Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XX) – „heute Abend“, „junge Wilde“, „Klimapflege“ sowie „Kosmetik und Hohlkörper“
Vokabelkritik ist zu Kriegszeiten das Gebot der Stunde. Ich veröffentliche in unregelmäßigen Abständen eine Sammlung teils verharmlosender, teils lügenhafter Wörter oder Formulierungen, deren Sinn und Funktion es ist, unsere Gesellschaft – uns alle – an das Undenkbare zu gewöhnen und möglichst geräuschlos in Richtung „Kriegstüchtigkeit“ umzukrempeln.
gnadenlos
Ist laut Ursula von der Leyen „die Welt von heute“. Konsequenz der Kommissionsvorsitzenden: Aufrüsten! Aufrüsten!! Aufrüsten!!!
Grauzone zwischen Krieg und Frieden
Lieblingsbild von Claudia Major, „Sicherheitsexpertin beim German Marshall Fund“ und vielbewundertes Cover-Woman auf ZeitOnline. Seit 2022, weiß die Expertin, „testet“ uns Russland in dieser großen Grauzone zwischen Krieg und Frieden. In diesem trüben Nebel ist zwar nichts beweisbar – aber alles möglich. Daher: Sicherheitshalber jetzt unbedingt aufrüsten! Und zwar „schnellstmöglich“. (vgl. „dämmrige Übergangszeit“, „hybrid“, „Kampf“, „nicht mehr im – kompletten – Frieden“)
Größenordnung
Im Kriegsfall zwischen der NATO und Russland – also spätestens ab 2029 – rechnet die Bundeswehr mit bis zu 1000 Verwundeten pro Tag. Oder in den Worten von Generaloberstabsarzt Ralf Hoffmann: „Eine Größenordnung, über die wir realistisch reden“. (Wozu 15.000 Krankenhausbetten benötigt würden – alle in zivilen Krankenhäusern…) – „Größenordnung“. Klingt nach Haushaltsdebatte oder Konjunkturprognose. Realiter geht es um abgerissene Gliedmaßen, Explosions- und Verbrennungswunden, lebenslange Traumata. Alles eine Frage der Größenordnung. – Beruhigende Nachricht aus Hoffmanns Erzählungen: „Wir sind qualitativ gut!“ (Beunruhigende Nachricht: „Quantitativ sind wir es noch nicht.“)
großmaßstäblicher Angriff
Einen solchen könnte Russland nach dem Ende des Ukrainekrieges auf die NATO starten, so Generalleutnant Sollfrank am 7. November 2025 auf der Berliner Bundeswehrtagung. „Das bedeutet, dass wir uns mit der Möglichkeit eines Angriffs auf uns beschäftigen müssen, ob uns das jetzt gefällt oder nicht.“ – Logische Konsequenz: Vielleicht sollte man mit dem Ende des Krieges in der Ukraine doch noch etwas warten…
Handlungsfähigkeit
Meint in sicherheitspolitischer Aufladung nicht selten: Entscheidung ohne Debatte, Reaktion ohne Reflexion, Eingreifen ohne Legitimation. Wer „handlungsfähig“ sein will, muss schnell entscheiden – oft militärisch. (Die Folgen? – Fuck off!)
herausfordern
Vornehmes Wort für „angreifen“. Schließlich könnte Putin ja, so Markus Söder Ende August 2025 zur Augsburger Allgemeinen, „nach Einschätzungen von Militärexperten zwischen 2027 und 2029 bereit sein, die NATO herauszufordern“. – Klingt nach dem neuen Wort für „Problem“: Herausforderung. Oder nach Duell. Meint: Krieg! Einen, der im Worst Case von unserem Land und Europa nur noch eine auf Zehntausende Jahre verstrahlte Trümmerwüste hinterlassen wird … (vgl. „Fragebogen-Armee“)
heute Abend
„Es könnte heute Abend sein.“ Nein, das ist keine diskrete Einladung zu einem Tête à Tête bei Kerzenschein, sondern das ominöse Gemurmel von Ex-Generalinspekteur Eberhard Zorn, dass Deutschland schon lange vor 2026 zum „Angriffziel“ werden kann. Konsequenz des zornigen Generals: Einjährige Dienstpflicht für Männer und Frauen – aber subito! – PS: Kollege Generalleutnant Alexander Sollfrank war da moderater: Ihm zufolge steht der russische Angriff nämlich erst bereits morgen bevor. (Wetten, dass er „bereits gestern“ stattgefunden hat?)
