
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (I)
Vokabelkritik ist zu Kriegszeiten das Gebot der Stunde. Ich veröffentliche ab jetzt in unregelmäßigen Abständen eine Sammlung lügenhafter Wörter oder Formulierungen, deren Sinn und Funktion es ist, unsere Gesellschaft möglichst geräuschlos in Richtung „Kriegstüchtigkeit“ umzukrempeln. Es beginnt mit einer zweiteiligen Serie.
Statt einer Einleitung eine kurze Fabel des Philosophen Günther Anders:
„Worte zu putzen, das überlasse ich dir“, meinte der Halbphilosoph. „Mir liegt allein an der Wahrheit.“
„Ärmster!“ rief der Philosoph.
„Warum Ärmster?“
„Weil du nun auf beides verzichten musst.“
„Auf beides?“
„Jawohl. Auch auf die Wahrheit.“
„Auf welche?“
„Auf die Wahrheit über die Wahrheit.“
„Und die lautet?“
„Dass sie nur durch geputzte Fenster hindurch scheint.“
Abschreckung und Dialog
Wie der Generalinspekteur der Bundeswehr a.D. und ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Harald Kujat scharfsinnig herausgearbeitet hat, lauten die heutigen offiziellen Begriffe der NATO-Strategie nicht mehr, wie im (ersten) Kalten Krieg, „Sicherheit und Entspannung“, sondern „Abschreckung und Dialog“. Dazu die langjährige Russlandkorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz: „‚Abschreckung‘ ist ein aggressiver, ‚Sicherheit‘ ein defensiver Begriff. ‚Dialog‘ verkommt zur Leerformel, wenn man die Interessen des Gegenübers als illegitim betrachtet. ‚Entspannung‘ steht dagegen für ein Programm, für einen umfassenden politischen Ansatz. Der Qualitätsunterschied zwischen der Politik damals und heute ist allein in der Begrifflichkeit erkennbar.“
auf dem Hintergrund unserer Geschichte
Dass man die Lehren aus der Geschichte zu ziehen habe, verkündet heute jeder Plattkopf. Genau wie die Phrase, dass, wer dies nicht tue, zu deren Wiederholung verdammt sei. Aber schon bei der Frage, welche Lehren es denn seien, beginnt der Streit. Wir Deutschen mit unserer singulären Verbrechensgeschichte haben allerdings nicht nur die richtigen Lehren längst gezogen, sondern nun auch noch eine raffinierte, ebenfalls singuläre Aufarbeitungsgeschichte vorzuweisen: „Indem man sich zur Singularität eines Menschheitsverbrechens bekennt, hat man zugleich den singulären Charakter seiner nationalen Läuterung unter Beweis gestellt“, brachte es mal jemand hervorragend auf den Begriff. Alles, was wir Deutschen „auf dem Hintergrund unserer Geschichte“ nun unternehmen, ist daher legitim, nein: moralisch geboten. Daran können sich andere Nationen mal ein Beispiel nehmen… Kurz: Am deutschen Aufarbeitungswesen soll die Welt jetzt gefälligst genesen!
Euphemistisches Lieblingswort selbsternannter „Experten“ wie des leitmedial omnipräsenten Bundeswehrprofessoren Carlo Masala. Nannte man früher schlicht: „Krieg“.
Was wie der Titel eines Sex-Handbuchs für 15- bis 16jährige daherkommt – und den männlichen Frischlingen zur Premiere gleich noch jovial „Weil du es kannst“ auf die Schultern klopft –, ist nichts Anderes als der aktuelle, „Karriere“ versprechende Werbeslogan der (noch freiwilligen) Bundeswehr.
Vielverwendete Begriffe nutzen sich, namentlich zu Kriegszeiten, schnell ab. Bereits zweieinhalb Monate nach Scholzens „Zeitenwende“ sah sich Bundespräsident Steinmeier – zum 8. Mai, versteht sich – gezwungen, verbal nochmal einen draufzulegen: Nun wurde aus „Zeit“ gleich eine „Epoche“ und die „Wende“, die ja zumindest theoretisch eine korrigierende 180-Grad-Wende nicht völlig ausgeschlossen hätte, zum, vermutlich kaum noch zu kittenden, „Bruch“ radikalisiert.
So nennt Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende der bayerischen GRÜNEN, den von ihr vorgeschlagenen sechsmonatigen sozialinklusiven Arbeitsdienst für die postmodern-diverse deutsche Volksgemeinschaft zwischen 18 und 67 Jahren. „Damit wir als Gesellschaft robuster werden, unsere Freiheit verteidigen und das Miteinander stärken, braucht es uns alle. Der Freiheitsdienst ist ein Gemeinschaftsprojekt für Deutschland von allen für alle. Durch den Freiheitsdienst verbinden wir Generationen und Milieus, stärken unsere Gesellschaft und verteidigen, was uns wichtig ist.“ Im Grunde nichts anderes als die schamhaft versteckte Einführung des Wehrdienstes, allerdings: „Der Freiheitsdienst ist viel mehr als der alte Wehrdienst“, so der innenpolitische Sprecher Florian Siekmann: „Er zielt auf eine Gesamtverteidigung mit gesellschaftlicher Widerstandskraft.“ Und passt somit hervorragend in das Konzept des „Operationsplan Deutschland“!
