
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (II)
Vokabelkritik ist zu Kriegszeiten das Gebot der Stunde. Ich veröffentliche ab jetzt in unregelmäßigen Abständen eine Sammlung lügenhafter Wörter oder Formulierungen, deren Sinn und Funktion es ist, unsere Gesellschaft möglichst geräuschlos in Richtung „Kriegstüchtigkeit“ umzukrempeln. – Der erste Teil dieser Serie erschien am 27. Mai.
Vor über sechseinhalb Jahrzehnten formulierte der Philosoph Günther Anders in seinen berühmten „Thesen zum Atomzeitalter“ einige Gedanken zum „heutigen Typ“ der Lüge, die nicht etwa immer noch aktuell sind, sondern gerade täglich immer aktueller werden. Anders schrieb damals:
„Lügen haben es heute nicht mehr nötig, als Aussagen aufzutreten. Umgekehrt besteht ihre Schlauheit gerade darin, dass sie Kostümierungen wählen, denen gegenüber der Verdacht, dass sie Lügen auch nur sein könnten, nicht mehr auftauchen kann; und zwar eben deshalb nicht, weil diese Verkleidungen keine Aussagen mehr sind. Während sich Lügen bislang aufs Biederste als Wahrheiten getarnt hatten, tarnen sie sich nunmehr auf andere Weise: An die Stelle der falschen Aussagen treten nackte Einzelwörter, die den Anschein erregen, noch nichts zu behaupten, in Wahrheit freilich ihr (lügenhaftes) Prädikat in sich tragen.“
In diesem Sinne präsentiere ich hier eine Reihe gerne verwendeter Wörter aus dem aktuellen Diskurs der Kriegstreiber in Politik und Leitmedien.
Machthaber
Und nicht, was korrekt wäre: „Präsident“. Wird nun immer öfter auch ganz offiziell in den Nachrichten des Deutschlandfunks Wladimir Putin tituliert. Und zwar nur er. Nicht etwa auch sein Antipode in Kiew, dessen Amtszeit bereits seit über einem Jahr abgelaufen ist.
„Jetzt ist die Stunde Europas geschlagen, um für die Ukraine militärisch all-in zu gehen und mit massiver Aufstockung von Waffenlieferungen für Kyjiw in die Bresche zu springen. Deutschland sollte hier die erste Geige spielen und ganz Europa anführen und anspornen, sofort alle Waffensysteme freizugeben“, forderte, wie immer ungeniert und gut gelaunt, Mitte April diesen Jahres der neue UN-Botschafter der Ukraine und Ex-Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk in einem Interview mit der Berliner Zeitung. Und in klarer deutscher Prosa an den neuen Kanzler Friedrich Merz gerichtet: „Geben Sie am 6. Mai, dem Tag Ihrer Amtseinführung, grünes Licht, um all die verfügbaren Kampfjets – Eurofighter und Tornados – sowie 150 Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Schicken Sie uns sofort 100 Leopard-2-Panzer, 200 Marder-Schützenpanzer, 100 Puma-Panzer, Dutzende Mars-II-Raketensysteme aus den Beständen der Bundeswehr.“ Und demnächst am besten auch noch deutsche und andere EU-europäische Soldaten …
nukleare Teilhabe
Die Bundesrepublik Deutschland ist zwar vor 50 Jahren dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten und hat damit auf Herstellung, Erwerb und Besitz von Atomwaffen verzichtet, nimmt sich aber die Option heraus, diese ihr verbotenen Waffen trotzdem einzusetzen. Der Trick: Im „Bündnis-“ oder „Ernstfall“ würden Bundeswehrsoldaten die circa 20 im rheinland-pfälzischen Büchel gelagerten amerikanischen B61-12-Atombomben mithilfe der – von den USA teuer erworbenen – F35A-Kampfflugzeuge zu den „Einsatzorten“ fliegen, dort ausklinken und Hundertausende Menschen in Leichen verwandeln. „Nukleare Teilhabe“ bedeutet also schlicht: Einsatz von Atombomben, die man gar nicht besitzt und nicht besitzen darf!
Operationsplan Deutschland
Was ein wenig klingt wie der berühmte „Generalplan Ost“, bedeutet nichts Anderes als die totale Subordination der gesamten zivilen Infrastruktur (Straßen, Brücken, Häfen, Flugplätze, Energieversorgung, das gesamte Gesundheitssystem etc.) inclusive aller Bürger unter die Logik des Militärs für den Kriegs-, ähh: „Bündnisfall“. (In den Details selbstverständlich geheim. Auch das gehört zum Krieg: Wir dürfen nicht wissen, was man mit uns vor hat!)
