«Das Ziel ist nicht, der Ukraine zu helfen, sondern Putin zu bekämpfen»
Noch immer ist der Krieg in der Ukraine das Hauptthema in Radio und Fernsehen, kommentiert meistens nach dem Schwarz–Weiss-Schema «Ukraine gut, Russland böse». Mehr und mehr internationale Beobachter sind sich mittlerweile aber einig, dass dieser Krieg letztlich ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland ist – zulasten der Bevölkerung der Ukraine. Einer der genauen Beobachter ist der Schweizer Militär-Experte Jacques Baud. Hier ein Interview mit ihm, übernommen von «Zeitgeschehen im Fokus» (Details siehe am Ende des Interviews).
Zeitgeschehen im Fokus: Man erkennt die Schweiz im gewissen Sinn nicht wieder. Alles, was für den Staat von Bedeutung war, wird fast handstreichartig über den Haufen geworfen. Wie nehmen Sie das wahr?
Jacques Baud: Man ist tatsächlich in einer Hysterie, und es ist unglaublich, wie man die fundamentalen Prinzipien des Rechtsstaats vergisst. Das ist ein grundsätzliches Problem, man vergisst die eigenen Grundlagen, die eigene Identität. Unabhängig davon, wer gegeneinander kämpft, es ist nicht unser Kampf, und es ist ein Vorteil, nicht am Kampf beteiligt zu sein, denn das schafft die Möglichkeit, bessere Lösungen zu entwickeln und zur Entschärfung des Problems beizutragen.
Der neutrale Staat könnte hier einen positiven Beitrag leisten?
Jacques Baud: Ja, aber das ist genau das, was die Schweiz nicht macht. Sie benimmt sich so, als ob sie eine Partei in diesem Kampf wäre. Das verhindert, dass die Schweiz eine ausgewogene, objektive und unparteiische Lösung finden kann. Das ist der Kernpunkt – nota bene nicht nur für die Schweiz, sondern mehr noch für die anderen. Der Unterschied ist nur, dass wir neutral wären.
Inwiefern ist das von Bedeutung?
Jacques Baud: Diese Neutralität könnte man ausnützen, nicht um Partei zu ergreifen, sondern um mitzuhelfen, das Problem zu lösen, unabhängig davon, wer schuldig oder unschuldig ist. Das hat nichts miteinander zu tun. Es ist wie bei einem Schiedsrichter. Er darf nicht Partei sein. Das haben wir vergessen. Es spielt keine Rolle, was der Schiedsrichter über einen Teilnehmer denkt, ob er ihn sympathisch findet oder nicht, er muss die gleiche Distanz gegenüber beiden Teilnehmern wahren. Die Schweiz wäre in dieser Situation, sie profitiert aber nicht davon. Damit meine ich natürlich nicht finanziell, sondern intellektuell, rechtlich und moralisch. Das Problem ist, dass die Schweiz vergisst, dass sie keine Kriegspartei in diesem Konflikt ist.
Wenn man den Bundesrat oder auch gewisse Parlamentarier sprechen hört, dann ist diese neutrale Position völlig aufgeweicht, auch wenn man immer wieder das Gegenteil beschwört.
Jacques Baud: Interessant ist auch, dass man, wenn man gegenüber der Beurteilung des Konflikts Distanz einnimmt und sich nicht auf die Seite der Ukraine stellt, zum «Putin-Versteher» erklärt wird. Das ist unglaublich. Was ich über Putin denke, hat mit der Beurteilung der Situation nichts zu tun. Das ist die Sache der Ukrainer. Ich habe das schon mehrmals gesagt: Wenn ich Ukrainer wäre, dann hätte ich wahrscheinlich zu den Waffen gegriffen. Aber, darum geht es nicht. Ich als Schweizer werde mein Schweizersein nicht aufgeben. Um der Ukraine zu helfen, muss ich nicht Ukrainer werden, sondern die Distanz, die ich als Schweizer habe, nutzen, um einen weniger leidenschaftlichen, dafür aber konstruktiveren Blickwinkel einzubringen. Die Journalisten, die mich kritisieren, sind mehr Russen-Hasser als Ukraine-Liebhaber.
Wo könnte denn die Rolle der Schweiz in diesem Konflikt liegen?
Jacques Baud: Wenn ein Beobachter sieht, dass eine alte Dame auf der Strasse von einem Schläger angegriffen wird, ermutigt er sie nicht, sich zu wehren, sondern versucht, die beiden zu trennen. Wir befinden uns in der Situation dieses Beobachters, aber unsere Antwort ist, Waffen zu geben, damit die Ukraine kämpft. Für einen Ukrainer ist es
legitim, kämpfen zu wollen, aber für einen Schweizer oder einen anderen Europäer besteht die Rolle darin, zu versuchen, den Schaden zu begrenzen. Aber niemand versucht das im Westen. Als Selenskij einen Mediator suchte, wandte er sich an die Türkei, China und Israel. Er wählte kein Land der Europäischen Union und auch nicht die Schweiz. Er hat verstanden, dass die Schweiz kein unabhängiger Partner mehr ist.
Ist das nicht das Resultat der aktuellen Schweizer Politik?
Jacques Baud: Ja, das zeigt die Natur des Problems. Wir müssen einen Unterschied machen zwischen dem, was man über Putin denkt und was man politisch tut. Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Dazu stellt sich mir immer wieder die Frage, warum wir uns so gegen den Angreifer stellen. Warum handelten wir nicht so bei den USA oder bei Frankreich, als sie einfach andere Länder überfallen hatten?
