Der Schweizer Außenminister Ignazio Cassis empfängt auf dem Flugplatz den ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj, um wenige Stunden später, zusammen mit der Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd, einen «Friedensgipfel» auf der Basis des 10-Punkte-Friedensplanes von Selenskyj zu organisieren.

Das Ziel ist ein eindrückliches Gruppenfoto …

(Red.) Dmitri Trenin, der russische Politologe – die Leserinnen und Leser von Globalbridge.ch kennen ihn mittlerweile – erklärt im folgenden Kommentar, warum im Westen plötzlich versucht wird, Russland mit Verhandlungen in die Knie zu zwingen: Man hat eingesehen, dass es nie einen militärischen Sieg der Ukraine geben wird. Das neue Ziel ist also, wenigstens einen klaren Sieg Russlands zu verhindern. Zum Beispiel mit von der Schweiz organisierten „Verhandlungen“ an einem „Friedensgipfel“ auf dem Bürgenstock, dessen Resultat im besten Fall ein eindrückliches Gruppenfoto sein wird … (cm)

Die Vereinbarungen von Istanbul – ein vorläufiger Friedensplan, auf den sich Russland und die Ukraine im Frühjahr 2022 geeinigt hatten – werden wieder diskutiert. So wie sie damals verfasst worden sind, sind sie jedoch nicht mehr relevant und werden in Zukunft wohl kaum noch von Nutzen sein. Die Realitäten vor Ort und in den Herzen und Köpfen vieler wichtiger Menschen haben sich völlig verändert.

Aber es ist kein Zufall, dass die geplanten Verhandlungen in der Schweiz gerade zu dem Zeitpunkt begannen, als dem Westen klar wurde, dass die Ukrainer nicht in der Lage sind, militärische Fortschritte zu machen. Ich spreche nicht von einem Sieg, sondern nur von bedeutenden Erfolgen auf dem Schlachtfeld. Darum wurde es notwendig, den Erfolg Russlands irgendwie zu begrenzen, es am Gewinnen zu hindern. Hinter all diesen diplomatischen Machenschaften steht der Wunsch, einen russischen Sieg zu verhindern.

In Wirklichkeit handelt es sich um eine Propagandakampagne. Natürlich ist im Westen niemand in der Stimmung für ernsthafte Verhandlungen. Was bedeutet „ernsthafte Verhandlungen“? Aus unserer Sicht wären ernsthafte Verhandlungen Verhandlungen, die das Problem, das zu der russischen Sonderoperation geführt hat, beseitigen würden. Wenn wir dieses Problem nicht beseitigen, dann werden wir in Zukunft alle mit einem neuen Krieg konfrontiert sein, vielleicht einem noch schrecklicheren und mit noch schwereren Folgen. Deshalb gilt: Wenn man zu den Waffen greift, muss man bis zum Ende gehen, bis zur Lösung des Problems, das einen zu den Waffen greifen ließ.

Der Westen versucht also, und das sagt er jetzt ganz offen, einen russischen Sieg zu verhindern. Und er versucht, dies auf zwei Arten zu erreichen. Zum einen, indem er Waffen und Geld in die Ukraine pumpt. Der andere Weg ist diplomatisch, indem man Verhandlungen vorgibt. Das aber ist diplomatische Propaganda, um einhundertfünfzig Länder zu versammeln, ein Gruppenfoto zu machen und so die russische Führung psychologisch unter Druck zu setzen. Aber ich bin überzeugt, dass sie alle sehr wohl wissen, dass alles weitgehend irrelevant ist, wenn Moskau die erklärten Ziele der aktuellen Militäroperation nicht erreicht. Andernfalls werden die Opfer, die Russland erbracht hat, angefangen von den Verlusten auf dem Schlachtfeld bis hin zu zahlreichen anderen Erschwernissen, umsonst gewesen sein.

Gleichzeitig gilt es festzustellen, dass sich die USA von der Frontlinie zurückziehen. Sie haben zwar immer noch das Sagen, aber schon Obama brauchte den Ausdruck „backseat driver“, d.h. ein Fahrer, der auf dem Rücksitz sitzt. Die USA tun alles, damit sie im Falle eines Zusammenstoßes nicht leiden müssen. Sollen doch die auf den Vordersitzen leiden! Und natürlich sind die Amerikaner nicht so sehr der Ukraine überdrüssig, sie nerven sich vielmehr der Notwendigkeit wegen, ihre Ressourcen, die nicht unbegrenzt sind, in verschiedenen Regionen einsetzen zu müssen. Ja, die USA sind riesig, aber, ich wiederhole, sie sind nicht mehr unbegrenzt. Heute ist der Nahe Osten strategisch viel wichtiger als die Ukraine.

Ich spreche dabei nicht einmal vom Thema China, das von den Amerikanern im Hinblick auf ihre Rolle im Weltgeschehen als existenziell angesehen wird. Werden sie weiterhin die Nummer eins sein, oder werden sie die Nummer zwei werden, und so weiter. Für viele in den USA ist ein solches Szenario die Todesglocke.

Jetzt haben wir die Gelegenheit, das Spiel auf lange Sicht zu spielen, die Bewegungen im Westen in aller Ruhe zu beobachten und sie richtig einzuschätzen. Deshalb ist es interessant zu sehen, was heute über die Verhandlungen und deren Verlauf gesagt wird, und nicht das obligatorische Geschwätz über Russlands Niederlage auf dem Schlachtfeld. Diese Art von Gesprächen ist an sich schon ein Plus für uns.

Wir wissen, dass die USA mittlerweile verstehen, dass sie uns nicht besiegen können und deshalb versuchen, die nächste Stufe ihres Rückzugs zu erreichen. Die Rhetorik dreht sich jedoch immer noch um die Unmöglichkeit, unseren Sieg zuzulassen. Aber für uns wird ein Teilsieg gleichbedeutend mit einer Niederlage sein. Der Westen wird in der Lage sein, die Situation in unserem Land auf jede erdenkliche Weise zu beeinflussen, wenn wir die erklärten Ziele der Militäroperation nicht erreichen.

Meiner Meinung nach arbeitet die Zeit für uns. Warten wir ab, was sich in den USA vor den Wahlen ereignen wird, was bei den Wahlen passiert und was nach den Wahlen geschehen wird. Aber gleichzeitig müssen wir selbst Fortschritte machen, während unser wirklicher Gegner mit innenpolitischen Problemen beschäftigt ist und während seine strategische Vision des Nahen Ostens, Ostasiens und der Ukraine in Aufruhr ist.

Echte, ernsthafte Erfolge auf dem Schlachtfeld, das ist es, was die russische Armee, soweit ich das beurteilen kann, jetzt auch tatsächlich realisiert.

Der Originalkommentar von Dmitri Trenin erschien zuerst in russischer Sprache in der Zeitung «Rossiyskaya Gazeta» und später in englischer Übersetzung auf RT. Die Übersetzung ins Deutsche besorgte Christian Müller, der auch die Headline formuliert hat.