Blick vom Hausberg Miatsminda auf Tbilisi. In der oberen Bildmitte die Sameba-Kathedrale mit goldenem Dach. (Alle Fotos Robert Schenk)

Der georgische Traum von EUropa 

(Red.) Nicht oft, aber immer wieder wird in den europäischen Medien über Georgien berichtet, und natürlich wird fast immer behauptet, dass Russland versuche, dieses Land widerrechtlich zu vereinnahmen. Zum Glück gibt es Leute, die skeptisch sind und am liebsten selber hinfahren, um sich direkt zu informieren und dort mit den Menschen – nicht nur mit Partei-Politikern! – zu reden. Zu ihnen gehört Elke Schenk, eine deutsche Sozialwissenschaftlerin, Lehrerin und Journalistin. Sie bereiste Georgien mit ihrem Mann Robert zusammen mit dem deutschen Hotelier Rainer Kaufmann und auch auf eigene Faust Georgien ausgiebig. Sie erzählt hier anschaulich von dieser Reise und ihren Gesprächen und fragt sich zu Recht, ob das Vorgehen der EU in puncto Georgien berechtigt und sinnvoll ist. (cm)

Der Taxifahrer, der uns zum Flughafen Tbilisi fährt, durchtrainierter Freizeitboxer, erzählt von seiner kleinen Tochter und teilt mit uns seine georgische Lieblingsmusik. Als die Straße den Blick auf die Sameba-Kathedrale freigibt, bekreuzigt er sich dreimal. Diese kleine Episode ist eine der letzten Eindrücke von der Bedeutung der georgisch-orthodoxen Kirche für die Bevölkerung, auch noch der jüngeren Generation. In vielen Kirchen sind auch jüngere Menschen zu sehen, die beten, Kerzen aufstellen und die Ikonen küssen.

Am Beispiel der Sameba-Kathedrale zeigt sich das Zusammenspiel von Politik und georgisch-orthodoxer Kirche. Die Kathedrale, erst 1994-2004 gebaut, steht dominant auf dem Elias-Hügel, wenige hundert Meter oberhalb des Präsidentenpalastes. Finanziert wurde der Bau von Bidsina Iwanischwili, der vom Sohn einer armen georgischen Bauernfamilie zum superreichen Unternehmer aufgestiegen ist. Seine Geschäftstüchtigkeit und das Chaos beim politischen und wirtschaftlichen Zerfall der Sowjetunion halfen ihm dabei. Iwanischwili unterstützte nach der „Rosenrevolution“ Michail Saakaschwilis Politik auch finanziell, indem er aus seinem Privatvermögen Polizeifahrzeuge und Ministergehälter bezahlte, um die Korruption einzudämmen. Trotzdem gilt er im Westen nicht als Philantrop, sondern als Oligarch, der Russlands Interessen in Georgien vertritt. Saakaschwilis gewaltsames Vorgehen gegen die oppositionelle Zivilgesellschaft und Medien führten zum Zerwürfnis, so dass Iwanischwili das Oppositionsbündnis „Georgischer Traum“ gründete. Seit den Parlamentswahlen von 2012 stellt der „Georgische Traum“ die Regierung.

Georgien hat eine eigene Sprache und Schrift, die keine Verbindung zum Kyrillischen zeigt. Georgier nennen ihr Land Sakartvelo, übersetzt bezeichnete der Begriff ursprünglich das Gebiet von Kartlien, der zentralen Region Georgiens. Seit mehr als 1000 Jahren wurde er auch auf andere Regionen bezogen. Über den Ursprung des Namens Georgien gibt es verschiedene Theorien. Eine Erklärung bezieht sich auf den Heiligen Georg, den Drachenkämpfer. Er wird auf einer Säule auf dem Freiheitsplatz in Tbilisi dargestellt. Eine andere Erklärung bezieht sich auf persische Quellen, die den Wortursprung im persischen Wort für Wolf (Gurg) sehen. Bei den vorchristlichen Kartwelern habe es demnach ausgeprägte Wolfskulte gegeben. Der Stadtgründer von Tbilisi trug den Beinamen Gorgassali „Wolfskopf“, da er einen Helm aus einem Wolfskopf trug.