Ja, diese Frage stellt sich tatsächlich…
Jacques Baud: Wenn man heute bei der Ukraine von Solidarität und Humanität redet und dem Land alle erdenkliche Hilfe zukommen lässt, dann sehen wir die von den USA Angegriffenen als andere Menschen, die unsere Hilfe und Solidarität nicht verdient haben. Das wird in der Zukunft Folgen haben. Viele haben das bei den Flüchtlingen gemerkt. Den «blonden, blauäugigen» Flüchtlingen hilft man gerne, den anderen nicht. Man kann das nachvollziehen, auch wenn man es nicht billigen kann. Aber, was unverständlich ist, bleibt die Tatsache, dass man bei dem einen Angreifer schweigt, während man einen anderen mit mehr als 6 000 Sanktionen bestraft.
Ist das nicht die bekannte Doppelmoral?
Jacques Baud: Doch, es bedeutet auch nicht, dass man für Russland sein muss, das hat nichts damit zu tun. Wenn man die Justitia anschaut, dann ist sie blind und hält eine Waage in der Hand. Das ist genau das, was heute fehlt. Die Schweiz ist nicht blind, und sie ist nicht ausgewogen. Das gilt auch für die Europäische Union. Ein Rechtsstaat sollte nicht durch Leidenschaft, sondern durch Vernunft geführt werden. Diese Grundsätze wurden von Montesquieu, Voltaire und Rousseau im 18. Jahrhundert aufgestellt. Unsere «woke»-Kultur hat sie vergessen. Wir lassen uns von unseren Gefühlen leiten und folgen ihnen. Das ist das Problem.
Damit sind die rechtsstaatlichen Prinzipien verschwunden?
Jacques Baud: Einen Rechtsstaat führt man nicht mit Gefühlen oder Intuitionen, sondern auf der Grundlage von Fakten. Deshalb gibt es in allen modernen Staaten Nachrichtendienste. Somit kann der Entscheidungsträger auf der Grundlage von Fakten und nicht aufgrund göttlicher Inspiration entscheiden. Dies ist ein grundlegender Unterschied zwischen aufgeklärter Regierungsführung und despotischem Obskurantismus. Die Tatsache, dass wir gegen eine Diktatur kämpfen, berechtigt uns nicht dazu, auf rechtsstaatliche Prinzipien zu verzichten. Seit dem Balkankrieg scheint der Westen zu glauben, dass der Zweck die Mittel heilige. Es ist unerheblich, was einzelne Bundesräte persönlich denken, sie dürfen Putin hassen, das ist ihr Recht als Menschen, aber nicht als Bundesräte. Das kann nicht die Grundlage ihrer Politik sein. Hier möchte ich auf Henry Kissinger verweisen. Er hat 2014 gesagt: «Die Dämonisierung von Wladimir Putin ist keine Politik; sie ist ein Alibi, um keine Politik zu haben». Das sagte Henry Kissinger, nicht Putin oder Lukaschenko. Der Bundesrat hat das nicht verstanden. Er verhält sich wie ein Monarch, wie Louis XIV, der von einer göttlichen Eingebung geleitet wurde.
«Es geht nicht um die Lösung des Problems ‹Krieg›, sondern um die Beseitigung des Problems ‹Putin›.» Damit hat der Bundesrat seine Vernunft den Emotionen untergeordnet?
Jacques Baud: Er ist leider nicht der einzige. Dieses «Management by Twitter», das im Moment in der gesamten westlichen Welt die Oberhand hat, ist absolut unangemessen. Das führt zu dieser Situation, in der man reagiert, bevor man genau weiss, was geschehen ist. Ausserdem stellt man fest, dass die Dinge dadurch nicht besser werden. Die Türen schliessen sich. Es wird nicht mehr kommuniziert. Die Diplomatie ist ins Stocken geraten. In Wirklichkeit geht es nicht um die Lösung des Problems «Krieg», sondern um die Beseitigung des Problems «Putin».
Das Reagieren, bevor man Genaueres weiss, ist gängige Praxis?
Jacques Baud: Ja, nach dem Raketenangriff auf Zivilisten am Bahnhof von Kramatorsk am 8. April hat Ignazio Cassis den russischen Botschafter zu sich zitiert. Zu diesem Zeitpunkt waren jedoch noch nicht alle Einzelheiten des Angriffs bekannt. Trotzdem hat man die Russen angeklagt. Heute deuten Indizien wie die Seriennummer der Rakete, die Richtung des Abschusses, der Raketentyp und die Strategie eher auf eine ukrainische Verantwortung hin. Doch ohne unparteiische internationale Untersuchung bedeutet eine direkte Beschuldigung Russlands eine Billigung eines möglichen Kriegsverbrechens der Ukraine. So kann man keine Staaten führen. Was ich sehr bemängele, ist, dass man keine Distanz zu den Ereignissen hat.
Ohne Distanz ist es wahrscheinlich äusserst schwierig, eine Situation angemessen zu beurteilen?
Jacques Baud: In den meisten Fällen sind wir nicht in der Lage, zwischen einem Kriegsverbrechen und einem «Kollateralschaden» zu unterscheiden. Zum grossen Teil liegt das daran, dass uns die Medien eine Antwort diktieren. Was war Provokation, was war Reaktion, was ist Propaganda? Wir wissen es nicht. Trotz allem beschuldigen und sanktionieren wir Russland. Aber wenn man etwas verurteilen will, dann braucht es zuerst eine internationale und unparteiische Untersuchungskommission, die herausfinden muss, was geschehen ist. Was wir tun, tendiert dazu, jede Möglichkeit eines Dialogs auszuschliessen, und das verhindert die Formulierung einer Strategie zur Krisenbewältigung.
