Der Holodomor war eine katastrophale Hungersnot – aber kein Genozid
(Red.) Was ist ein Genozid, ein Völkermord? Die UNO gibt dazu eine klare Definition: «genocide means any of the following acts committed with intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group.» (Völkermord sind alle Taten, die den Zweck haben, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe zu zerstören). Die Ukraine verlangt seit 1991 immer wieder, dass die große Hungersnot in den Jahren 1932/33, genannt «Holodomor», international als durch Stalin verübten Völkermord anerkannt wird. Der bekannte Schweizer Arzt und Politiker Franco Cavalli – Näheres zu seiner Person siehe unten – erklärt im Folgenden, warum der Holodomor zwar eine Tragödie historischen Ausmasses war, aber keine spezifisch gegen die Ukraine gerichtete Massnahme. (cm)
Es kommt immer häufiger vor, dass der Begriff «Völkermord» in unangemessener, um nicht zu sagen demagogischer Weise verwendet wird, was die offensichtliche Gefahr einer Verharmlosung des Wortes mit sich bringt. Dies geschieht häufig mit politischen Absichten, die fast nie erklärt werden, aber offensichtlich sind und die fast immer in eine Richtung gehen. Wenn zum Beispiel – zumindest in unseren Breitengraden – der Begriff Völkermord nie für das verwendet wird, was die Türken seit einem Jahrzehnt gegen das kurdische Volk tun, vergeht in letzter Zeit kein Tag, an dem nicht jemand über den Völkermord schreibt oder spricht, den die chinesische Regierung an der uigurischen Bevölkerung in Xinjiang verübt. Dies geht so weit, dass einige westliche Parlamente, darunter auch das niederländische, diese Anschuldigung in Erklärungen formuliert haben, die denen ähneln, die das Schweizer Parlament nach jahrelangen Debatten über den unbestreitbaren Völkermord an den Armeniern, der vor etwas mehr als 100 Jahren von der Türkei verübt wurde, abgegeben hat.
(Ich werde bei anderer Gelegenheit auf das Thema Xinjiang zurückkommen. Ich beschränke mich hier auf die Feststellung, dass vor kurzem ein wichtiges Werk von einem einhellig als großer Kenner der Materie geltenden Autor erschienen ist – Björn Alpermann, Xinjiang: China und die Uiguren –, der nach Auswertung aller verfügbaren Informationen zum Schluss kommt, dass man nicht unbedingt von einem Völkermord sprechen kann, außer vielleicht im übertragenen Sinne einer „Unterdrückung der uigurischen Kultur“. Die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet (die sehr hart gegen Maduros Venezuela vorgegangen war) scheint nach ihrem jüngsten Besuch in China zu demselben Schluss gekommen zu sein. Sie wurde sofort Opfer einer bösartigen Verleumdungskampagne durch die internationalen Medien, so dass sie erklärte, sie werde die Verlängerung ihres Mandats nicht annehmen.)
Holodomor und Stalin
Aber heutzutage sprechen unsere Medien noch häufiger vom Holodomor, d.h. dem Hungertod von etwa 3 Millionen Ukrainern zwischen 1932 und 1933, und schreiben Stalin eindeutig völkermörderische Absichten zu, sozusagen als weiteren Beweis für die historische Bosheit der Russen gegenüber den Ukrainern. Tatsächlich wurden in einigen europäischen Parlamenten, darunter auch in Italien, Anträge eingebracht, um die damaligen Ereignisse in der Ukraine als Völkermord anzuerkennen. Um dieses Thema zu erörtern, stütze ich mich hauptsächlich auf das, was Simone Oggionni, nationaler Leiter des Kultursektors von «Articolo Uno», am 28. Mai dieses Jahres in seinem Blog und anschließend in der HuffPost veröffentlicht hat. Oggionni hat u.a. ein bemerkenswertes Buch über Lucio Magri veröffentlicht, über das wir in einer früheren Ausgabe unserer Zeitschrift Quaderni vom «ForumAlternativo» berichtet haben.
Bevor wir auf die Hauptsache eingehen, sollte man sich vielleicht daran erinnern, dass Lenin bereits 1919 die repressive Politik des zaristischen Russlands umgestoßen und verschiedenen Völkern, gerade auch den Ukrainern, in allen Bereichen große Autonomie gewährt hat, weshalb Putin, als er am 24. Februar den Beginn der militärischen Aggression erklärte, Lenin als Hauptverantwortlichen für das ukrainische Problem bezeichnete.
Was ist Völkermord?