Lebendige religiöse Tradition

Eine Begegnung an einem Grabmal gab Einblicke in die religiöse Kultur und Mentalität der Georgier. Bei einer Wanderung trafen wir auf eine Großfamilie beim Picknick am Grab. An Ostern gehen die Familien auf die Friedhöfe und feiern mit ihren Verstorbenen die Auferstehung. Es gibt Osterkuchen, selbst gekelterten Wein und weitere georgische Nationalgerichte, wie die Käsepizza Chatchapuri. Jeder, ob Bekannter oder Fremder, der vorbeikommt, wird eingeladen mitzuessen und mitzutrinken. Auch der Tote wird einbezogen, indem Wein auf der Grabstelle verteilt wird und (nur) rot gefärbte Ostereier abgelegt werden. Das rote Färbepulver wird in den Markthallen in großen Mengen angeboten.

Osterfeier am Grab

Bei der Familie, der wir begegneten, waren die männlichen Nachfahren, Töchter und Enkel anwesend, aber nicht die Mütter und Großmütter der Familie. Sie waren zuhause und bereiteten das Essen zu. Diese patriarchalischen Geschlechtsrollen fanden sich bis vor 15 Jahren auch bei der „Georgischen Tafel“, einem ritualisierten, durch Sprüche und Ansprachen von einem Tamadar strukturierten Ess- und Trinkgelage, das nur Männern vorbehalten war. 

Wir hatten die Gelegenheit an einer „Georgischen Tafel“ teilzunehmen. Neben der Fülle an köstlichen Speisen, viele auch vegetarisch, beeindruckte die Gesprächskultur. Der Tamadar führt Regie und erteilt den Gästen das Wort. So bekommt jeder (und jede) Gelegenheit zu Gesprächsbeiträgen, die anderen hören zu, keiner fällt einem anderen ins Wort.

Politisches Trauma aus der Zeit des Zerfalls der Sowjetunion

An jedem 9. April wird an das Massaker vom 9. April 1989 erinnert. Im Zuge des beginnenden Zerfalls der Sowjetunion gewannen georgisch-nationalistische Kräfte an Boden. Deren Demonstration gegen die Sowjetunion wurde gewaltsam niedergeschlagen. Junge Menschen wurden mit Spaten auf dem Platz vor dem Parlament erschlagen. In Erinnerung an dieses traumatische Ereignis legen Menschen an jedem Jahrestag Berge von Blumen am Gedenkstein vor dem Parlament nieder. Hinterbliebene zeigen Fotos der Ermordeten.

Eine Gruppe von Demonstranten, die den Haupteingang zum Parlament besetzt hält, mit einem Transparent zur Erinnerung an den 9. April 1989
Blumen und Kränze (auch des deutschen Botschafters) am Denkmal vor dem Parlament

Politische Proteste gegen die Regierungspartei

Im Zusammenhang mit den georgischen Parlamentswahlen im Oktober 2024 gab es Massendemonstrationen in Tiflis gegen die Regierungspartei, die mittlerweile zwar schwächer geworden sind, aber immer noch andauern. Die Vorwürfe von seiten der georgischen Opposition sowie westlichen Regierungen und Medien lauteten auf Wahlmanipulationen und eine zu große Russlandnähe der Regierung. Ein Demonstrant mit Gesichtsmaske, die seine Identität verbirgt, sagt, sie demonstrierten gegen die „russische Regierung Georgiens“. Selten erwähnt wird im Westen, dass die georgische Regierung unter dem angeblich russlandnahen „Georgischen Traum“ infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine ihren Antrag auf EU-Beitritt vorgezogen hat. Eine wirtschaftliche Integration Richtung EU findet seit 2014 mit dem umfassenden Freihandelsabkommen statt.

Neben Neuwahlen fordern die Demonstranten die Freilassung von inhaftierten Protestierern und die Aufhebung von Gesetzen, die NGOs mit ausländischer Finanzierung kontrollieren sollen. Die erste Fassung des „Gesetzes gegen ausländische Einflussnahme“ verlangte die Registrierung von Nichtregierungsorganisationen, wenn sie mehr als 20 Prozent ihres Budgets aus dem Ausland erhalten. Im Frühjahr 2025 wurden die Auflagen für NGOs noch einmal verschärft. Die aktuelle Version wurde analog dem US-amerikanischen Foreign Agents Registration Act (FARA) angelegt. NGOs mit ausländischer Finanzierung müssen sich als „ausländische Agenten“ registrieren lassen und diese Bezeichnung auf ihren Publikationen eintragen. Eine Delegation der Parlamentarischen Versammlung des Europarates PACE in Georgien forderte kürzlich die Aufhebung entsprechender Gesetze und kritisierte das drohende Verbot von Oppositionsparteien. 