Der Bürger und der Staat können also nicht denselben Ansatz haben?
Jacques Baud: Der Bürger kann glauben, was er will. Was der einfache Bürger meint, das ist ihm völlig freigestellt. Er kann über Putin, über Russland meinen, was er will. Er kann die Menschen hassen, wenn er das will. Aber ein Staat und staatliche Medien können sich das nicht leisten.
Warum nicht?
Jacques Baud: Die Rolle eines Staates besteht nicht darin, die Emotionen seiner Bevölkerung auszudrücken, sondern ihre Interessen zu vertreten. Das Interesse der Ukraine besteht darin, ihre Bürger vor einer Aggression zu schützen. Das Interesse der Schweiz besteht nicht darin, einen Krieg zu unterstützen, sondern eine friedliche Lösung zu erreichen. Die Rolle der Schweiz besteht nicht darin, anzuklagen oder zu verurteilen. Im Übrigen hat sie weder die USA noch Grossbritannien oder Israel verurteilt. Das bedeutet, dass wir einige Verbrechen tolerieren und andere verurteilen.
Seit langem ist bekannt, dass die ukrainischen Milizen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen. Die Schweiz hat sie nicht verurteilt. Derzeit beginnen viele ukrainische Kriegsverbrechen von westlichen Zeugen und humanitären Helfern angeprangert zu werden. Ihre Enthüllungen werden zensiert, wie die von «Reuters» und «Der Spiegel» zensierte Enthüllung von Natalia Usmanova, die erzählt, dass es ukrainische Milizen und nicht die Russen waren, die Zivilisten daran hinderten, durch die humanitären Korridore zu gehen. De facto unterstützt die Schweiz Praktiken, die nach den Genfer Konventionen, deren Depositarstaat sie ist, verboten sind.
«Kiew und der Westen führen einen Medienkrieg gegen Russland und die Donbas-Republiken.» Das bedeutet, dass der Westen Krisen fördert?
Jacques Baud: Ja. Im Jahr 2014 war ein ähnlicher Mechanismus zu beobachten. Westliche «Experten» und Medien spielten den Widerstand der Ukrainer gegen den Regimewechsel herunter. Es musste gezeigt werden, dass die Maidan-Revolution demokratisch war. Also baute man den Mythos einer ukrainischen Armee auf, die gegen die Rebellen siegreich war. Nach der Niederlage der Regierung in Donezk musste die Ausrede einer russischen Intervention erfunden werden, um die westliche Propaganda zu rechtfertigen. So kam es zu den ersten Vereinbarungen von Minsk (September 2014). Unmittelbar danach brach Kiew das unterzeichnete Abkommen, um die Anti-Terror-Operation (ATO) zu starten. Diese führte zu einer zweiten Niederlage bei Debalzewo und zum zweiten Minsker Abkommen (Februar 2015). Erneut wurde die ukrainische Niederlage der russischen Intervention zugeschrieben. Daher behaupten westliche «Experten» weiterhin, dass diese Abkommen zwischen der Ukraine und Russland unterzeichnet worden seien, was jedoch nicht stimmt. Das Abkommen von Minsk wurde zwischen Kiew und Vertretern der selbsternannten Republiken Lugansk und Donezk unterzeichnet.
Wie ist denn die Kriegssituation aktuell einzuschätzen?
Jacques Baud: Heute ist zu beobachten, dass Kiew und der Westen einen Medienkrieg gegen Russland und die Donbas-Republiken führen. Russland hingegen führt einen Krieg auf dem Schlachtfeld. Daraus ergibt sich, dass die Ukrainer und der Westen im Informationskrieg stärker sind, Russland und seine Verbündeten sind jedoch auf dem Schlachtfeld stärker. Wer wird gewinnen? Wir wissen es nicht. Aber was seit Mitte April in Mariupol und im Donbas zu beobachten ist, deutet eher darauf hin, dass die ukrainischen Truppen von ihrer Führung «im Stich gelassen» wurden. Diese Feststellung wird auch von westlichen Freiwilligen gemacht, die das Schlachtfeld aufgrund der Unzulänglichkeiten des ukrainischen Kommandos verlassen haben und dies in den Medien berichten.
Was heisst das konkret betreffend die russischen Kriegsziele?
Jacques Baud: Russland begann mit einer kleinen Zielsetzung. Danach fiel der Entscheid weiterzugehen. Es wollte das östliche Gebiet von Waffen befreien. Aufgrund des ersten Erfolgs wollte es Verhandlungen über die Neutralität der Ukraine beginnen. Das war eine neue Zielsetzung, die erst später definiert wurde. Putin hat eine Chance gesehen, das Ziel über Verhandlungen zu erreichen. Sollte die Ukraine das nicht akzeptieren, würde er die Zielsetzung entsprechend anpassen. Die Ukrainer wollen die Verhandlungen nicht, also geht Russland entsprechend weiter, bis sich die Ukraine auf eine Verhandlungslösung einlässt.
«Die Russen verstehen den Krieg aus einer clausewitzschen Perspektive: Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.» Was waren die ursprünglichen Kriegsziele?
