Das Samenkorn legen für ein zukünftig friedliches Zusammenleben in Europa
(Red.) Musik ist die Sprache, die auf unserem Planeten alle Menschen verstehen. Und die die Menschen zusammenbringt. Deshalb ist es gerade jetzt in diesen kriegerischen Zeiten wichtig, dass zwischen dem Westen und Russland nicht auch noch die musikalischen Verbindungen gekappt werden. Denn was wäre die europäische klassische Musik ohne die russischen Komponisten: Peter Taschaikowski, Sergej Rachmaninow, Dmitri Schostakowitsch, Alexander Borodin, Sergej Prokofjew und wie sie alle heissen. Und man denke an die ostwestlichen Verbindungen, etwa an die «Bilder einer Ausstellung» von Modest Mussorski, die Klavierstücke, die dann vom Franzosen Maurice Ravel zu Symphonien ausgebaut wurden. Oder auch an den russischen Dichter und Bänkelsänger Bulat Okujava. – Globalbridge.ch wird in nächster Zeit versuchen, russische Musik, die im Internet kostenlos zugänglich ist, etwas genauer vorzustellen. – Zum Auftakt ein Bericht über den «Göttinger Friedenspreis», der in diesem Jahr einer deutsch-russischen Zusammenarbeit im Bereich von Musik und Theater vergeben wurde. (cm)
Am 11. September 2022 wurde in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche der diesjährige «Göttinger Friedenspreis» an das deutsch-russische Jugendaustauschprojekt «Musik für den Frieden – Музыка ради Mира» zwischen Müllheim (Süddeutschland) und Twer (Zentralrussland) übergeben. Die feierliche Preisverleihung fand im Rahmen eines Konzertes «Die junge Zivilgesellschaft reicht sich die Hand» mit den deutschen und russischen Jugendlichen statt. Stellvertretend für die Ensembles wurden Andrey Korjakov, Direktor des «Teatr Premier» aus Twer und Ulrike und Thomas Vogt für das «Ensemble MIR» ausgezeichnet. Die Veranstaltung zur Preisverleihung war wegen der politischen Spannungen zunächst verschoben, dann abgesagt worden, konnte dann schliesslich mit russischer Teilnahme doch stattfinden.
Thomas Vogt, Musikpädagoge aus Süddeutschland, wurde in einem Gespräch mit dem Kulturportal Russland auch gefragt, wie er zu der «Forderung in der deutschen Öffentlichkeit» stehe, «russische Kultur zu boykottieren». Seine Antwort war:
«Ich finde das ganz furchtbar. Russische Kunstschaffende mitsamt der russischen Kultur derartig zu diffamieren. Es ist gefährlich, jetzt alle Brücken abreissen zu wollen, stand und steht [doch] Kultur auch immer als Vermittler den Gesellschaften zur Verfügung. […] Der grosse Geiger Yehudi Menuhin sagte einmal: ‹Musik ist die Muttersprache aller Menschen.› Musik kann jeder und jede über alle menschlichen und politischen Grenzen hinweg verstehen. Musik geht von Herz zu Herz. Das erleben die jungen Musiker so, aber auch die Zuhörer, die das wahrnehmen. Musik ist ein emotionales Erlebnis.
Der Krieg, die Gewalt findet vor allem auf der physischen Ebene statt, auch wenn Hass und entfesselte Gefühle Auslöser sind. Kriegswerkzeuge sind materieller Art: Panzer, Kriegsschiffe, Raketen. Dafür wird leider sehr, sehr viel Geld ausgegeben. Frieden lebt und gedeiht auf der seelischen, emotionalen Ebene. Beim Musizieren lernt man aufeinander hören, entwickelt Verständnis für die Stimme des anderen; im Einschwingen auf einen gemeinsamen Rhythmus lernt man sich gegenseitig kennen; Ziel ist es, mit dem jeweils eigenen Ton mit den anderen ein harmonisches Werk zu schaffen, Teil eines grösseren Ganzen zu sein; empathisch und wohlwollend zu kommunizieren. In diesem sozialen-symphonischen Körper gibt es keine Sieger und keine Verlierer. Das sind die ‹Friedenswerkzeuge›, die wir den jungen Menschen durch die Musik an die Hand geben wollen. Musik kann in dieser Hinsicht Brücken bauen für Verständnis und Freundschaft auch in politisch schwierigen Zeiten.»
Mit dem «Göttinger Friedenspreis» würdigt die Stiftung Dr. Roland Röhl den wichtigen zivilgesellschaftlichen Beitrag des Projekts zu den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. «Der zivilgesellschaftlich engagierte künstlerische Austausch der deutschen und russischen Jugendlichen soll zeigen, dass trotz der fatalen politischen Situation in Europa eine freundschaftliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit über Grenzen hinweg möglich ist», heisst es in der Mitteilung der Stiftung. Das Ensemble «MIR» begann 2019 als musikalischer Jugendaustausch mit dem «Teatr Premier» im russischen Twer an der Wolga. Damals waren 40 deutsche Jugendliche für 10 Tage nach Russland gereist, lebten dort in Familien und probten gemeinsam. Danach gaben beide Ensembles in Twer und Moskau erfolgreiche Konzerte. Einige Wochen später erfolgte mit den Konzerten der Gegenbesuch in Süddeutschland.