Nach Recherchen von Almut Rochowanski und Sopo Japaridze gibt es in Georgien, einem Land mit 3,7 Millionen Einwohnern von der Größe Bayerns, mehr als 25.000 registrierte NGOs. Sie sind die lokalen Ableger der großen Geldgeber aus dem westlichen Ausland, wie Weltbank, UNO, USAID, EU-Kommission oder privaten Stiftungen wie die Open Society Foundation von George Soros. Für die akademisch ausgebildeten Georgier stellen sie eine wichtige Beschäftigungsmöglichkeit und Hoffnung auf eine politische Karriere dar. Die Autorinnen beklagen, dass „ungewählte NGOs ihr Mandat von internationalen Körperschaften (erhalten), die To-do-Listen von Reformen anlegen und deren Realisierung bezahlen.“. Wesentliche Bereiche des öffentlichen Lebens würden auf diese Weise „kolonisiert“.

Wandbemalung am Sitz einer NGO in Kutaisi

Das „Gesetz gegen ausländische Einflussnahme“ sei aber der falsche Ansatz, meint der rheinland-pfälzische Winzer, Hilarius Pütz, der in der georgischen Region Kachetien Wein anbaut. Die Verfolgung ausländischer NGOs treffe auch sinnvolle Projekte, wie beispielsweise die Ausbildung im Bauhandwerk in Poti am Schwarzen Meer. Die Ausbildung wird finanziert von der Eberhard-Schöck-Stiftung in Baden-Baden. Die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau KfW hat die Abwasserklärung in Batumi finanziert. Der Touristenort an der Schwarzmeerküste ist der bislang einzige Ort mit Klärwerk. Sonst fließt das Abwasser in die Flüsse.

EU-Integration in der Sackgasse?

Eine Hauptforderung der Demonstranten ist die Integration in die EU. Damit verknüpfen sie – neben wirtschaftlichem Fortschritt – den Schutz vor Russland sowie die Hoffnung, konservative Werte und Strukturen aufzubrechen.

Grafito an einer Hauswand an der Shota Rustaveli, Tbilisi

Georgien hat im Dezember 2023 den Status als Beitrittskandidat zur EU erhalten. Die EU-Kommission hat wegen des NGO-Gesetzes im Juni 2024 die Beitrittsverhandlungen ausgesetzt. Daraufhin hat die neue Regierung unter Premier Kobachidse ihrerseits die Beitrittsverhandlungen bis 2028 ausgesetzt und finanzielle Unterstützung abgelehnt. Man wolle zuerst selbst im eigenen Land die Voraussetzungen für einen Beitritt schaffen. Regierungskritiker sehen darin ein Kalkül, sich die Tür zur EU offen zu halten, die Proteste zu dämpfen und die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland nicht zu gefährden.

Die wirtschaftliche Lage offenbart ein differenziertes Bild. Seit dem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Georgien (Deep and Comprehensive Free Trade Agreement, DCFTA) im Jahr 2014 stehen wirtschaftliche Liberalisierungen auf der Tagesordnung, das heißt insbesondere eine Öffnung des Landes für Waren, Kapital und Dienstleistungen aus der EU. Im Gegenzug steht dem Land ein Zugang zum EU-Binnenmarkt offen, sofern die Waren und Dienstleistungen die Standards der EU erfüllen. Georgiens Handelsbilanz ist von einem hohen Exportdefizit geprägt

Andererseits sind die Staatsverschuldung und das Haushaltsdefizit so gering, dass die Maastricht-Kriterien für einen Beitritt zur Eurozone erfüllt wären. Den hohen Wachstumsraten (9,4 Prozent im Zeitraum 2022 bis 2024, erwartete 7 Prozent für 2025) stehen nach wie vor niedrige Löhne gegenüber. Die Arbeitslosigkeit hat sich von 21 Prozent im Durchschnitt der Jahre 2019-2021 deutlich reduziert, beträgt in 2024 aber immer noch knapp 14 Prozent. Etwa eine Million Georgier leben und arbeiten im Ausland. Ihre Geldüberweisungen (Remittances) trugen im Jahr 2024 mit 3,4 Milliarden US-Dollar etwa 10 Prozent zum BIP des Landes bei. Georgien hat sich den Anti-Russland-Sanktionen der EU nicht angeschlossen. Das Land exportiert traditionell landwirtschaftliche Produkte nach Russland. Seit dem Ukraine-Krieg gehört es zum wichtigen Transitland der Sanktionsumgehung und sichert sich über Transitgebühren notwendige Einnahmen. Der LKW-Verkehr über die Alte Heerstraße nach Russland hat sich vervielfacht. Andererseits etabliert sich Georgien als Logistikbrücke zwischen Ost und West unter Umgehung Russlands. Der Tiefseehafen Anaklia soll in einem Joint-Venture von einem chinesisch-singapurischen Konsortium und dem georgischen Staat ausgebaut werden. Letzterer hält eine Mehrheit von 51 Prozent der Anteile.