Jacques Baud: Am 24. Februar hat Putin die zwei Kriegsziele klar genannt: «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung», die Bedrohung gegen die russischsprachige Bevölkerung im Donbas zu beenden. Ausserdem erklärte Wladimir Putin, dass er nicht die Übernahme der gesamten Ukraine anstrebe. Genau das wurde beobachtet. Die Russen verstehen den Krieg aus einer clausewitzschen Perspektive: Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Daher gehen sie fliessend von einem zum anderen über. Die Idee ist, die ukrainische Seite dazu zu bringen, in einen Verhandlungsprozess einzutreten.
Hat die Ukraine sich ernsthaft auf eine Verhandlungslösung eingelassen?
Jacques Baud: Am 25. Februar deutet Selenskij an, dass er bereit sei, mit Russland zu verhandeln. Die Europäische Union kommt daraufhin am 27. Februar mit einem 450 Millionen Euro schweren Waffenpaket, um die Ukraine zum Kampf anzuspornen. Am 7. März, als das Ziel der «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung» fast erreicht war und die Ukraine keine Fortschritte bei den Verhandlungen gemacht hatte, fügte Russland hinzu, dass Kiew die Rückkehr der Krim zu Russland und die Unabhängigkeit der beiden Donbas-Republiken anerkennen müsse. Es stellte klar, dass sich seine Position ändern könnte, wenn die Ukraine nicht verhandeln wolle.
Hat die Ukraine darauf reagiert?
Jacques Baud: Nach der Einnahme von Mariupol schwächte sich die Lage in der Ukraine ab, und am 21. März machte Selenskij ein Angebot, das Russland entgegenkam. Doch wie im Februar kommt die EU zwei Tage später mit einem zweiten Paket von 500 Millionen Euro für Waffen zurück. Grossbritannien und die USA übten in der Folge Druck auf Selenskij aus, damit er sein Angebot zurückzog. Die Verhandlungen in Istanbul gerieten daraufhin ins Stocken.
Inwiefern hat Russland seine Ziele geändert?
Ende März wurde das Ziel der «Entnazifizierung» mit der Einnahme von Mariupol erreicht und im Rahmen von Verhandlungen aus den russischen Zielen entfernt.
Am 22. April passten die Russen ihr Ziel an. Das Verteidigungsministerium gab bekannt, dass das neue Ziel darin bestehe, den südlichen Teil der Ukraine bis nach Transnistrien unter Kontrolle zu bringen, wo die russischsprachige Minderheit schlecht behandelt wird. Wie man sieht, passt die russische Strategie die Ziele je nach militärischer Lage an. Was die Russen eigentlich anstreben, ist, ihre operativen Erfolge in einen strategischen Erfolg umzuwandeln.
Heisst das, dass die russischen Ziele, von denen die Medien berichten, nie existiert haben?
Jacques Baud: Das ist richtig. Wladimir Putin hat nie gesagt, dass er Kiew einnehmen wolle. Er hat nie gesagt, dass er die Stadt in zwei Tagen einnehmen wolle. Er hat nie gesagt, dass er Präsident Selenskij stürzen wolle. Er hat nie gesagt, dass er die gesamte Ukraine übernehmen wolle. Er hat nie gesagt, dass er einen Sieg am 9. Mai anstrebe. Er hat nie gesagt, dass er diesen Sieg bei der Parade am 9. Mai verkünden wolle. Er hat nie gesagt, dass er am 9. Mai «den Krieg erklären» wolle, um eine allgemeine Mobilmachung auszulösen. Der Westen hat also die Zielsetzung bestimmt und kann jetzt behaupten, Putin habe seine Ziele nicht erreicht. Die Geschichte, dass Russland verlieren würde, basiert auf diesen Behauptungen.
Was soll am Ende der Militäraktion herauskommen?
Jacques Baud: Natürlich wissen wir nicht, was in Wladimir Putins Kopf vorgeht. Aber offensichtlich gibt es eine Logik. Der Westen macht es den Ukrainern nicht leichter, und die Russen kommen immer weiter voran. In der unmittelbaren Zukunft sehen wir, dass die russische Koalition Gebiete «befreit». Einige Provinzen haben bereits beschlossen, den Rubel einzuführen. Es geht also langsam auf die «Wiedererstellung» von Noworossija zu.
Was muss man sich unter Noworossija vorstellen und wie soll das territorial aussehen?
Jacques Baud: Nach der Aufhebung des Amtssprachengesetzes im Jahr 2014 erhoben sich nicht nur die Oblaste Lugansk und Donezk, sondern der gesamte russischsprachige Süden der Ukraine. In der Folge formierten sich die vereinigten Kräfte von Noworossija mit Truppen aus der Republik Odessa, aus den Republiken Charkow, Dnipropetrowsk und natürlich Lugansk und Donezk. Überlebt haben nur Lugansk und Donezk. Die übrigen «Republiken» sind von den paramilitärischen Kräften brutal bekämpft worden. Heute sehen wir, dass es den Russen darum geht, mit den Ukrainern zu verhandeln. Wenn sie das nicht wollen, erhöht Russland den Druck.
Hat Russland so Aussicht auf Erfolg?
Jacques Baud: All dies ist sehr unsicher. Was man jedoch sagen kann, ist, dass der Widerstand der Bevölkerung gegen Russland in den von ihm besetzten Gebieten viel schwächer ist als von westlichen Experten geschätzt. Darüber hinaus ist klar, dass die ukrainische Führung der Operationen nicht effektiv war. Es scheint, dass das ukrainische Militär wie schon 2014 das Vertrauen in seine Behörden verloren hat.
Woher weiss man das?
