Das politische Vermächtnis Michail Gorbatschows (IV): Gorbatschow warnt: „Krieg liegt in der Luft“ – Und der Mainstream hält sich die Ohren zu!
(Red.) Unser Autor hat Michail Gorbatschow jahrelang publizistisch begleitet. Nun nach seinem Tode und auf dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine erweist sich, wie prophetisch viele seiner Warnungen waren. Anlass für uns, einige Essays Leo Ensels zu Gorbatschows Wirken hier nochmals im Original zu veröffentlichen. – Michail Gorbatschow hat am 12. März 2020 in einem leidenschaftlichen Appell die Atommächte davor gewarnt, eine Politik weiter fortzusetzen, deren letzte Konsequenz Krieg sein könnte. Bis auf eine Ausnahme war das den deutschen Medien keine Meldung wert!
Verkehrte Welt: Der erste und letzte Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, der zu Beginn des Monats seinen 89. Geburtstag feierte, veröffentlichte am 12. März in der „kremlkritischen“ Novaja Gaseta einen leidenschaftlichen Antikriegs-Appell, und das einzige Medium, das in Deutschland, dem Land mit den weltweit meisten Gorbi-Fans, darüber berichtete, waren – die „kremlnahen“ SputnikNews!
Aber man ist ja, was die Gorbatschow-Rezeption in Deutschland angeht, mittlerweile einiges gewohnt. Sein letztes Buch „Was jetzt auf dem Spiel steht – Mein Aufruf für Frieden und Freiheit“ wurde in den Leitmedien fast durchgängig ignoriert und das Comeback, das ihm hierzulande anlässlich des 30. Jahrestags des Mauerfalles gnädig gewährt wurde, erwies sich als ein sehr kurzes Intermezzo.
„Um der Macht willen, sind die Falken zu allem bereit!“
Der Mann, der den (ersten) Kalten Krieg beendete, ist für seine klaren Worte bekannt. „Es liegt Krieg in der Luft! Um der Macht willen, sind die Falken zu allem bereit“, schreibt er – und das sollte man bitter ernst nehmen. Zweimal habe die Welt bereits innerhalb der ersten beiden Monate dieses Jahres vor einer militärischen Konfrontation mit Beteiligung der Großmächte gestanden: im Iran, im Irak und in Syrien. „Was ist das?“, fragt Gorbatschow. „Das ist die alte Politik am Rande eines Krieges, eine gefährliche, abenteuerliche Politik!“ Immer zahlreicher würden die Stimmen, die Krieg und Gewalt wieder als Mittel der Politik anpriesen. Selbst Atomwaffen würden wieder gelobt. „Clausewitz wäre sehr überrascht, zu erfahren, welche Menschen sich im 21. Jahrhundert hinter seinen Worten verstecken!“
Gorbatschow prangert die USA an, sich aus sämtlichen Rüstungskontrollverträgen zurückzuziehen. Und er richtet den Blick auf die zahlreichen „Dangerous Brinkmanships“, brandgefährliche Beinahkollisionen zwischen den Streitkräften der NATO und Russlands – seit Beginn der Krimkrise mindestens 66 „Critical Incidents“, darunter drei, die unter die Kategorie „High Risk“ fielen – und nicht nur im Schwarzen Meer oder über der Baltischen See: „Militärflugzeuge fliegen bedrohlich dicht an ausländische Grenzen, Schiffe nähern sich gefährlich, Zivilflugzeuge wurden bereits mehrmals mit Raketen abgeschossen!“
„Wenn die Folge der Politik Krieg ist, dann nieder mit dieser Politik!“
Und dann zieht der Vater des INF-Vertrages, der zudem mit Ronald Reagan 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit verschrottete, unmissverständlich die Konsequenz: „Wenn die Folge der Politik Krieg ist, dann nieder mit dieser Politik! Kommt endlich zur Vernunft. Hört auf! Jede Aktion ist zu stoppen, die uns einer Katastrophe näher bringt – das ist das Gebot für verantwortungsvolle Politiker.“
Gorbatschow bedauert nicht zuletzt, dass die Führer der USA und Großbritanniens das Angebot Präsident Putins abgelehnt hätten, zu den Feierlichkeiten des 75. Jahrestags des Sieges im II. Weltkrieg nach Moskau zu kommen. Damit hätten sie auch die Chance ausgeschlagen, zusammen mit den anderen ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats die gegenwärtige alarmierende Situation zu erörtern und die Erklärung der Unzulässigkeit eines Atomkriegs zu bekräftigen.
Die Reaktion der deutschen Medien auf die Warnungen ‚unseres‘ Gorbi: Nullkommajoseph!
Die Ignoranz der Medien
Macht man sich die Echolosigkeit, die Gorbatschows Appell in Deutschland entgegenschlug, in ihrer ganzen Tragweite bewusst, dann verschlägt es einem fast die Sprache:
Es ist, als hätte der fast neunzigjährige, gesundheitlich angeschlagene Gorbatschow auf seinen letzten Metern nochmals in einem ultimativen Kraftakt die gesamte ihm zur Verfügung stehende Energie gebündelt, um sie auf das wichtigste Ziel zu richten, das es im Moment geben kann: die Welt – Politiker und Bevölkerungen – aufzurütteln, alles, aber auch alles zu unternehmen, es nicht zum Äußersten, einem wieder möglich gewordenen alles vernichtenden Atomkrieg zwischen den Supermächten kommen zu lassen.
Das Schweigen, nein: die vorsätzliche Ignoranz nahezu sämtlicher deutschen Medien ist nicht etwa nur peinlich, nicht nur beschämend, gar erbärmlich – sie ist unverzeihlich!
(Erstveröffentlichung des Essays: 17.03.2020)
Das politische Vermächtnis Michail Gorbatschows (I): Renaissance des Neuen Denkens