humanitäre Kampfpausen
Legt ein befreundeter Staat immer mal wieder nicht nur für „humanitäre Korridore“ ein. Um den Gegner zur Abwechselung mit Nahrungsmitteln humanitär bombardieren zu lassen. Und sich vom Kämpfen humanitär zu verschnaufen.
hybrides Gesamttableau
Imposante Wortkomposition des FAZ-Journalisten Reinhard Bingener, der wir uns unter dem ebenso genialen Stichwort „Stressgürtel“ gerne intensiver widmen.
irgendwas dazwischen
Kompakte Formel des Militärhistorikers Sönke Neitzel für solch umständlich-gschamige Windungen und Wendungen wie „noch nicht im Krieg, aber auch nicht mehr (ganz) im Frieden“.
junge Wilde
Diesmal geht es nicht um Avantgardemaler der Londoner Saatchi Gallery oder Post-Digital-Hipster der Pekinger Songzhuang art colony. Gemeint sind zehntausende Jugendliche, die – mit oder ohne Abitur, aber gerne mit stabilem Rücken – als Rekruten „Drohnen, Munitionskisten oder schwere Waffen von A nach B schleppen“ sollen. Tag für Tag. Kilometer für Kilometer. Und als Bonustrack: den künftigen Stellungskrieg und Häuserkampf möglich machen. (Die Bundeswehr sucht sie dringend. Freiwillig, per Los – und wenn alles nichts hilft: per Zwang!) (vgl. „Truppenmix“)
Kampf
„Europa befindet sich in einem Kampf!“, eröffnete, emsig Benzin ins Feuer schüttend, Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen am 10. September 2025 im Europaparlament ihre Rede zur Lage der Union. Worauf die übliche Litanei folgte: „Einem Kampf für einen unversehrten Kontinent in Frieden. Für ein freies und unabhängiges Europa. Einem Kampf für unsere Werte und unsere Demokratien. Einem Kampf für unsere Freiheit und dafür, dass wir selbst über unser Schicksal bestimmen können.“ Es folgten noch ein mahnender – „Unterschätzen Sie das nicht, dies ist ein Kampf um unsere Zukunft“ – und ein verantwortungsvoll-menschelnder Satz: „Ich habe lange und gründlich darüber nachgedacht, ob ich diese Rede zur Lage der Union mit einer solch schonungslosen Aussage beginnen sollte.“ Aber: „Die Welt von heute ist gnadenlos.“ – „Kampf“. Das andere (näherliegendere) K-Wort sparte sie sich für später auf. (vgl. „lange und gründlich darüber nachgedacht“, „schonungslos“)
kein defensives Verteidigungsbündnis
Wussten Sie schon das? Christian Badia, bis vor kurzem ranghöchster deutscher NATO-General, brachte es auf den Punkt: „Die Nato ist kein defensives Verteidigungsbündnis und hat nur defensive Waffen. Wir müssen offensiv gehen.“ Man müsse zu einer „Abschreckung unterhalb der Schwelle des Nuklearen“ kommen. Darauf habe man die Gesellschaft vorzubereiten. Man müsse gegenüber Russland ein „Dilemma schaffen“. Russland dürfe gar nicht mehr auf die Idee kommen, zu überlegen, ob es angreifen wolle. – Sätze, die noch nicht mal mehr eines sarkastischen Kommentares bedürfen… (Oder doch: Wenn es kein defensives Verteidigungsbündnis gibt, gibt es dann wenigstens ein offensives? Ist zumindest ein „aggressives Angriffsbündnis“ in Sicht?)
