Innenministerium zu unterstellen. Betont wurde Berichten zufolge, dass bei der Einnahme von Sweida auf keinen Fall erneut Massaker geschehen dürften, wie Anfang März in der Küstenregion von Latakia, Tartus und Banias. Damals waren mehr als 1000 Alawiten von extremistisch-dschihadistischen Kämpfern in Uniformen der syrischen Sicherheitskräfte ermordet worden. Ein zugesagter offizieller Untersuchungsbericht über das Massaker sollte am 10. Juli veröffentlicht werden, liegt aber auch 10 Tage später noch nicht vor.
Angesichts des Geschehens in Sweida in der vergangenen Woche ist der geheime Plan zur Übernahme von Sweida offenbar fehlgeschlagen. Dass es unmittelbar nach dem Baku-Treffen einen Angriff von Beduinen auf einen drusischen Kaufmann gab, der von Sweida nach Damaskus fahren wollte, halten Beobachter der Lage in Syrien für eine „gezielte Provokation“. Die Gegenreaktion der Drusen war absehbar, das Eingreifen der israelischen Luftwaffe eskalierte zusätzlich. Vieles deutet daraufhin, dass Israel ein doppeltes Spiel spielt.
Wohin treibt Syrien
Wie nach dem Massaker an den Alawiten steht al-Sharaa angesichts der Angriffe auf die Drusen durch extremistisch-dschihadistische Kämpfer seiner offiziellen Sicherheitskräfte schwach da. Für ihn ist es wichtig, den Westen nicht zu verprellen. Die USA und Saudi-Arabien wollen al-Sharaa als den „neuen starken Mann“ in Syrien aufbauen. Die Entscheidung Washingtons, die Sanktionen gegen ihn, seine dschihadistischen Truppen und Syrien aufzuheben, waren ein klarer Affront gegen Israel, zumal Netanyahu explizit von Washington gefordert hatte, die Sanktionen gegen Syrien nicht aufzuheben. Doch Trump, der möglicherweise auf diese Weise Netanyahu in die Schranken weisen wollte, entschied anders. Bei seiner Tour durch die arabischen Golfstaaten Mitte Mai traf er mit al-Sharaa in Riad zusammen und erklärte, die Sanktionen gegen diesen persönlich und Syrien aufzuheben. Er habe „eine Chance verdient“, so Trump. Israels Einflussnahme in Syrien sollte damit zugunsten der arabischen Golfstaaten zurückgedrängt werden. Die Golfstaaten Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate und Katar hatten lange bei den USA und bei der EU für die Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien geworben. Al-Sharaa sollte der starke Mann in Syrien werden.
Für Israel ist al-Sharaa nicht akzeptabel, weil es selber den Süden Syriens – und vermutlich mehr – kontrollieren will. Analysten vermuten im Hintergrund das israelische Projekt von „Groß-Israel“, das israelische Einflußnahme und Kontrolle vom Nil bis zum Euphrat sichern soll. Die Idee geht zurück auf Theodor Herzl, der für den „Judenstaat“ und „Groß-Israel“ Stellen aus der Thora aus vorchristlicher Zeit bemühte. Wichtiges Projekt ist dabei „Davids Korridor“, eine geopolitische Achse, die von den besetzten syrischen Golan-Höhen bis Kurdistan im Nordirak reichen soll. Israel versteckt nur allzu offensichtlich dabei seinen Anspruch, Minderheitenbündnisse zu schmieden.
Der israelische Einfluss auf die nordirakischen Kurden reicht zurück in die 1960er Jahre und seit Beginn des Syrienkrieges (2011) hat Israel seinen Einfluss auf die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) ausgebaut. In dem Rahmen ist auch die solidarische Verbundenheit von „Rojava“ mit den Drusen von Sweida zu verstehen. „Davids Korridor“ soll eine Landverbindung sein, die von den besetzten syrischen Golanhöhen durch die syrischen Provinzen Deraa, Sweida, Al-Tanf, Deir Ezzor ins irakisch-syrische Grenzgebiet bei Albu Kamal an den Euphrat führt und Israel „ins Herz von Westasien“ bringt.