Der Begriff Völkermord definiert etwas Genaues und ist kein Synonym für Massaker oder Tragödie. Die im Dezember 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedete „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ definiert den Völkermord als die vorsätzliche und bewusste Planung und Durchführung der (vollständigen oder teilweisen) Ausrottung einer ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe. Es handelt sich also nicht um eine mögliche soziale oder sonstige Erwähnung, sondern eindeutig nur um eine ethnische, religiöse oder nationale. Um im Falle des Holodomor von einem Völkermord sprechen zu können, muss also der bewusste Wille Stalins, Millionen von Menschen als Ukrainer zu töten, nachgewiesen werden. Wie Oggionni betont, sind die „großen Hungersnöte von 1931-1933“, die auch außerhalb der Ukraine, von Kasachstan bis zur Wolga-Region, mehrere hunderttausend Opfer forderten, aber unbestritten. Die damaligen großen Hungersnöte hatten eine Vielzahl von Ursachen. Es gab natürliche Ursachen (Typhusepidemien, Dürren usw.), aber die Hungersnöte waren sicherlich auch eine Folge von Stalins politischer Entscheidung, die Zwangskollektivierung des ländlichen Raums zu beschleunigen, insbesondere um Ressourcen für die gewaltigen Industrialisierungsanstrengungen der Sowjetunion abzuschöpfen, die unter anderem das Land mit einem Anstieg des Pro-Kopf-BIP um 61 Prozent in den nächsten zehn Jahren völlig veränderten. Gemäß Oggionni waren diese Hungersnöte weitgehend die unvorhergesehene Folge der totalitären Anwendung stalinistischer Wirtschaftsentscheidungen, auch weil sie eine Selbstbestrafung für das globale System waren. Ab September 1932 verschlimmerte Stalin die Situation noch, indem er wahllos auf die Kulaken, d. h. auf die landbesitzenden Bauern und alle, die sich der Kollektivierung widersetzten, einschlug. Um ihren Widerstand zu schwächen, zögerte Stalin nicht, auch das zeigt eine der grausamsten Seiten des Stalinismus, sogar die Waffe des Hungers gegen sie einzusetzen. Und die demografischen Daten sind eindeutig: Die meisten Todesopfer kamen auf dem Lande ums Leben, weit weniger in den Städten und unabhängig von der ethnischen Herkunft oder der gesprochenen Sprache. Wenn man also schon von einer vorsätzlichen Ausrottung von Menschen sprechen will, so geschah dies sozusagen auf Basis des sozialen Status, nicht auf religiöser, ethnischer oder nationaler Basis, sodass der Begriff Völkermord in diesem Fall nicht zutrifft.
Die Russen als Opfer eines Völkermordes?
Oggionni verweist, um den Diskurs zu erweitern, auf eine Tatsache, über die wir in unserem Magazin mehrere Male gesprochen haben und auf die ich persönlich auch in einer Rede vor dem Schweizer Nationalrat vor 15 Jahren hingewiesen hatte. Eines der Gefühle, mit denen Putin seine neozaristische imperialistische Politik rechtfertigt, ist die revanchistische Stimmung, die in einem großen Teil des russischen Volkes gegen den Westen vorherrscht – gegen den Westen, der sich schuldig gemacht hat, „uns nach dem Ende der Sowjetunion zerstört zu haben“. Eine ganz ähnliche Stimmung herrschte in der deutschen Bevölkerung nach den ungerechten Maßnahmen, die Deutschland nach seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg auferlegt wurden. Diese Frustration wurde später von Hitler ausgenutzt, um an die Macht zu kommen. Nach dem Ende des Realsozialismus setzten insbesondere die Weltbank und der IWF mit Jelzin (der das demokratische Experiment durch die Bombardierung der Duma beendet hatte) als Marionette einen drastischen Übergang zur Marktwirtschaft und zum Kapitalismus durch, der zwischen 1991 und 2014 in den Ländern des Realsozialismus eine Übersterblichkeitskrise mit schätzungsweise 18 Millionen Toten verursachte, davon 12 Millionen in Russland – siehe «When Life Expectancy Is Falling: Mortality Crises in Post-Communist Countries in a Global Context». In Russland sank in dieser Zeit die Lebenserwartung von Männern um etwa 7 Jahre: eine enorme Tragödie von historischer Bedeutung.
Trotzdem gibt es keinen Grund, von einem Völkermord an den Russen zu sprechen, sondern von den verheerenden Auswirkungen einer Wirtschaftspolitik, die sich gegen bestimmte soziale Gruppen richtete (parallel dazu entstanden ja auch die sogenannten Oligarchien). Wie Simone Oggionni abschließend feststellt, geht es nicht darum, „provokante Analogien aufzustellen, es geht lediglich darum festzuhalten, dass jedes (historische) Phänomen die Notwendigkeit angemessener, nicht verallgemeinender und nicht verzerrender Definitionen mit sich bringt“. Andernfalls laufen wir Gefahr, die wirklichen Völkermorde, angefangen bei der Shoah, auf sehr gefährliche Weise zu bagatellisieren.
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Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Information zum Autor: Franco Cavalli ist ein weit über die Schweiz hinaus bekannter Schweizer Onkologe. Politisch hat er sich zuerst in seinem Heimatkanton Tessin, später auch als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei im Schweizer Nationalrat engagiert, von 1999 bis 2002 sogar als Präsident der Fraktion der SP. Schon seit vielen Jahren engagiert sich Cavalli auch international, so zum Beispiel als Gründungsmitglied und heute als Vize-Präsident der Schweizer Vereinigung mediCuba, wo er seit 1992 engagiert ist. // Zum Original des Artikels in italienischer Sprache. // Die Übersetzung besorgte Christian Müller.