Das Ehepaar Thomas und Ulrike Vogt aus Müllheim arbeitet seitdem mit seinem russischen Partner Andrey Korjakov, Direktor des «Teatr Premier» zusammen. Mit den Projekten soll «auf zivilgesellschaftlicher Ebene in direktem persönlichem Kontakt ein Zeichen für ein friedliches, freundschaftliches und vertrauensvolles Zusammenleben in Europa gesetzt werden.» Bis zu 70 Jugendliche zwischen 15 und 22 Jahren wirken bei den Projekten mit. So entstanden gemeinsame szenische Bühnenprogramme mit Musik, Tanz und Theater, die dann in beiden Ländern aufgeführt werden. Während der Corona-Pandemie, die gegenseitige Besuche verunmöglichte, konnten verschiedene gemeinsame Videoprojekte realisiert werden. Das jüngste Videoprojekt «Du bist stärker als Dein Schatten» wurde am 6. Februar 2022 veröffentlicht. Darin geht es um den Umgang mit Problemen und Verführungen, mit denen junge Menschen häufig konfrontiert sind: Drogen, Diebstahl, Bestechung, Mobbing.
Gerade dieses Projekt ist nicht nur beispielhaft für sinnvolle Friedensarbeit, sondern auch ein wunderbares Beispiel für gelungene Präventionsarbeit. Der Videopart wurde in Russland mit 40 Schauspielern aufgenommen und produziert, der unterlegte Song, komponiert von Andrey Korjakov, wurde in Deutschland mit 35 jungen Musikern aufgenommen und produziert. Am Anfang des Videos heisst es: «Du bist stärker als Dein Schatten! Überall auf der Welt lauern Verführung und Gewalt, Gier und Sucht. Kannst Du widerstehen?» In der Mitte des Videos kommt die Wende: «Wir können alle widerstehen, wenn wir die dunkle Seite in uns verwandeln. Wenn wir uns in Liebe und Freundschaft begegnen, können wir gemeinsam den Weg in eine friedliche, lichte Zukunft beschreiten.»
Man kann das Video hier ansehen.
Das Ensemble MIR (Music for International Relations), gegründet im Herbst 2021, bringt anspruchsvolle musikalische Programme mit Tanzchoreografien und schauspielerischen Elementen auf die Bühne. Das Ensemble ging aus der Musical-Company des «Lise-Meitner-Gymnasiums» Grenzach-Wyhlen hervor. Die Jugendlichen aus Südbaden erarbeiten ihre Konzertprogramme in Zusammenarbeit mit der Jugendtheatergruppe «Premier» aus Twer im Rahmen eines Austausches in beiden Ländern. Das Ensemble steht musikbegeisterten Jugendlichen, die sich für den Frieden in der Welt einsetzen wollen, offen.
Die Initiatoren Thomas Vogt (Musikpädagoge) und Ulrike Vogt (Musikerin) haben seit den achtziger Jahren zahlreiche grosse musikalische Projekte mit Jugendlichen durchgeführt. Friedensprojekte standen immer wieder im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Nach seiner Pensionierung 2021 führt Thomas Vogt mit Ulrike Vogt die Projekte «Musik für den Frieden» mit dem Ensemble MIR weiter. Mit einem Auftritt ihres Jugendorchesters der Waldorfschule Müllheim umrahmten sie den «Festakt zum 50. Jahrestag der Befreiung der KZ-Häftlinge» in St. Petersburg vor über 900 Zuhörern aus ganz Europa.
Teatr Premier, Twer: Das preisgekrönte Jugendtheaterensemble «Premier» aus Twer in Russland wurde 1992 unter Leitung von Andrey Korjakov gegründet. Seither gibt es jährlich mehrere Theaterproduktionen mit verschiedenen Kinder- und Jugendensembles auf hohem Niveau. Das Repertoire umfasst ein grosses Spektrum von Drama über Komödie bis zu Musicals. 2012 wurde das Theater ausgezeichnet und darf den Titel «Volkstheater» tragen. Das Kreativteam um Andrey Korjakov möchte eine Theaterwelt präsentieren, die universelle Werte vermittelt und die spirituelle Entwicklung eines Menschen in den Vordergrund stellt. Andrey Korjakov, Direktor des Teatr Premier, absolvierte 2002 die Pädagogische Fakultät der Staatlichen Universität Twer. Im Jahr 1992 gründete er das Kindertheaterstudio «Premier», das sich später zu einem vollwertigen, unabhängigen Theater entwickelte. Er ist Leiter der einzigen Musicalschule der Region, in der Kinder und Jugendliche in Schauspiel, Tanz und Gesang ausgebildet werden. Ebenso leitet er das alljährlich stattfindende Kindermusical-Festival. Die Musiktheaterstücke, sowohl die Texte als auch die Musik, stammen grösstenteils aus seiner Feder. Seine Werke werden nicht nur vom Publikum geliebt, sondern bekamen auch eine Reihe von Auszeichnungen. Im Jahr 2017 wurde Andrey Korjakov mit dem Preis des Gouverneurs der Region Twer «für Leistungen im Bereich Kultur und Kunst» ausgezeichnet.
(Red. Dieser Bericht von Eva-Maria Föllmer-Müller erschien zuerst in der Zeitung «Zeit-Fragen»)
PS der Redaktion: Andreas Zumach, der zwischenzeitlich zurückgetretene Präsident der Jury des «Göttinger Friedenspreises», legt Wert auf eine Präzisierung. Die oben beschriebene Feier war nicht von der «Stiftung Dr. Roland Röhl» organisiert worden, sondern vom Ehepaar Vogt als Ersatz für die von Dr. Röhl abgesagte Feier. Es empfiehlt sich deshalb auch die Lektüre dieses Berichts.