Jacques Baud: Die Aussagen westlicher freiwilliger Kämpfer die aus der Ukraine zurückgekehrt sind, bestätigen, dass die ukrainische Führung schwach ist. Es scheint, dass das ukrainische Militär selbst Opfer seiner Propaganda ist, die die Leistung der Ukrainer überbewertet. Man hat das Gefühl, dass die höheren Kommandoebenen sich mehr mit den vom Westen übermittelten Botschaften zufrieden geben als mit den tatsächlichen Ergebnissen auf dem Schlachtfeld. Natürlich nutzen die westlichen Medien die von der Ukraine angegebenen Zahlen über zivile und militärische Verluste, um den möglichen Sieg der Ukraine zu erklären und die russische Niederlage zu verkünden.
Was können wir aus dieser gesamten Situation für Schlüsse ziehen?
Jacques Baud: Es gibt tatsächlich Aktivitäten vom Westen, diesen Krieg zu verlängern und keinen Raum für Verhandlungen zu lassen. Das ist genau das gleiche, was Bundesrätin Keller Sutter und Bundesrat Cassis machen. Sie machen bei der Verlängerung des Krieges mit.
Der deutsche Bundeskanzler Scholz hat ganz deutlich gesagt: «Russland darf den Krieg nicht gewinnen.» Damit wird der Krieg weitergehen?
Jacques Baud: Das ist kindisch. Die operative Situation zeigt, dass sich die Ukraine in einer sehr schwierigen Lage befindet. Ich weiss nicht, ob Russland diesen Krieg «gewinnen» oder «verlieren» wird. Aber ich weiss, dass die Ukraine nicht mehr in der Lage ist, militärisch zu siegen … Auf politischer Ebene mag die Situation anders aussehen. Das ist umstritten, und die Zukunft wird es zeigen. Aus der Sicht des Westens ist es sicherlich eine politische Niederlage für Russland. Für den Rest der Welt ist dies jedoch wahrscheinlich nicht unbedingt der Fall. Tatsächlich wird der neue eurasische Block, der aus diesem Konflikt hervorgehen wird, eine erheblich stärkere Macht gegenüber dem Westen sein. Wir sind es gewohnt, dass sich das Schicksal der Welt um den Westen dreht. Aber vielleicht wird Asien das nächste «Zentrum der Welt» sein. Indem man Russland politisch vom Westen isoliert, drängt man es in den asiatischen Block. Und in diesem Modell könnte es einen Vorteil gegenüber Europa und den USA haben.
Ist das ukrainische Militär nicht mehr existent?
Jacques Baud: Es gibt sozusagen fast kein ukrainisches Militär mehr. Der Grossteil der ukrainischen Armee gerät in die Kämpfe im Donbas und wird nach und nach von der russischen Koalition neutralisiert. Die ukrainische Regierung beginnt damit, die territorialen Milizen aus dem Westen des Landes nach Donbas zu verlegen. Dies hat zu Spannungen geführt, insbesondere in den Gebieten der ungarischen und rumänischen Minderheiten, deren Bevölkerung nicht gegen die Russen in den Kampf gehen will. Wir sehen Demonstrationen von Müttern und Ehefrauen im Westen des Landes und in Kiew.
Es fällt auf, dass sich nahezu alle westlichen Staaten so verhalten, als ob sie keinen Frieden wollten. Keiner mahnt zur Vorsicht. Bevor man irgendetwas Genaues weiss, werden Schlüsse gezogen, Verurteilungen vorgenommen, Waffen geliefert. Der Krieg wird am Leben gehalten. Wie ordnen Sie die angekündigten verstärkten Waffenlieferungen ein?
Jacques Baud: Zu den Waffen gibt es verschiedene Dinge zu überlegen. Erstens, einen Krieg zu füttern und damit am Leben zu halten, ist nicht die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft. Unter internationaler Gemeinschaft verstehe ich vor allem Organisationen wie die Uno oder die EU. Ob ein Land diese Politik betreibt wie die USA oder Polen, das ist deren Entscheid. Aber der Sinn und Zweck einer internationalen Organisation ist nicht, internationale Konflikte zu alimentieren.
«Waffen verschwinden, bevor sie an der Front ankommen.»
Jacques Baud: Zweitens ist nicht bekannt, wohin die gelieferten Waffen tatsächlich gehen. Selbst die US-Geheimdienste gestehen, dass sie es nicht wissen. Es ist jedoch klar, dass alle diese Waffen verschwinden, bevor sie an der Front ankommen. Es gibt Berichte über einen Anstieg der Kriminalität in Kiew. Tatsächlich schüren die westlichen Länder das, was der «Global Organized Crime Index» als «einen der grössten Waffenhandelsmärkte in Europa» bezeichnet.
Was bringen denn die Waffen der Ukraine?
Jacques Baud: Das ist der dritte Aspekt, den man betrachten muss. Die Waffen helfen nichts. Die Waffenlieferungen beruhen auf dem Mythos, dass die Ukraine den Krieg gewinnt und Russland verlieren wird. Diese Idee ist das Resultat dessen, dass der Westen die Zielsetzung der Russen bestimmt hat. Selenskij fordert zusätzliche Waffen, weil die ukrainische Armee bereits Hunderte von Kampfpanzern und Artilleriegeschützen verloren hat. Die wenigen Dutzend, die vom Westen geliefert werden, werden die Situation nicht ändern. Wie schon im Jahr 2014 ist das Hauptproblem der ukrainischen Streitkräfte nicht die Entschlossenheit der Soldaten, sondern die Unfähigkeit der Stäbe.