Fährt man durch das Land, stellt sich unweigerlich die Frage, welche Exportgüter Georgien in die EU liefern will, die es in der EU nicht in ausreichender Menge schon gibt. Man begegnet Schafherden, frei laufenden Kuhherden – selbst auf Landstraßen und der Autobahn –, Walnussbäumen und in Kachetien neu angelegten Mandelplantagen. Unser Reiseführer Otar berichtet, die Schafe würden über die nahe gelegene azerbaidschanische Grenze in muslimische Länder exportiert, teilweise bis in den Nahen Osten.

Traditionell wird in der östlichen Region Kachetien Wein angebaut. Die nationale Weinagentur unterstützt Winzer und Weinhändler, georgischen Wein in der ganzen Welt zu vermarkten. Wirtschaftliche Wachstumssektoren sind Transport und Logistik sowie die IT-Branche. Hinter der ehemaligen sowjetischen Industriestadt Rustavi passiert man den größten Gebrauchtwagenhandel im gesamten Kaukasusgebiet, wenige Kilometer bevor man eine weite Steppenlandschaft nahe der Grenze zu Azerbaidschan erreicht. Die Ausfuhr von Fahrzeugen und Autoteilen hat einen Anteil von fast 40 % an der Warenausfuhr.

Schwierig dürfte es für Georgien und seine Einwohner werden, die EU-Vorgaben zu Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu erfüllen. Auf der Fahrt durch die Steppe erklärt Otar an einem Beispiel den Konflikt zwischen Wachstum und Klimaschutz. 70 Prozent des Stroms erzeuge Georgien aus Wasserkraft. Früher konnte Strom sogar exportiert werden, das sei heute nicht mehr möglich. Stattdessen müsse zusätzlich Strom in Gaskraftwerken erzeugt werden. Wegen der niedrigen Strompreise haben sich Bitcoin-Schürfer und Datenzentren für Künstliche Intelligenz in Sonderwirtschaftszonen in Georgien niedergelassen. Deren Firmen verbrauchen laut offiziellen Angaben 5 % des georgischen Stroms.

Ab Mai 2026 gilt das EU-Gebäudeenergiegesetz. Es sieht einen Ausstieg aus fossiler Energie, verpflichtende Solaranlagen, die energetische Sanierung von Gebäuden vor. Der Primärenergieverbrauch von Gebäuden soll bis 2030 um 16 Prozent und bis 2035 um 20 bis 22 Prozent gegenüber dem Stand von 2020 gesenkt werden. Mehr als die Hälfte dieser Einsparungen muss durch die Sanierung der energetisch schlechtesten Gebäude erreicht werden.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Georgiens erhielten die Mieter das Eigentum an ihrer Wohnung. „80 Prozent der Georgier wohnen in eigenen Wohnungen“, berichtet Georgien-Kenner Rainer Kaufmann. Der frühere ZDF-Journalist ist seit Jahrzehnten als Unternehmer in der Reisebranche in Georgien tätig. Man sieht im Straßenbild oft Häuser mit einzelnen renovierten Etagen, vor allem mit neuen Fenstern. „Für das Gesamthaus fehlen eine gemeinsame Verantwortlichkeit, oft auch die notwendigen Finanzmittel, wenn es Probleme am Mauerwerk oder ein undichtes Dach gibt, ganz zu schweigen von energetischer Sanierung“, meint Kaufmann.

Blick in einen Innenhof in Tbilisi

Auch dürfte es für viele Georgier ein böses Erwachen geben, wenn sie feststellen, dass aufgrund der EU-Vorgaben die sowieso schon hohen Kraftstoffpreise in die Höhe schießen oder der Verbrennungsmotor verboten wird. Autos sind ein Statussymbol der Georgier. Abgesehen von den Überlandbussen ist die öffentliche Verkehrsinfrastruktur schwach entwickelt. 