Neulich bei Caren Miosga: Ex-Außenminister und ehemaliger Frankfurter Streetfighting Man, Joschka Fischer schwadroniert über Wehrtauglichkeit, Kriegsertüchtigung und den Sinn des Soldatseins. Derlei habe ja nun lange nicht in der deutschen DNA gesteckt, apportiert brav die ARD-Moderatorin: „Da lag Pazifismus.“ Und stellt gleich eilfertig im Sinne der nun von allen geforderten Kriegstüchtigkeitslogik die Frage aller Fragen: „Wie können wir diesen Code schneller überschreiben?“ – Kritischer Journalismus im wiedervereinten Deutschland anno 2025!
In diesen etwas ziviler klingenden Namen ließ die gerade mit dem Aachener Karlspreis dekorierte Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen im März ihr Lieblingsprojekt, das zunächst ungeschminkt „ReArm Europe“ genannte 800 Milliarden schwere EU-Aufrüstungsprogramm umtaufen, nachdem Italien und Spanien sich über die zu drastische Wortwahl beschwert hatten.
Rebellen
Werden hierzulande von Politikern und Leitmedien wohlwollend Aufständische in aller Welt – wie die in der syrischen Region Idlib kämpfenden Islamisten – genannt, die ins westliche geopolitische Konzept gut hineinpassen. Anderenfalls – siehe Donbass – sind es selbstverständlich Terroristen.
regelbasierte Weltordnung
Wohlklingende Leerformel, von der keiner weiß, was sie eigentlich bedeutet. Soll vergessen machen, dass die einzig existierende „regelbasierte Weltordnung“ die „Charta der Vereinten Nationen“ ist, gegen die – und zwar regelmäßig auch vom kollektiven Westen – permanent verstoßen wird. (vgl. auch „Werte“)
Der ursprünglich aus der Psychologie stammende Begriff wird zunehmend vom Militär im Dienste der Umerziehung der gesamten Gesellschaft zur „Kriegstüchtigkeit“ gekapert. Neues Lieblingswort vom (ungedienten) Bundeswehrprofessor und Aufrüstungsapologeten Carlo Masala. Allein im Nachwort seines Spiegel-Bestsellers „Wenn Russland gewinnt“ benutzt er es x-mal. Kostprobe gefällig? „Eine Gesellschaft, der nicht bewusst ist, dass ihre Form des Zusammenlebens durch hybride Kriegsführung bedroht ist, die nicht realisiert, dass Russland durch vielfältige Propagandamaßnahmen und Desinformationskampagnen das Vertrauen der Bevölkerung in die Problemlösungsfähigkeit demokratischer Institutionen und Verfahren erschüttern will mit dem Ziel, die Demokratie als Staatsform zu diskreditieren, wird nicht die Bereitschaft entwickeln, resilient und widerstandsfähig zu werden.“ Und die ist teuer und nicht für ein paar Cent zu haben. – Auf Deutsch bedeutet dieses schöne Wort: „Seht zu, wie ihr mit allem selber klar kommt – und koste es euch euer gesamtes Vermögen oder gar das Leben!“
robust
Wird im wiedervereinten Deutschland jeder Bundeswehreinsatz genannt, bei dem deutsche Soldaten wieder schießen dürfen.
Einen dunklen Assoziationsraum eröffnende Formel für „Vorsicht, Russland will uns wieder erobern!“: „Was nützt die schönste Schuldenbremse, wenn der Russe vor der Tür steht?“, fragte rhetorisch Jens Spahn in einem FAZ-Interview vom 11.03.2025. „Wir Europäer haben doch, zugespitzt gesagt, nur zwei Möglichkeiten: Wir können uns verteidigen lernen oder alle Russisch lernen.“
Euphemistisches Wort für „Bunker“. Dazu zwei Sätze der Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Atomkriegs (IPPNW), die man sich merken sollte: „Wir werden euch nicht helfen können!“ und „Die Überlebenden werden die Toten beneiden!“ (Und hier noch ein weiser – damals auf den Eingang zahlreicher „Schutzräumen“ gesprühter – Spontispruch aus der Zeit des ersten Kalten Krieges: „Wer Bunker baut, plant Kriege!“)
Einlullender Begriff für einen gesellschaftlichen Zustand, der mit Waffen niemals zu erreichen ist.
Sondervermögen
Natürlich nichts anderes als Sonderschulden! Fügt sich nahtlos in die täglich immer dreister werdende Orwell‘sche Logik: „Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unsicherheit ist Stärke“. Nun also: „Schulden sind Vermögen“.
