Die Blockade Leningrads dauerte 872 Tage und hatte das klare Ziel, die Menschen der Stadt durch Hunger umzubringen. (Foto Archiv)

„Das größte Sterben seit dem Dreißigjährigen Krieg“ – Mit dem Sieg über Hitler-Deutschland beendete die Sowjetunion auch einen Vernichtungskrieg (I)

Anlässlich des Ausschlusses der Vertreter Russlands und der Republik Belarus von den offiziellen Gedenkfeiern zum 8./9. Mai empfiehlt es sich, sich nochmals mit den deutschen Greueltaten zu beschäftigen, die dem sowjetischen Einmarsch vor 80 Jahren vorausgegangen waren. Und wer heute flott vom „Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine“ spricht, sollte mal den Krieg der Wehrmacht auf die Sowjetunion intensiver studieren. Dieser Krieg war von Anfang an als Vernichtungskrieg geplant, der sich auch gegen Teile der Zivilbevölkerung richtete. Fast 27 Millionen Sowjetbürger fielen ihm zum Opfer. (Erste Folge einer zweiteiligen Serie.)

Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine wurde in Kiew immer wieder erklärt – und von den deutschen Leitmedien begierig aufgegriffen –, Russland führe einen „Vernichtungskrieg“ gegen die Ukraine. (Und genau dieses ‚Argument‘ wird nun wieder ins Feld geführt, um offizielle Vertreter Russlands und Weißrusslands von den Gedenkfeiern zum 8./9. Mai auszuschließen.) In einem Land, in dem bei gefühlt jeder dritten öffentlichen Debatte ein unzulässiger „Hitler-Vergleich“ oder eine „Relativierung des Holocaust“ dingfest gemacht wird, überrascht die Gedankenlosigkeit, mit der dieser Begriff seitdem fast überall nachgeplappert wird. Den Vorwurf einer Relativierung der deutschen Verbrechen im Krieg gegen die Sowjetunion hat man in diesem Zusammenhang jedenfalls noch nirgends vernommen. Wenn aber jemals ein Krieg die Bezeichnung „Vernichtungskrieg“ verdient hat, dann der, den Wehrmacht und SS zwischen 1941 und 1944 auf dem Territorium der Sowjetunion führten.

„Der russische Magen ist dehnbar!“

„Armut, Hunger und Genügsamkeit erträgt der russische Mensch schon seit Jahrhunderten. Sein Magen ist dehnbar, daher kein falsches Mitleid.“

Dies schrieben nicht etwa Hitler, Himmler oder Goebbels. Der Satz stammt von Herbert Backe, Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Er findet sich in einem als „Gelbe Mappe“ bezeichneten Papier, das Görings Ernährungsbeauftragter genau drei Wochen vor dem Überfall auf die Sowjetunion unter dem Rubrum „Geheime Kommandosache“ über 10.000 Landwirtschaftsführern im ‚Reich‘ zukommen ließ. Die gesamte künftige Besatzungspolitik des riesigen zu erobernden Raums im Osten solle unter dem obersten Prinzip „Was nützt es Deutschland?“ stehen. Bereits einen Monat zuvor, am 2. Mai 1941, hatte es in einer Sitzung von Staatssekretären und führenden Offizieren der Wehrmacht geheißen: „Der Krieg ist nur zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Rußland ernährt wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.“ 

Der Überfall als ‚Kriegsnotwendigkeit‘

Im zweiten Jahr des von ihnen entfesselten Krieges hatten die deutschen Aggressoren sich in eine Sackgasse manövriert. Trotz erfolgreicher Blitzkriege gegen Polen, Dänemark, Norwegen, die Niederlande, Belgien und Frankreich war es Hitlers Wehrmacht nicht gelungen, England in die Knie zu zwingen. Der kriegsentscheidende Sieg an der Westfront war damit in weite Ferne gerückt. Nach wie vor konnte die britische Schlachtflotte mittels Seeblockade Deutschland in existenzielle Bedrohung bringen. 