keine roten Linien
„Wir dürfen für Russland nicht berechenbar sein, sonst ist Abschreckung schwierig zu erreichen. Es darf keine roten Linien geben, die Russland einkalkulieren kann.“ So will der deutsche Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrat die Atommacht Russland abschrecken. – Auf Deutsch: Ab jetzt gibt es keine Tabus mehr, gegen die Russen ist alles erlaubt! Bis zum totalen (deutschen) Untergang. (vgl. „offensive Mentalität“)
Klimapflege
„Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat den Anfangsverdacht auf Bestechung nun verworfen. In ihrer Begründung heißt es, die Spenden hätten der ‚Klimapflege‘ gedient.“ Nein, hier ist nicht Luisa Neubauer um ein Haar zu Unrecht verurteilt worden – es geht um gezielte Wahlkampfspenden der Rheinmetall-Tochter blackned („Digitalisation on Armed Forces“) an Bundestagsabgeordnete, die zufälligerweise über milliardenschwere Rüstungsaufträge im Haushalts- und Verteidigungsausschuss entscheiden. (Und dies dann auch im Sinne von Rheinmetall und Blackned taten.) „Blackned bot mindestens acht Abgeordneten finanzielle Unterstützung an. Sieben nahmen diese an, darunter der CSU-Politiker Reinhard Brandl, Mitglied des Verteidigungsausschusses und stellvertretendes Mitglied des Haushaltsausschusses. Auch Abgeordnete von SPD, FDP und Grünen sollen Zahlungen erhalten haben.“ So die Berliner Zeitung. Dazu Blackned-Lobbyist Peter Obermark ganz ungeniert: Man habe den Verteidigungs- und den Haushaltsausschuss adressiert, „weil da die Macht ist.“ – Alles nicht weiter tragisch, wimmelte die Generalstaatsanwaltschaft Berlin ab. Galt ja nur der „Klimapflege“. (Und wer setzt sich nicht für den Klimaschutz ein?)
Konnektivitätskrieg
Der beutet – so Theologe und FAZ-Korrespondent Reinhard Bingener – die Vernetzung der Welt frech aus, indem er die hybride Kriegsführung auf eine „neue qualitativ andere Stufe“ hebt. Ziel: „den Entscheidungsalgoritmus des Gegners zu manipulieren“. Auf Deutsch: „Man steht sozusagen nicht mit dem Panzer vor der Haustür, sondern man schleicht sich über den Hintereingang ins Haus und sorgt dann dort für Stress.“ (Und jetzt raten Sie mal, wer hier mal wieder maßgeblich aktiv ist…) (vgl. „stiller Krieg“)
Konsens der Vernunft
Einen solchen forderte für Deutschland im Deutschlandfunk – just am 80. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima – Roderich Kiesewetter, um (mal wieder) „mit weitreichenden Waffen der Ukraine die Verteidigung zu ermöglichen und zugleich auch Waffensysteme mithelfen zu entwickeln: weitreichende Raketen in der Ukraine, aber auch Drohnenabwehr. Denn all das, was wir dort entwickeln und lernen aus dem furchtbaren russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, hilft uns dann selbst, eine Ausweitung des Krieges zu verhindern und unsere eigene Wehrfähigkeit zu verbessern – nicht nur der baltischen Staaten oder Polens, sondern auch der Bundesrepublik Deutschland. Und das ist höchste politische Verantwortung, nicht nur der Abgeordneten, sondern auch der Bundesregierung, den Schutz Deutschlands zu ermöglichen und die Ukraine in europäische und atlantische Sicherheitsstrukturen zu überführen, damit so etwas nie wieder auf europäischem Boden passiert.“ – Da bleibt einem nur noch der Stoßseufzer gen Himmel: „Oh Herr, wenn das die Vernunft sein soll, dann schick uns umgehend einen ‚Konsens der Unvernunft‘!“
Kosmetik und Hohlkörper
Litauen-Brigade? – Reine Kosmetik! (Statt 5000 Mann und Frauen bislang lumpige 400.) – Bundeswehr? – Ein Hohlkörper! (20.000 fehlen gegenüber der Planung.) – Und warum dieses Desaster? – Weil der Verteidigungsminister für die Ukraine „ein paar Divisionen geplündert hat“ und damit die Sicherheit Deutschlands gefährdet! – So Oberst a.D. Ralph („steil hineinmarschieren“) Thiele am 22. Mai 2025 im Deutschlandfunk. „Ich hab ja den Kalten Krieg noch vor Augen“, bekommt Thiele nun feuchte Augen. „Damals stand ein Korps neben dem anderen. Das waren immer 50.000 bis 60.000 Mann-Gebinde in Deutschland – Schulter an Schulter ohne Ende! Also eine halbe Million und mehr, die da standen. Und jetzt wollen wir mit dreimal fünftausend – die Nachbarn haben ja auch welche; da sind Briten und andere im Baltikum – gegen Russland standhalten. Das ist doch sehr mutig!“ – Konsequenz: „Ordentlich zulegen! Innovationssprung nach vorne! Hunderttausende Reservisten! Staatsbürgerlicher Dienst! Und nur alten Kram beschaffen, reicht nicht. Wir müssen ins Neue springen. Dafür wirklich Aktion – und geeignete Leute, die action auf die Straße bringen!“ Sinn von Aktion und action: Aufrüsten, aufrüsten, aufrüsten! Und zwar „schnellstmöglich“!
