Der ausgesetzte New-START-Vertrag – oder: Wie Russland vom Westen lernte
Dieses Mal war Russland die Atommacht, die einem der letzten noch existierenden Abrüstungsverträge möglicherweise den Todesstoß versetzte. Auf dem Weg in den Abgrund war bislang der Westen jahrzehntelang vorangegangen.
In seiner jüngsten Rede zur Lage der Nation hat der russische Präsident Wladimir Putin jetzt angekündigt, den letzten zwischen Russland und den USA noch gültigen Rüstungskontrollvertrag, den New-START-Vertrag, der die Zahl der amerikanischen und russischen strategischen Atomsprengköpfe auf je 1.500 und die der Trägersysteme auf je 800 begrenzt, auszusetzen – was auch immer das genau heißen mag. Immerhin deutete Putin an, was gemeint sein könnte: Es geht offenbar (zunächst ‚nur‘?) um die definitive Kündigung amerikanischer Kontrollinspektionen in russischen Rüstungsfirmen. Zudem behält sich Russland ab sofort wieder die Option von Atomwaffentests vor, falls die USA entsprechende Testreihen starten sollten. Putin wörtlich: „Natürlich werden wir nicht die ersten sein, aber wenn die USA sie testen, werden wir es auch tun. Niemand sollte sich der gefährlichen Illusion hingeben, dass die globale strategische Parität zerstört werden könnte.“
Damit ist der letzte noch existierende Vertrag in Sachen Rüstungskontrolle zwar noch nicht gekündigt, er hat allerdings einen schweren, möglicherweise tödlichen Schlag erhalten. Der New-START-Vertrag war im April 2010 von den damaligen Präsidenten der USA und Russlands, Barack Obama und Dmitrij Medwedew, unterzeichnet und Ende Januar 2021 nach dem Amtsantritt Joe Bidens in buchstäblich letzter Minute um weitere fünf Jahre verlängert worden. Sollte er tatsächlich Anfang 2026 auslaufen, so stünde die Welt – abgesehen von dem Non-Proliferation Treaty (NPT), dem ‚Atomwaffensperrvertrag‘ – erstmals seit den Siebziger Jahren ohne jeglichen Vertrag in Sachen Rüstungsbegrenzung da. Anders formuliert: Selbst zu Zeiten des Kältesten Krieges hatten sich die verfeindeten Supermächte auf ein paar wenige, aber wichtige ‚Spielregeln‘ geeinigt, an die sich beide peinlich hielten – die nun aber alle obsolet sind!
Dies verweist für die Zukunft einer multipolaren Welt mit mehr als zwei relevanten ‚nuklearen Playern‘, von denen sich nahezu keiner mehr an Regeln hält, nichts Gutes. Neu ist weiterhin, dass es jetzt Russland ist, das in Richtung Vertragskündigung vorprescht. Denn bislang waren es stets die USA gewesen, die hier seit Jahrzehnten mit schlechtem Beispiel vorangingen. Und das Sündenregister ist lang. – Schauen wir es uns im Detail an!
Der A-KSE-Vertrag
Es begann bereits mit dem Ende 1999 ausgehandelten angepassten A-KSE-Vertrag, der nach dem Ende des ersten Kalten Krieges die konventionellen Streitkräfte in Europa auf ein präzedenzlos niedriges Niveau begrenzte. Während die Nachfolgestaaten der Sowjetunion Russland, Belarus, die Ukraine und Kasachstan den Vertrag 2004 ratifizierten, erfolgte eine Ratifizierung durch die NATO-Staaten nicht, sodass Russland angesichts der zugunsten des Westens veränderten militärpolitischen Rahmenbedingungen in Europa im Dezember 2007 die Umsetzung des Vertrages entnervt aussetzte und diesen schließlich im März 2015 kündigte, nachdem sich die NATO anderthalb Jahrzehnte lang kontinuierlich an Russland heranerweitert und die USA obendrein angekündigt hatten, im Rahmen eines Militärmanövers zeitweise 3000 US-Soldaten ins Baltikum zu verlegen.
Der ABM-Vertrag
Es ging weiter mit einem der zentralsten Bausteine der während des ersten Kalten Krieges mühevoll über Jahre zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion ausgehandelten Rüstungskontrollarchitektur, dem ABM-Vertrag. Zur Erinnerung: Der „Anti Ballistic Missiles-Treaty“ wurde am 28. Mai 1972 mit zeitlich unbefristeter Gültigkeit abgeschlossen und begrenzte für beide Seiten die Zahl der Raketenabwehrsysteme. Jeder Seite wurden laut Vertrag anfangs zwei, später nur noch eine ABM-Stellung mit je hundert Abschussvorrichtungen zugestanden. (Die Sowjetunion setzte ihr Abwehrsystem zum Schutze der Hauptstadt Moskau ein, die USA schützten damit ihre Anlage Grand Forks, in der die größte Gruppe von Interkontinentalraketen stationiert war.) Verboten waren neben dem Aufbau eines landesweiten ABM-Netzes auch die Entwicklung, Erprobung und Aufstellung weiterer see-, luft- oder weltraumgestützter sowie landbeweglicher ABM-Systeme.