Wie kann die Ukraine diese Waffen finanzieren oder übernehmen die Kosten die Liefer-Staaten aus Solidarität?
Jacques Baud: Die Waffen werden der Ukraine auf der Grundlage des «Leih-Leasing»-Gesetztes zur Verfügung gestellt. Dies ist eine Form des «Leasings», das zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zur Lieferung von Waffen an Grossbritannien und die UdSSR eingeführt worden war. Mit anderen Worten: Die Ukraine muss die Waffen, die sie erhält, zurückzahlen. Zum Vergleich: Grossbritannien und Russland beendeten die Zahlung ihrer Schulden aus dem Zweiten Weltkrieg an die USA im Jahr – 2006!
Ausserdem häuft die Ukraine bei internationalen Finanzinstitutionen (wie dem IWF und der Weltbank) enorme Schulden an. Das Paradoxe daran ist, dass diese Institutionen aufgrund der westlichen Rhetorik von einem Land, dem es gut geht und das kurz vor einem Sieg über Russland steht, nicht bereit sind, ihm seine Schulden zu streichen.
Die gelieferten Waffen und die freiwilligen ausländischen Kämpfer haben also keinen Einfluss auf den Verlauf des Krieges?
Jacques Baud: Nur zum Teil. Ein Beispiel: Afghanistan konnte gegen die US-Armee gewinnen, obwohl sie viel mächtiger war. Die Afghanen hatten fast keine schweren Waffen, höchstens Kleinwaffen. Weder die Anzahl der Waffen noch ihre Qualität sind für einen Sieg ausschlaggebend. Die grösste Schwäche der ukrainischen Streitkräfte ist: die Führung.
Warum ist das so?
Jacques Baud: Die ukrainische Militärführung ist schlecht, weil sie nicht alle Parameter in die Planung und Durchführung ihrer Kämpfe einbezieht. Sie macht die gleichen Fehler wie die Nato-Truppen in Afghanistan. Dies ist nicht überraschend, da die letzteren die ersten ausbilden. Ausserdem muss man diese Waffen beherrschen, um taktisch das Maximum aus ihnen herauszuholen. Sie wurden für monatelang ausgebildete Berufssoldaten entwickelt und nicht für Gelegenheitssoldaten, die in zwei Wochen ausgebildet werden. Das ist völlig unrealistisch.
«Die Waffen, die man in die Ukraine liefert, haben keine militärische Wirkung.» Verstehe ich Sie richtig: Die Effizienz dieser gelieferten Waffen ist absolut gering und führt zu mehr Zerstörung in der Ukraine?
Jacques Baud: Man liefert Waffen, die zum Teil veraltet sind und gegen die Russen keine Veränderung bringen werden. Das hat nur den Effekt, Feuerkraft in gewisse Gebiete zu bringen. Ein Beispiel: Die Slowakei hat der Ukraine das Luftabwehrsystem S-300 geliefert, und es wurde, so viel ich weiss, in die Nähe von Nikolajew gebracht. Innert kürzester Zeit ist es von den Russen zerstört worden. Die Russen wissen genau, wo diese Dinge stehen, wo die Waffenlager sind. In Saporoschje waren ganz neue Waffen aus dem Westen gelagert. Mit einer Rakete haben die Russen das Depot punktgenau zerstört. Die Waffen, die man in die Ukraine liefert, haben keine militärische Wirkung.
Ein paar Haubitzen sind wirkungslos, weil sie die Russen sofort zerstören können. Die Ukrainer müssen natürlich diese Systeme so schnell wie möglich an die Front bringen. Das müssen sie mit der Eisenbahn machen. Die Ukrainer haben im Westen des Landes elektrische Eisenbahnen. Die Russen zerstörten die meisten elektrischen Substationen des Eisenbahnsystems und die Haupteisenbahnwege. Heute fahren keine elektrischen Lokomotiven mehr auf dem Netz. In der Folge müssen sie die Waffen, z. B. Panzer, mit Transportern einzeln auf der Strasse an die «Front» bringen. Das Problem ist, dass diese Zerstörungen nicht nur die militärische Logistik betreffen, sondern auch das Wirtschaftsleben des Landes.
Wie reagiert Russland darauf?
Jacques Baud: Es ist anzumerken, dass die Russen vor den westlichen Waffenlieferungen das Eisenbahnnetz nicht angegriffen haben. Wenn das Ziel besteht, die Ukraine total zu zerstören, dann muss man genau das tun, was der Westen jetzt macht. Wenn man das will. Ob das der Westen will oder nicht, das weiss ich nicht. Aber wenn das Ziel besteht, muss man es genauso machen.
Ausserdem wird gesagt, dass Russland derzeit den grössten Bestand an Javelin-Raketen der Welt besitzt. Ich weiss nicht, ob das stimmt, aber es deutet darauf hin, dass viele der vom Westen gelieferten Waffen nicht zu den ukrainischen Kämpfern gelangen.
Der Gepard-Panzer, den die Deutschen liefern wollen, ist in der Bundeswehr ausgemustert. Es gibt in den Beständen der Bundeswehr auch keine Munition mehr dazu. Ist das nicht so ein Punkt, den Sie vorhin erwähnt haben?