Insofern war die geheime Vereinbarung von Baku am 11./12. Juli seitens Israel Betrug nicht nur gegenüber den Machthabern in Damaskus, sondern auch gegenüber der Europäischen Union. Diese hat al-Sharaa und seiner Gruppe mit großen Geldzusagen in Brüssel schon den roten Teppich ausgerollt und wird nun von Israel – wie auch in Gaza und im Westjordanland – vorgeführt. Die USA scheinen vorbereitet und könnten al-Sharaa fallen lassen, was sich zahlreiche, vor allem die städtischen Syrer und auch viele im benachbarten Libanon geradezu wünschen. In Syrien wird vermutet, dass Washington mit regionalen Akteuren schon über neue Machthaber in Damaskus nachdenkt.
Das aber könnte ebenso eine Falschmeldung sein, wie der angebliche Tod von al-Sharaa oder seine Flucht aus Damaskus, was am vergangenen Freitag über das libanesische Nachrichtenportal Al Mayadeen verbreitet und international von einigen Medien aufgegriffen worden war. Inzwischen ist der Bericht bei Al Mayadeen nicht mehr abrufbar und es ist klar, dass das Nachrichtenportal nicht ausreichend recherchiert hat, um die Nachricht, die von wo auch immer gestreut wurde, zu verifizieren.
Tatsache ist, dass – wie am Anfang dieses Textes berichtet – unter US-Vermittlung al Sharaa und Netanyahu sich erneut auf den Plan geeinigt haben, der im Kern bereits in Baku vereinbart worden war. Die syrischen Drusen, genauer gesagt der Militärrat von Sweida, wird als bewaffnete Gruppe in die Damaskus-Truppen unter Kontrolle der neuen Machthaber integriert. Angeschließend wird der Militärrat in Sweida und ausschließlich in Sweida als offizielle Ordnungsmacht im Auftrag der Damaskus-Truppen eingesetzt. Dabei werden sowohl die Fahne der Drusen als auch die neue syrische Fahne eingesetzt – so können sowohl die Drusen als auch die Machthaber in Damaskus ihr Gesicht wahren.
Die Drusen folgen damit dem Beispiel der kurdisch geführten Syrisch-Demokratischen Kräften (SDF), die – auf israelisch-US-amerikanisches Anraten – eine ähnliche Vereinbarung mit den neuen Machthabern in Damaskus getroffen haben. Sie behalten ihre Waffen und kooperieren mit denen, die sie über die Kriegsjahre seit 2011 stark gemacht haben. Mit den US-Truppen und der US-geführten „Anti-IS-Allianz“ bekämpfen sie entlang der syrisch-irakischen Grenze angeblich verbliebene Gruppen des Islamischen Staates.
Tatsächlich gehen sie aber gegen die „Achse des Widerstandes“ im Irak, Syrien und Libanon vor. SDF-Einheiten sind in der illegal errichteten US-Basis Al Tanf im syrisch-jordanisch-irakischen Grenzgebiet stationiert. Sie blockieren die Verbindung zwischen Irak, Syrien und Libanon und machen den Weg frei für Israel, das – wie schon die Thora gelehrt haben soll – bis zum Euphrat, mindestens – vorrücken wird.
Der Aufruf des US-Vermittlers Tom Barrack an alle bewaffneten Gruppen in Syrien, „Drusen, Beduinen und Sunniten“, ihre Waffen niederzulegen und „gemeinsam mit den anderen Minderheiten eine neue, geeinte syrische Identität in Frieden und Wohlstand aufzubauen“, bedeutet nichts anderes, als dass Syrien in „Minderheiten“ zerteilt und als souveräner Staat zerstört wird. Die Syrer werden nicht gefragt. Sie können weder ein Parlament noch einen Präsidenten wählen. Sie haben kein Mitspracherecht für eine neue Verfassung und sollen fortan nicht mehr Syrer sein, sondern sich je nach Religion oder ethnischer Zugehörigkeit einordnen lassen. Die neuen Herren wollen Israel und die USA sein, vielleicht lassen sie die Türkei mitreden. Ahmed al-Sharaa geht es bis auf weiteres darum, im Präsidentenpalast zu bleiben.
P.S der Redaktion: Gerade hat die wichtigste US-Außenpolitik-Zeitschrift «Foreign Affairs» einen Artikel von Amos Yadlin veröffentlicht, in dem dieser Autor, seines Zeichens ehemaliger „General Major in the Israeli Air Force“ und ehemaliger „Chief of Israel’s Defense Intelligence“ erklärt, wie Israel und die USA den Nahen Osten neu ordnen können, siehe hier.