strategische Ambiguität
„Strategische Ambiguität“, erklärt uns die Frankfurter Rundschau vom 15. Mai, „nennt man es, das Gegenüber im Ungewissen über die nächsten Schritte zu lassen. Unter Merz wird das offenbar zur Leitlinie im Umgang mit Russland. Seine Regierung veröffentlicht die deutschen Waffenlieferungen im Ukraine-Krieg nicht mehr online. Auch ob eingefrorene russische Gelder für die Ukraine genutzt werden oder der Marschflugkörper Taurus geliefert wird.“ – Stellen wir die Dinge richtig: Die ‚strategische Ambiguität‘ gilt natürlich nicht Putin, der durch seine Geheimdienste längst über alles Bescheid weiß, sondern der eigenen Bevölkerung: uns! – Im Klartext: Wir werden von der Taurus-Lieferung erst nach dessen erstem Einschlag in Russland erfahren. Wahrscheinlich durch den dann umgehend erfolgenden Vergeltungsschlag auf unser Land…
strategische Kommunikation
Hieß früher mal ganz ehrlich „Propaganda“, später „Public Relations“, aber Wörter nutzen sich halt ab… Seit die NATO 2020 den Krieg um die Köpfe („Cognitive Warfare“) – neben den fünf bisherigen Einsatzgebieten: Land, Wasser, Luft, Weltraum, Cyberspace – zum sechsten offiziellen Kriegsschauplatz erklärt hat, wird auch hier nichts mehr dem Zufall überlassen. Zahllose Start-up-Unternehmen junger Psychologieabsolventen entwickeln nun auf Basis neuester neurowissenschaftlicher Erkenntnisse NATO-finanziert Konzepte zur Massenmanipulation. Und nicht etwa nur für die gegnerische Seite – die Heimatfront muss schließlich stehen! Sprich: Es geht darum, die eigene Bevölkerung soweit zu bringen, sich in den Krieg treiben zu lassen und die entsprechenden ökonomischen und „humanitären Kosten“ willig zu bezahlen.
umstritten
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Menschen, die heute als „umstritten“ gelten, noch vor wenigen Jahrzehnten als „streitbar“ bezeichnet wurden? Sprache ist verräterisch: Während „streitbar“ den betreffenden Menschen in seiner Aktivität präsentiert, ist der „umstrittene“ Mensch nur noch passives Opfer externer Diskurse, als Subjekt verbal also bereits eliminiert! – Die nächste Orwell‘sche Innovation lautet demnach: „Streitbar ist umstritten.“
„Russlands grausamer Angriffs- und Vernichtungskrieg markiert einen radikalen Bruch mit der europäischen Friedensordnung nach dem Ende des Kalten Krieges“, verkündete der damalige Bundeskanzler Scholz – wohl auch in Konkurrenz zu dem zeitgleich einen „Epochenbruch“ proklamierenden Bundespräsidenten – gleich doppelt geschichtsblind kurz vor dem 8./9. Mai 2022. Dazu wäre folgendes anzumerken: (1) Der „radikale Bruch mit der europäischen Friedensordnung“ wurde bereits am 24. März 1999 vollzogen. Und zwar von der NATO durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, an dem sich, eine Premiere, auch das wiedervereinte Deutschland beteiligen durfte. (2) Bei allem Schrecklichen, was in der Ukraine verübt wurde und wird: Ein veritabler Vernichtungskrieg – fast 27 Millionen Tote – war der Krieg, den Hitler-Deutschland gegen die Sowjetunion führte! (vgl. auch „Hitler, neuer oder zweiter“)
völkerrechtswidriger Angriffskrieg
Ist erstens ein doppeltgemoppelter Pleonasmus und wird zweitens von Politikern und Leitmedien nur dann pflichtgemäß und gebetsmühlenartig verwendet, wenn Russland die Ukraine angreift. Weder beim „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO“ gegen Jugoslawien 1999 noch 2003 bei dem der USA und ihrer „Koalition der Willigen“ gegen den Irak oder anderen Kriegen des kollektiven Westens (wie den militärischen Spezialoperationen in Afghanistan, Libyen oder in Syrien) war davon hierzulande irgendetwas zu hören.
Ursprünglich aus der Finanzwelt stammender barbarischer Begriff, der sich aus unerfindlichen Gründen in die Ethik verirrt hat und nun in der Politik jeglichen Interessensausgleich torpediert.
Von Ex-Kanzler Olaf Scholz erstmals in seiner Regierungserklärung fünf Tage nach dem russischen Überfall verwendeter und anschließend höchst erfolgreich in den öffentlichen Diskurs eingespeister Begriff, mit dem sich nun in Sachen Aufrüstung so gut wie alles rechtfertigen lässt. Eng verwandt mit der „regelbasierten Weltordnung“, gegen die angeblich nur Russland verstößt. Soll vergessen machen, dass gegen eben jene Prinzipien vom Westen bereits viel früher – und wiederholt – verstoßen wurde. Mittlerweile von Bundespräsident Steinmeier zum „Epochenbruch“ radikalisiert. (By the way: Wenn es nach dem II. Weltkrieg je eine „Zeitenwende“ gegeben hat, dann – lang, lang ist‘s her! – die von Michail Gorbatschow initiierte Politik des Neuen Denkens, die 1989/90 zum glücklichen Ende des ersten Kalten Krieges führte, bei dem kein einziger Schuss fiel…)
(Red.) Siehe in der gleichen Thematik auch die Publikation „Kritisches Wörterbuch des bunten Totalitarismus“ von Rudolph Bauer.