Jacques Baud: Der Gepard ist ein Flugabwehrpanzer, der auf dem Fahrgestell des Kampfpanzers Leopard 1 basiert. Es handelt sich um ein Fahrzeug, dessen Entwicklung bis in die 1970er Jahre zurückreicht. Es ist ein gutes Waffensystem, das jedoch nicht mehr an die modernen Bedrohungen angepasst ist. Ein Waffensystem bedeutet auch Logistik, Wartung und eine besondere Ausbildung für die Besatzungen und Mechaniker. Ausserdem muss ein solches System, um effektiv zu sein, in ein Führungssystem integriert werden. All dies kann jedoch nicht in wenigen Wochen realisiert werden. Im Grunde genommen ziehen diese Waffensysteme nur das russische Feuer auf sich.
«Ein aus der Ukraine zurückgekehrter britischer freiwilliger Kämpfer spricht von ‹Kanonenfutter› von den an die Front geschickten Kämpfern.» Haben die westlichen Länder die Hoffnung, es bringe trotzdem etwas?
Sicher ist, es bringt nichts. Die Engländer machten eine Studie über die Waffen, die sie den Ukrainern geliefert hatten. Die Resultate sind extrem schwach, und zwar enttäuschend. Sie haben gemerkt, ihre Waffensysteme sind zu kompliziert, und die ukrainischen Soldaten können diese nicht bedienen, weil sie nicht ausreichend ausgebildet sind. Was die freiwilligen Kämpfer anbelangt, ist das Bild auch enttäuschend. Ein aus der Ukraine zurückgekehrter britischer freiwilliger Kämpfer spricht von «Kanonenfutter» von den an die Front geschickten Kämpfern. Die Engländer selbst haben gemerkt, dass es nichts bringt. Aus diesem Grund machte Boris Johnson einen Schritt zurück, nachdem er junge Menschen dazu aufgefordert hatte, in der Ukraine zu kämpfen. Alles, was man macht, dient also nur einer Fortsetzung des Krieges, ohne eine Lösung zu bringen oder Russland entscheidend zu bekämpfen. Es führt nur zur Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur.
Es handelt sich also nicht um eine Hilfe für die ukrainische Armee?
Jacques Baud: In der Theorie, ja. In der Praxis, nein. Die Ukraine hat bereits enorme logistische Probleme bei ihren Truppen im Donbas. Sie kann diese kaum noch mit Waffen und Munition versorgen. Und jetzt kreiert man ein neues Problem mit Waffen, die man nicht reparieren kann. Die Mechaniker sind dafür nicht ausgebildet, genauso wenig wie die Besatzung für die Bedienung der Geräte. Ausserdem sind bei den vom Westen gelieferten Systemen die Beschriftungen und Benutzerhandbücher auf deutsch, englisch oder französisch, aber nicht auf ukrainisch. Das klingt so banal, aber das ist ein Problem.
Deshalb sage ich, auch Deutschland will die Krise erhalten. Das ist die Haltung der deutschen Politiker wie Scholz, Baerbock etc. Sie wollen Putin bekämpfen «bis zum letzten Ukrainer». Das hat keinen Sinn.
Aber wenn das so offensichtlich ist, warum geht der Westen diesen Weg?
Jacques Baud: Ich behaupte, der Westen nutzt die Ukraine gegen Russland aus. Das Ziel ist nicht, der Ukraine zu helfen, sondern Putin zu bekämpfen. In den englischsprachigen Medien bestätigen viele Analysten, dass der Westen durch die Ukraine einen Krieg gegen Russland führt. Dies wird als «Proxy-War» bezeichnet. Darum geht es. Wir helfen der Ukraine nicht. Alles andere ist eine Lüge. Wenn ich Ukrainer wäre, würde ich Putin genauso verurteilen wie Ursula von der Leyen oder auch Ignazio Cassis. Denn anstatt eine vermittelnde Rolle zu spielen, befriedigen diese Politiker ihre Ambitionen, indem sie den Krieg auf ungesunde Weise anheizen.15
Guterres hat verlauten lassen, dass der Krieg aufhöre, wenn Russland den Krieg beenden würde.
Jacques Baud: Ein Krieg hat immer zwei Parteien, und in unserem Fall sind es sogar drei. Wir haben Russland, die Ukraine und die sogenannte internationale Gemeinschaft, das heisst die westliche Welt. Es ist klar, wenn der Krieg beendet werden soll, dann braucht es beide Parteien, nicht nur eine. Dazu sind in der Türkei Verhandlungen im Gange, die aber nicht richtig vorwärts gehen. Warum hat die Ukraine ihre eigenen Vorschläge zurückgenommen? Damit ist klar, die Lösung ist nicht nur auf der russischen Seite.
Man hat den Eindruck, die Geschichte wiederholt sich.
Jacques Baud: Ja, heute befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie 2014. Der Westen will nicht mit Putin reden, weil er ein Diktator sei, und drängt Selenskij, keine Zugeständnisse zu machen. Ein Dialog ist daher unmöglich. Das Problem ist, dass Russland operative Erfolge erzielt und seine Gewinne steigert, wenn keine Verhandlungen stattfinden. Der Westen versteckt sich hinter der Illusion eines ukrainischen Sieges. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass er eintritt, wird mit der Zeit immer geringer, auch wenn auf strategischer und kommunikativer Ebene Russland scheinbar verloren hat.
Was hätte die Ukraine tun sollen?
Jacques Baud: Man muss nur die Minsker Abkommen lesen, um zu verstehen, dass ihre Umsetzung im wesentlichen von Verfassungsreformen in der Ukraine abhängt. Diese Reformen erfordern jedoch einen Dialog mit den Autonomisten. Kiew hat diese Schritte jedoch nie eingeleitet, und der Westen hat nie versucht, die ukrainischen Behörden dazu zu bewegen, dies zu tun.