Genozid (genozidal)
Ein Begriff, den man wohl besser gar nicht erst in die Welt gesetzt hätte. Denn er schürt einerseits wie kein anderer Emotionen und ist andererseits nahezu beliebig zu ge- (und miss-)brauchen. Als „Genozid“ wird längst nicht mehr nur der Holocaust oder das bezeichnet, was die Türken im Schatten des Ersten Weltkrieges den Armeniern angetan haben. Als „Genozid“ gilt mittlerweile (aus russischer Perspektive) auch der Angriff Kiews auf den Donbass seit April 2014 sowie (aus westlicher Perspektive) der „völkerrechtswidrige Angriffskrieg“ bzw. „Vernichtungskrieg“ Russlands gegen die Ukraine seit Februar 2022.
Suggeriert, dass alles schon irgendwie in Ordnung sei, wenn zwei verfeindete Seiten über annähernd dasselbe Waffenpotenzial verfügen. Das Konzept haut allerdings schon aus zwei Gründen nicht hin: Erstens fühlt sich jede Seite nur dann „sicher“, wenn sie sicherheitshalber noch über etwas mehr als die jeweils andere verfügt. (Wodurch eine – im Worst Case endlose – Aufrüstungsspirale bereits im Kern angelegt ist.) Zweitens ignoriert die Formel die Bedeutung des Niveaus, auf dem Gleichgewicht herrscht bzw. herrschen soll. Herrscht zwischen zwei verfeindeten Nachbarn ein Gleichgewicht, weil beide über je 50 Benzinfässer verfügen, sind die Folgen im Falle eines plötzlichen Blitzeinschlags etwas anders, als wenn ein Gleichgewicht auf Nullniveau vorgelegen hätte…
Taucht wie auf Kommando immer dann auf, wenn der Westen gerade einen neuen Krieg vorbereitet oder bereits in ihn verwickelt ist. War es im Frühjahr 1999, als der Westen die Bundesrepublik Jugoslawien bombardierte, Slobodan Milošević; war es vier Jahre später Saddam Hussein, als die USA mit ihrer „Koalition der Willigen“ einen völkerrechtswidrigen und mit Lügen begründeten Angriffskrieg gegen den Irak führten und Hundertausende Menschen „unter die Erde brachten“, so ist es nun selbstverständlich der russische Präsident Wladimir Putin. – Willkommener Nebeneffekt: Die Entsorgung der deutschen Vergangenheit, denn nun hat ja jedes Land ‚seinen Hitler‘! (vgl. auch „Vernichtungskrieg“)
Hunderte von Millionen Menschen
Hat laut Agnes Strack-Zimmermann Russlands „zweiter Hitler“, der „Mörder und Killer“ W.P. bereits „unter die Erde gebracht“. – Kleine Korrektur, liebe EP-Abgeordnete und Rüstungslobbyistin, um die Maßstäbe wieder geradezurücken: Hitler-Deutschland hat zwischen 1941 und 1944 im Rahmen seines veritablen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion fast 27 Millionen Menschen unter die Erde gebracht. Soviele Tote hatte noch kein anderer „völkerrechtswidriger Angriffskrieg“ der Weltgeschichte zur Folge! (By the way: „Die Ukraine ernährt“ auch nicht „70 Milliarden Menschen“, wie Frau Strack-Zimmermann flott behauptet. Sondern etwas weniger.)
„Nur, wenn eine Gesellschaft bereit ist, die Kosten zu tragen, die ein Bündnisfall nach sich ziehen würde – und damit meine ich nicht nur die humanen Kosten, sondern ich meine die politischen und ökonomischen Kosten –, dann wird Ihnen alles nichts helfen –“ und nun gerät dem Bundeswehrprofessor Carlo Masala der Satz nicht nur inhaltlich, sondern auch grammatikalisch ins vollends Chaotische. Zum gerade noch identifizierbaren Inhalt schreibt die Journalistin und Sprachkritikerin Christiane Voges treffend: „‚Sicherheits‘-Experte Masala erwähnt das massenhafte Töten und Getötet-Werden, Verletzen und Verletzt-Werden, Vertreiben und Vertrieben-Werden durch und von Menschen nur im Nebensatz als ‚nur humane Kosten‘. Wie ein Schachspieler, der Bauern buchstäblich ‚im Vorübergehen‘ schlägt. Allerdings ist das Ganze kein Spiel, sondern längst bitterer Ernst.“
Koalition der Willigen
Frei nach Goethe: „Und bist du nur willig, so brauch‘ ich Gewalt.“ – Mit dir! Und durch dich.
konventionell
Klingt fast ungefährlich. Jedenfalls nicht bedrohlicher als „konventionelle Landwirtschaft“. Aber dass das Wort „konventionell“ im Zusammenhang mit Waffen in unseren Ohren mittlerweile schon fast harmlos klingt, ist ausschließlich der Tatsache geschuldet, dass die existierenden Atom-, gar thermonuklearen Sprengköpfe – die größte jemals getestete Wasserstoffbombe hatte eine 4.000-fache (in Worten: viertausendfache) Sprengkraft der Hiroshimabombe – die Maßstäbe längst ins Unvorstellbare nach oben verrückt haben. Zur Erinnerung: Sämtliche Kriege der Weltgeschichte minus Hiroshima und Nagasaki wurden „konventionell“ geführt! Die Folgen sind bekannt.
kriegstüchtig
Und nicht etwa „verteidigungsbereit“. Das Wort „Verteidigung“ wird durch „Krieg“ und „Bereitschaft“ durch „Tüchtigkeit“ ersetzt. Ein Wort, das aus offiziellem Munde vor vier Jahrzehnten noch massiven antimilitaristischen Widerstand provoziert hätte, heute jedoch von der Mehrheit der Bevölkerung mit schicksalsergebenem Achselzucken hingenommen wird.
(Wird fortgesetzt.)