Ferienparadies Nha Trang in Vietnam (Foto Felix Abt)

Das Leid der jungen Russen im vietnamesischen Ferienparadies

(Red.) Der Schweizer Felix Abt – er lebt zurzeit in Vietnam – staunt immer wieder, wie westliche Medien in ihren Berichten über Russland und über die Russen das Bild verzerren. Hier seine Analyse, wie ein NZZ-Bericht aus Vietnam große Lücken hat – und wie er so typisch für die westlichen Mainstreammedien ist. (cm)

Europäische Medienberichte verweisen auf die jungen Russen, die vor der angeblichen militärischen Mobilmachung für den Ukraine-Krieg fliehen, statt auf die Zehntausende verzweifelter junger ukrainischer Zivilisten und die mehr als 100.000 desertierten ukrainischen Soldaten, die alles tun, um nicht als Kanonenfutter für den Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland im Osten des Landes verheizt zu werden, den das aggressive Kriegsbündnis ohnehin verliert.

Das kriegsbefürwortende Magazin „Politico“ ist eines der wenigen Medien, die die massive ukrainische Wehrdienstverweigerung zugeben (Politico-Schlagzeile vom 25. März 2024)

So schreibt die NZZ in ihrem jüngsten Bericht aus Vietnam im Titel: „Der vietnamesische Ferienort Nha Trang zieht Familien an, die ihr Leben nicht für Putins Krieg hingeben wollen“. 

Der Artikel über junge russische Dissidenten schließt mit einem Zitat der russischen Sängerin Turi, die in dem beliebten vietnamesischen Küstenort Nha Trag lebt, den die Medien auch schon als Strandhauptstadt Vietnams bezeichnet haben: „Wir alle wollen ein normales Leben führen.“ Für viele Russen, die keine Bar oder Bäckerei betreiben, die man an einer Hand abzählen kann oder die online arbeiten, wie z. B. Programmierer, stellt dies jedoch eine große Herausforderung dar. Ein junger russischer Anwalt, mit dem ich ab und zu ein Bier trinke, hat das Glück, von Nha Trang aus für eine Moskauer Anwaltskanzlei Rechtsfälle zu bearbeiten. 

Viele der jungen Russen haben kein regelmäßiges Einkommen und leben am Rande der Armut. Darüber verliert die NZZ kein Wort. Und im Gegensatz zu meinen Erfahrungen hat die Reporterin keine russischen Kinder gesehen, die am Strand ihr selbstgebasteltes Spielzeug an Touristen verkaufen. Sie zitiert lediglich eine Handvoll Russen, die sie in einer von einem Russen geführten Bar in Nha Trang getroffen hat. Von ihnen schreibt sie:

Sie wissen nicht, ob sie je heimkehren können, wenn der Krieg enden wird.“ Ausserdem spekuliert die Journalistin: „Russland verliert einen Teil seiner talentiertesten Leute – vielleicht für immer“. Sie zitiert den ehemaligen Polizisten Anton, der seine Kinder gefragt haben soll: „Dort (in Russland) droht Knast und Krieg, hier (in Nha Trang) hat es Strand und Sonne. Wo wollt Ihr leben?” Sie schreibt auch über den russischen Weltenbummler Anton, der „der russischen Mobilmachung entflieht“. 

Der Artikel lässt einen entscheidenden Punkt aus: Vor nicht allzu langer Zeit lebte in der Stadt eine wesentlich größere Zahl junger Russen. Ein großer Teil von ihnen ist nach Russland zurückgekehrt. Als ich einen russischen Bekannten, der sich auf die Rückreise nach Russland vorbereitete, fragte, ob er Repressalien zu befürchten habe, antwortete er ohne Umschweife: „Warum? Ich habe nie einen Marschbefehl erhalten, also bin ich kein Deserteur.“

Berichten zufolge sind etwa 50 % der Russen, die das Land nach dem Einmarsch in die Ukraine verlassen haben, nach Russland zurückgekehrt. Das bedeutet, dass von den schätzungsweise 900.000 Russen, die ausgewandert sind, rund 450.000 zurückgekommen sind.

Schlagzeile Deutschlandfunk

Die in Nha Trang lebenden jungen Russen befürchteten nach der russischen Invasion in der Ukraine eine allgemeine Mobilmachung, die jedoch nicht eintrat. Nach Angaben des Institute for the Study of War in Washington rekrutieren die russischen Streitkräfte jeden Monat 30.000 Freiwillige. Das war weit mehr als genug, um den Bedarf an Soldaten für die Streitkräfte zu decken.