Ziel des Vertrages war es, für beide Seiten das im damaligen Sprachgebrauch so genannte „Fenster der Verwundbarkeit“ offenzuhalten. Gemeint war die „Zweitschlagsfähigkeit“, also die Möglichkeit der angegriffenen Seite, dem Angreifer auch nach einem vernichtenden atomaren Erstschlag noch einen ebenso vernichtenden Vergeltungsschlag zufügen zu können. Auf diesem Prinzip des „Gleichgewicht des Schreckens“, der „Multual Assured Destruction“ (MAD), basierte die (höchst wackelige) ‚Sicherheits‘architektur im ersten Kalten Krieg.
Wenige Wochen nach Nine-Eleven, am 13. Dezember 2001, kündigten die USA den ABM-Vertrag – einseitig und ohne von einem anderen Akteur dazu provoziert worden zu sein. Sie wollten freie Hand für die Installierung ihres globalen Raketenabwehrsystems AEGIS, von dem mittlerweile – als Spitze des Eisbergs – zwei Module unmittelbar vor der russischen Haustüre, in Rumänien und Polen, stehen. Ausgerüstet mit sogenannten multimodularen Startrampen, die, damit macht das Rüstungsunternehmen „Lockheed Martin“ ungeniert Werbung, lediglich durch Veränderung der Software auch Angriffswaffen abfeuern können.
Die späte Folge dieser fatalen amerikanischen Entscheidung: Am 1. März 2018 präsentierte Präsident Putin einer entgeisterten Weltöffentlichkeit eine ganze Palette völlig neuartiger Waffensysteme, darunter nichtballistische Hyperschallraketen, gegen die die westlichen Abwehrsysteme bislang machtlos sind. Erstmals, so der russische Präsident, sei Russland den USA bei der Entwicklung innovativer Waffensysteme einen entscheidenden Schritt voraus. Auf die Frage, wann der zweite Kalte Krieg, wann das neue Wettrüsten denn begonnen habe, antwortete Putin: „Mit der amerikanischen Kündigung des ABM-Vertrags!“
Der INF-Vertrag
Aber auch dabei blieb es nicht. Es blieb dem damaligen amerikanischen Präsidenten Donald Trump vorbehalten, den bedeutendsten Abrüstungsvertrag der Weltgeschichte in Makulatur zu verwandeln. Mit dem am 8. Dezember 1987 in Washington von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichneten INF-Vertrag („Intermediate Range Nuclear Forces-Treaty“), der erstmals eine gesamte Waffenkategorie – und zwar die gefährlichste: landgestützte atomare Kurz- und Mittelstreckenraketen und Cruise Missiles einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern – eliminierte, war die akute Atomkriegsgefahr in Mitteleuropa, die in den Achtziger Jahren Millionen Menschen auf die Straßen getrieben hatte, gebannt. Über drei Jahrzehnte lang konnten die Menschen in Europa von Atomkriegsängsten unbehelligt gut schlafen.
Trump kündigte den Vertrag zum 2. August 2019 wegen angeblicher, bis heute unbewiesener, russischer Vertragsverstöße und Russland zog nach. Das bedeutendste abrüstungspolitische Erbe Michail Gorbatschows verreckte jämmerlich, ohne dass eine zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit in Westeuropa und Russland sich groß darüber aufregte …
Der Open Skies-Vertrag
Am 22. Dezember 2020 erwischte es schließlich auch noch den Open Skies-Vertrag. Und wieder blieb es US-Präsident Donald Trump vorbehalten, einem der ‚Letzten seiner Art‘ den Garaus zu machen. Der 1992 von den NATO-Staaten und den meisten Staaten der ehemaligen Sowjetunion unterzeichnete Vertrag über den ‚Offenen Himmel‘ hatte durch wechselseitige kontrollierte Überflugsrechte den Vertragsparteien ‚Glasnost‘ ermöglicht und damit der Vertrauensbildung gedient.
Das Muster war das Gleiche wie beim INF-Vertrag: Wieder mussten fadenscheinige Vorwürfe an Russland dafür herhalten, wieder machte niemand Anstalten, den Vertrag doch noch durch Verhandlungen zu retten und wieder nahm eine apathische Öffentlichkeit in den betreffenden Staaten dies achselzuckend hin – falls sie überhaupt davon Kenntnis genommen hatte. Anderthalb Monate später war auch die Russische Föderation nicht mehr mit von der Partie.
Russland hat gelernt
Nun ist es also zur Abwechselung einmal Russland, das erstmals einen Abrüstungsvertrag gekündigt, pardon: ausgesetzt, hat. Einmal mehr scheint Putin, wie beim Überfall auf die Ukraine, westliches Handeln als Blaupause – was war eigentlich vor einem Jahr das Vorbild: die völkerrechtswidrige Bombardierung Jugoslawiens 1999 oder der ebenfalls völkerrechtswidrige mit Lügen begründete Irakkrieg 2003? – zu benutzen.
Lange kann Russland allerdings auf diesem Wege nicht vorangehen. Denn viele Verträge, die noch zu kündigen wären, gibt es längst nicht mehr!
Siehe dazu: «Reflexionen zum Ukrainekrieg – Der Krieg fiel nicht vom Himmel» von Leo Ensel