Geheizt wird vor allem mit Gas. Es wird ebenso wie Treibstoff vom azerbaidschanischen Konzern Socar geliefert. Dieses Bild aus einer besseren Wohngegend in Kutaisi zeigt das typische Wasser-, Strom- und Gasleitungsnetz. Die oberirdisch verlaufenden braunen Gasleitungen sind oft sichtbar undicht.

Auch die Infrastruktur ist nicht überall auf dem neuesten Stand …

Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom November 2025

Der Beitrittsprozess zur EU sieht in mehr als 30 Kapiteln vor, dass der Kandidat den sogenannten Acquis Communautaire – den gesamten Bestand an EU-Gesetzen und -Verordnungen – ins eigene Rechtssystem übernimmt. Regelmäßig werden dann kleinteilige Berichte über Fortschritte oder Hindernisse erstellt. Dazu sind Vertreter der EU-Kommission in den Verwaltungen vor Ort – ein erheblicher Eingriff in die staatliche Souveränität während der langen Jahre vor dem EU-Beitritt. Es geht um „Reformen“ zur Anpassung an politische und wirtschaftliche EU-Vorgaben.

Der jüngste Fortschrittsbericht vom November 2025 attestiert Georgien in vielen Bereichen Stillstand oder Rückschritte. Besonders deutlich fällt die Kritik der EU-Kommission zur georgischen Innenpolitik aus. „Repressive Maßnahmen gegen die Zivilgesellschaft, Medienvertreter und Oppositionsführer“ hätten „demokratische Prozesse erheblich untergraben und die Bürgerbeteiligung faktisch abgeschafft“. Eine konservative Familienpolitik schaffe ein „feindseliges Umfeld“ für LGBTQ-Personen. Sie dürften z. B. keine Kinder adoptieren und in Medien oder Schulen „keine Informationen zur Förderung von LGBTIQ-Identitäten“ verbreiten.

Formelhaft wird für viele Politikbereiche wiederholt, Georgien sei „mäßig vorbereitet“ oder befinde sich in einem „frühen Stadium der Vorbereitung“. So heißt es beispielsweise, „Georgien ist mäßig vorbereitet“ bezogen auf die „Schaffung einer funktionierenden Marktwirtschaft“, von Kapital- und Warenverkehrsfreiheit und Arbeitskräftemobilität. Es fällt auf, dass positive wirtschaftliche Kennzahlen zwar aufgeführt, aber kaum gewürdigt werden und regelmäßig mit Kritik oder zukünftigen Risiken entwertet werden. Angesichts eines bemerkenswerten Wirtschaftswachstums befindet die Kommission, das Wachstum „schien widerstandsfähig, ist jedoch mit Abwärtsrisiken behaftet, was insbesondere auf die erhöhte politische Instabilität und das unsichere internationale Umfeld zurückzuführen ist.“ Inwieweit die EU durch ihre eigene internationale Politik zu Instabilität und Unsicherheit beiträgt, wird erwartungsgemäß nicht thematisiert.

Anders als die EU-Kommission sieht die deutsche Außenhandelsagentur German Trade and Invest GTAI die Handelsliberalisierung mit der EU als auch die Integration des EU-Regelwerks in nationales Recht als weit fortgeschritten an.

Der Beitrittsprozess verlangt vom Kandidaten auch, sich der EU Außen- und Sicherheitspolitik anzuschließen. Entsprechend wird kritisiert, Georgien habe „sich den meisten restriktiven Maßnahmen (Sanktionen) der EU gegen Russland, Weißrussland und den Iran nicht angeschlossen“. In dem Zusammenhang wird auch die „Anti-EU-Rhetorik“ georgischer Medien und Politiker als „Desinformation“ bewertet, die „russische Narrative“ bediene. Anstatt „ausländischen Desinformationsbedrohungen entgegenzuwirken“ hätten georgische Behörden „das Informationszentrum über die NATO und die Europäische Union“ geschlossen. Das werde die „Bekämpfung von Desinformation über die EU weiter schwächen“.