Krieg (der)
„So bereitet Europa seine Jugend auf den Krieg vor“. So die Zwischenüberschrift einer Nachricht ausgerechnet in der Berliner Zeitung. – Den Krieg! Bestimmter Artikel. (Welcher Krieg das sein wird, muss schon gar nicht mehr benannt werden.) Ultimativer Beweis, dass die allgemeine Kriegpropaganda – pardon: „strategische Kommunikation“! – bereits in ihr fortgeschrittenes Stadium getreten ist.
(wird fortgesetzt)
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (I) – „auf dem Hintergrund unserer Geschichte“, „Du willst immer nur mehr“, „Freiheitsdienst“ und „humane Kosten“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (II) – Heute: „militärisch all-in“, „Pazifismus-DNA“, „Resilienz“, „robust“ und „Russisch lernen“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (III) – „2030“, „feministische Außenpolitik“, „Gesicht zeigen“ und „kulturelle Umprogrammierung“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (IV) – „Figuren“, „lodernder Glutkern“, „Opfermut“, „rechtsoffen“ und „Realitätsverweigerung“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (V) – Von der „Suwalki-Lücke“ über „unsere Lebensweise“ zu „Woke und wehrhaft“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (VI) – Von der „Abrüstungsmentalität“ über „Body bags“ zur „Drecksarbeit“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (VII) – Von „Fencheltee-Diplomatie“ über „Glück“ zum „menschgewordenen Hitler-Stalin-Pakt“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (VIII) – „Nachhaltige Wehrhaftigkeit“, „NGOs“ und „Regelbasierte Armee“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (IX) – Von der „tektonischen Verschiebung“ über „weit in die Tiefe des russischen Raumes“ zum „weltpolitischen Beben“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (X) – “absolut mega“, „Bösewichte in Anführungszeichen“, „Daddy“ und „demokratische Krieger“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XI) – Heute: „dienende Führung“, „Dünger“, „einen Gang hochschalten“, „Gamechanger“ und „Greening the armies“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XII) – „Gesülze“, „Husarenstück“, „keine Faxen reißen“ und „kneifen“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XIII) – Heute: „Kaltstart-Akte”, „Ladehemmung”, „Leben“ und „meinem Herzen folgen”.
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XIV) – Diesmal dabei: „neues Gefühl“, „Oma Courage“, „Pearl-Harbor-Moment“ und „Placebo-Truppe“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XV) – „Raubtier“, „rumpeln“, „Stachelschwein“ und „Sinnsuche“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XVI) – „testen“, „unsere Lebensweise“, „verirren“ und „wertegeleitete Außenpolitik“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XVII) – Heute: „am Puls der Zeit“, „Baby“, „Baumarktdrohnen“ und „brutal, ich weiß“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XVIII) – Diesmal: „coolste Ausschnitte“, „echt“, „eisiger Frieden“ und der „European Way of War“
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XIX) – Heute dabei: „faul“, „Friedensangst“, „Generation Waschlappen“ und „glasklarer Auftrag“