Was 2014 geschah, geschah alles aufgrund des Verhaltens der Ukraine. Diese Abkommen werden nicht umgesetzt, sondern die Lage verschlimmerte sich immer mehr. Das führte zur heutigen Situation, und diese ist ein Resultat der Vorgeschichte, der Dinge, die vorher abgelaufen sind.
Bei den Minsker Abkommen waren doch Frankreich und Deutschland Garanten. Was haben sie gemacht, damit diese Abkommen umgesetzt werden?
Jacques Baud: Das Versagen der westlichen Staaten ist eklatant. Die Ukrainer selbst haben ein neues Wort erfunden. Das heisst «macronieren». Das bedeutet, alles zu tun, um besorgt auszusehen, das auch allen zu zeigen, aber nichts zu tun. Das fasst die Situation der Ukraine gut zusammen. Nein, die westlichen Staaten haben ihre Verantwortung in keiner Weise wahrgenommen. Russland hat jetzt auf einen bewaffneten Konflikt reagiert, der seit 2014 im Gange ist und mit dem Sprachengesetz im Februar 2014 seinen Anfang genommen hat. Die europäischen Staaten unternahmen nichts, um Frieden zu schaffen. Das ist der Grund, warum Putin nicht von Krieg reden will, denn der Krieg hat 2014 begonnen. Mit den Minsker Abkommen war eine Lösung gefunden. So ist die Situation. Guterres ist ein Politiker, und das Problem ist, wir haben weder in der Uno noch in unserem Land für die Politiker einen Spielraum, um eine ausgewogene Meinung zu äussern. Wir sind heute genau dort, als George W. Bush gesagt hatte: «Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.» Wir befinden uns heute genau in dieser Situation, und es gibt überhaupt keinen Raum dazwischen, es gibt nur noch gut oder böse.
Aber das ist doch hausgemacht?
Jacques Baud: Der gesamte Konflikt ist das Ergebnis eines vom Westen sorgfältig ausgearbeiteten Szenarios. Seine Grundelemente wurden 2019 in zwei Publikationen der RAND Corporation, dem Think Tank des Pentagon, unter den Titeln «Overextending and Unbalancing Russia» und «Extending Russia» beschrieben. Darin wird der Ablauf der Ereignisse beschrieben, die zur russischen Offensive im Februar 2022 führten. Danach wurden der Ukraine Versprechungen gemacht, dass sie Mitglied der Nato werden würde, wenn sie einen Krieg anzettle, der zur Niederlage Russlands führe, wie Oleksey Arestovitch in einem Interview mit einem ukrainischen Fernsehsender im März 2019 sagte. Tatsächlich wurden die Ukrainer belogen, wie Selenskij am 21. März 2022 auf CNN feststellte.
In Tat und Wahrheit wussten die Russen schon lange, dass es zu dieser Konfrontation kommen würde. Deshalb bereiteten sie sich militärisch und wirtschaftlich darauf vor. Aus diesem Grund halten sie den Sanktionen und dem Druck besser stand als erwartet. Deshalb bemüht der Westen seine Fantasie, um neue Sanktionen oder neue Methoden zu ihrer Verhängung zu finden wie etwa die Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips in der EU. Wir sind in eine Phase des «Hahnenkampfs» zwischen dem Westen und Russland eingetreten. Das Problem ist, dass die internationalen Institutionen ihre Rolle als Schiedsrichter nicht mehr wahrnehmen, sondern zu Konfliktparteien geworden sind.
Die EU hat doch vor ein paar Jahren den Friedensnobelpreis bekommen. Wo ist das Engagement für den Frieden?
Jacques Baud: Obama hat ihn auch bekommen. Und Obama war der amerikanische Präsident, der sein Land vom ersten bis zum letzten Tag seines Mandats im Krieg gehalten hatte. Er fing drei Kriege an, und die Zahl der Luftschläge verzehnfachte sich im Vergleich zu seinem Vorgänger. Der Nobelpreis wird im Moment wohl von niemandem mehr ernst genommen. Er ist rein politisch.
Herr Baud, ich danke für das Gespräch.
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(Das Interview mit Jacques Baud führte Thomas Kaiser. Publiziert wurde das Interview auf der Plattform www.zeitgeschehen-im-fokus.ch. Die Redaktion von «Zeitgeschehen im Fokus» hat Globalbridge.ch erlaubt, das Interview vollumfänglich zu übernehmen. – «Zeitgeschehen im Fokus» kann auch als gedrucktes Magazin abonniert werden.)
Zur Biographie von Jacques Baud: Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges (UNHCR-Zaire/Kongo, 1995–1996). Er arbeitete für das DPKO (Departement of Peacekeeping Operations) der Vereinten Nationen in New York (1997–99), gründete das Internationale Zentrum für Humanitäre Minenräumung in Genf (CIGHD) und das Informationsmanagementsystem für Minenräumung (IMSMA). Er trug zur Einführung des Konzepts der nachrichtendienstlichen Aufklärung in UNO-Friedenseinsätzen bei und leitete das erste integrierte UN Joint Mission Analysis Centre (JMAC) im Sudan (2005–06). Er war Leiter der Abteilung «Friedenspolitik und Doktrin» des UNO-Departements für friedenserhaltende Operationen in New York (2009–11) und der UNO-Expertengruppe für die Reform des Sicherheitssektors und die Rechtsstaatlichkeit, arbeitete in der NATO und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.