NATO-EU-Informationszentrum am Freiheitsplatz in Tbilisi, Aufnahme vom April 2025

Landschaftliche Vielfalt

Was Georgien im Überfluss zu bieten hat, sind atemberaubende Landschaften. Auf einer Fläche von der Größe Bayerns kann man acht verschiedene Klima- und Vegetationszonen erleben. Ein Drittel der Georgier lebt in Tbilisi. Abseits der wenigen großen Städte ist Georgien nur dünn besiedelt. 

Steppe südöstlich von Rustavi; hinten im Bild das noch bewohnte Höhlenkloster Ubadne

Blick auf das Kura-Tal mit dem berühmten Höhlenkloster Vardzia

Zukunft als wirtschaftliche und kulturelle Brücke möglich?

Georgien erscheint dem Besucher als vielfältiges Land voller Gegensätze: religiöse und kulturelle Traditionen, studentisch geprägte Co-Working-Räume, Kunst- und Designergalerien, die urtümliche Tonnenbäckerei neben einem Bitcoin-Automaten, die Schönheit unberührter Landschaften, immer wieder gestört durch achtlos weggeworfenen Plastikmüll. Einem kulturellen Traditionalismus, geprägt durch die georgisch-orthodoxe Kirche, steht eine wirtschaftliche Liberalisierungspolitik und Offenheit für technologische Innovationen gegenüber. Georgien könnte man insofern mit Bayern vergleichen.

Tonnenbackofen – Die baguetteförmigen Teiglinge werden innen an die Ofenwand gedrückt. Die Technik ist Jahrhunderte alt; archäologische Reste sind noch in Höhlenklöstern zu besichtigen.

Man fragt sich, warum die EU – der negativen Rhetorik zum Trotz – so verbissen daran festhält, Georgien in die westliche Hemisphäre zu integrieren. Der Marktzugang zum 3,5 Millionen-Volk kann es kaum sein. Ein voll in die politische Union integriertes Georgien fiele vom Stimmenanteil im Ministerrat kaum ins Gewicht. Allerdings würde es sozusagen als Frontstaat im neuen Kalten Krieg gegen Russland fungieren. Dieser Rolle verweigert sich die Regierung unter dem „Georgischen Traum“.

Georgien, eingeklemmt zwischen Großem Kaukasus im Norden und Kleinem Kaukasus im Süden, Anrainer am Schwarzen Meer im Westen, war Jahrhunderte lang den machtpolitischen Begehrlichkeiten vieler Herrscher ausgesetzt. Rainer Kaufmann meint, diese Brückenfunktion sei eine Quelle der Identität Georgiens sei. In einem Kommentar für die Zeitschrift der deutschen Community in Georgien, Kaukasische Post (Mai/Juni 2024), schreibt er:

«Georgien war immer ein Land des Übergangs, eine Brücke zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West – zwischen Orthodoxie und Islam, zwischen christlichem Europa und buddhistischem Asien. Und es war immer ein Land des Transits, des Durchgangs für viele Völker, Waren und Heere, auch ein Land, in dem sich Einflüsse all dieser Kulturen niedergeschlagen und irgendwie verschmolzen haben. Und dieses Land und dieses Volk haben in Jahrhunderten gelernt, damit zu leben, um zu überleben. Warum dieses Land jetzt von mehreren Kräften im internationalen Wettbewerb eingeladen werden muss, deren einseitigen Interessen sozusagen als Vorposten zu dienen, sollte durchaus einmal grundsätzlich hinterfragt werden dürfen. […]

Dabei wäre Georgien nur zu wünschen, dass es auf der internationalen Bühne zumindest hinter den Kulissen auch Partner gibt, die dem Land helfen, sich eine künftige Position zu verschaffen, die seiner geografischen und geschichtlichen Situation entspricht, nämlich eine Brücke zu sein zwischen den Welten. Eine Brücke, die von allen in nachbarschaftlicher Freundschaft begangen werden kann, ohne dass sich das Land für eine Seite und damit gegen eine andere Seite entscheiden muss.» (Hervorhebung durch die Redaktion)

Könnte Georgien eine prosperierende Brücke zwischen den Völkern, Staaten und Kulturen werden, wenn die EU ihren Druck, sich für eine Seite zu entscheiden, aufgeben würde? Würde die Regierung unter dem Georgischen Traum, von der Furcht vor einer Farbenrevolution befreit, auch innenpolitischen Druck auf Oppositionskräfte aufgeben? Ich meine, einen Versuch wäre es wert.

(Red.) Siehe dazu auch «Tanz auf dem Pulverfass in Georgien» von Ralph Bosshard auf Globalbridge.

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