Sowohl nach ukrainischen Angaben als auch nach Angaben des Washingtoner Instituts für Kriegsstudien rekrutiert Russland 30.000 Freiwillige pro Monat und konnte daher eine allgemeine Mobilisierung vermeiden. (Schlagzeile Business Insider)

Laut der englischsprachigen Version von Wikipedia wendet Russland 6,5 % seines BIP für Militärausgaben auf. Verglichen mit Algerien (8,2 %) und Saudi-Arabien (7,1 %) ist diese Zahl bemerkenswert niedrig. Im Jahr 1944 erreichten die Militärausgaben schwindelerregende 75 % vom deutschen BIP, was den endgültigen Übergang zu einer Kriegswirtschaft verdeutlicht. Dies steht in krassem Gegensatz zu den Verhältnissen in Russland, obwohl in westlichen Berichten häufig auf die angebliche russische Kriegswirtschaft verwiesen wird.

Es ist nicht verwunderlich, dass die NZZ von Russlands nicht vorhandener „Kriegswirtschaft“ schwadroniert. (Schlagzeile NZZ)

In diesem Sommer hatte ich die Gelegenheit, Russland zu besuchen, und war überrascht von der pulsierenden Wirtschaft – die Geschäfte sind voll mit Waren und die Restaurants voller Gäste. Vom Krieg und den Sanktionen war nichts zu spüren.

Die vier Länder mit den höchsten Militärausgaben in der Welt im Jahr 2023, gemessen am BIP (Quelle: Statista)

Die Reporterin ließ bei ihrem Besuch in Nha Trang die Chance ungenutzt, die vietnamesischen Perspektiven vor Ort kennenzulernen. Meine vietnamesischen Bekannten erwähnten, dass Putin bei einem seiner jüngsten Besuche die beträchtlichen Schulden Vietnams gestrichen hat. Mit einem Hauch von Bitterkeit stellen sie fest: „Die Amerikaner stehen nach wie vor in unserer Schuld, denn jeden Tag sterben unschuldige Vietnamesen durch die von den USA freigesetzten Gifte und Bomben. Jeden Tag sind Bauern mit den tragischen Folgen nicht explodierter amerikanischer Bomben konfrontiert und erleiden Verletzungen oder verlieren sogar ihr Leben. Gleichzeitig werden zahllose Babys leblos oder mit schweren Missbildungen aufgrund der Auswirkungen amerikanischer Gifte geboren, während Washington schweigt und keine Entschädigung für diese verheerenden Verluste anbietet.“

Der Autor unterstützt ein vietnamesisches Waisenhaus (Bild) für Kinder, die durch amerikanisches Dioxin so stark geschädigt wurden, dass sie niemals alleine überleben können (Foto: Felix Abt).

Die lesbische Frau Turi, die als Sängerin in einer russischen Bar und als Gesangslehrerin arbeitet, wird in der Zeitung mit den Worten zitiert: „Putin hat mein Land gestohlen“. Deshalb fügt die Reporterin hinzu: „Putin sieht Homosexualität als Bedrohung für den Staat.“ Vielleicht sieht er das so, vielleicht aber auch nicht: 2013 verabschiedete Russland ein Gesetz, das „Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen“ unter Minderjährigen verbietet. Im Juli 2020 nahmen die russischen Wähler eine Verfassungsänderung an, die die gleichgeschlechtliche Ehe verbietet. Die Änderung besagt, dass die Ehe nur zwischen einem Mann und einer Frau geschlossen werden kann. Ob das moralisch verwerflich oder akzeptabel ist, will ich nicht beurteilen. Das müssen die Russen für sich selbst entscheiden. 

Diese Berichterstattung zeigt, wie sehr es sich um schlampige Recherche und realitätsfernen, parteiischen Meinungsjournalismus handelt, der für die westlichen Mainstream-Medien sehr charakteristisch ist. Wer dafür noch Geld bezahlt, dem ist nicht mehr zu helfen. Der Übergang zu alternativen Medien ist längst überfällig.

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Felix Abt ist Unternehmer, Autor und Reiseblogger und lebt derzeit in Vietnam.