Schon zu Friedenszeiten war das Deutsche Reich nicht in der Lage gewesen, sich aus den Erträgen der eigenen Landwirtschaft zureichend zu ernähren. Wie der Historiker Götz Aly in seinem vielbeachteten Band „Hitlers Volksstaat“ herausgearbeitet hat, „gelang es der NS-Führung auch mit äußerstem Kräfteaufwand allenfalls, 83 Prozent der eigenen notwendigen Lebensmittel im Inland produzieren zu lassen. In jedem Fall blieben Einfuhren – insbesondere von Pflanzenfett und Futtergetreide – notwendig, um die Bevölkerung ausreichend zu versorgen. Die Mobilisierung der Streitkräfte führte zwangsläufig zum Mangel an Kunstdünger, für den derselbe Stickstoff gebraucht wurde wie für die Pulverproduktion; ferner fehlte es bald an Männern, Pferden, Traktoren, neuen Maschinen und Treibstoff.“ All diese Importgüter, und nicht zuletzt das kriegsnotwendige Erdöl, waren unter den Bedingungen der britischen Seeblockade zu schwer erreichbarer Mangelware geworden.

Was Hitler in „Mein Kampf“ unter dem Stichwort „Lebensraum im Osten“ noch eher vage als ideologisches Fernziel angedeutet hatte – die Eroberung der Sowjetunion bis zum Ural sowie die Vertreibung, Versklavung und Ermordung der dortigen Bevölkerung – und was er noch am 11. August 1939 gegenüber dem Schweizer Völkerbundkommissar Carl Jacob Burckhardt so formuliert hatte: „Alles was ich unternehme, ist gegen Russland gerichtet; wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen, und dann nach seiner Niederlage mich mit meinen versammelten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden. Ich brauche die Ukraine, damit man uns nicht wieder wie im letzten Krieg aushungern kann.“ – dies wurde nun im Frühjahr 1941 aus der Perspektive der Täter zur dringenden „Kriegsnotwendigkeit“. 

„Sie starben, damit Deutschland lebe“

Hitlers letzter Satz bringt das Trauma der Nazis auf den Punkt: Eine aus Hunger, Mangelernährung und Kriegsmüdigkeit geborene Revolution der eigenen Bevölkerung gegen das Regime, wie im November 1918, sollte um jeden Preis – sprich: auf Kosten der sowjetischen Bevölkerung – verhindert werden. Oder mit den späteren Worten Görings vom 24. August 1942: „Bevor das deutsche Volk in eine Hungerkatastrophe kommt, sind die besetzten Gebiete und ihre Bevölkerung dem Hunger auszuliefern.“ Am 8. November des Vorjahres hatte er vom „größten Sterben seit dem Dreißigjährigen Kriege“ gesprochen. Sein Kollege, der Reichsführer SS Heinrich Himmler gab bereits Mitte Juni 1941, eine Woche vor dem Überfall, bei einem Treffen mit hohen SS-Führern auf der Wewelsburg als Planziel eine „Dezimierung der sowjetischen Bevölkerung um 30 Millionen Menschen“ vor.

Am 22. Juni 1941 fiel die Wehrmacht mit rund drei Millionen Soldaten und 625.000 Pferden in die Sowjetunion ein, wo sie anfangs gegen eine sich zäh verteidigende, aber schlecht organisierte Rote Armee – Stalin hatte sie zuvor der meisten ihrer führenden Köpfe beraubt – weite Geländegewinne verzeichnen konnte und bei den großen Kesselschlachten Hunderttausende sowjetische Soldaten in Gefangenschaft nahm. Um die Bevölkerung im ‚Reich‘ zu entlasten, hatte die Wehrmacht die Devise, sich „aus dem Lande“ zu ernähren. Hitlers allgemeine Anweisung „Es kommt darauf an, den riesenhaften Kuchen handgerecht zu zerlegen, damit wir ihn erstens beherrschen, zweitens verwalten, drittens ausbeuten können. Der Riesenraum im Osten muss zunächst schnellstmöglichst befriedet werden, am besten dadurch, daß man Jeden, der nur schief schaut, totschießt“, war von Verwaltung und Wehrmacht bereits in konkrete Pläne für die Besatzungspolitik operationalisiert worden. 

Die Bevölkerungs- und Ernährungsspezialisten aus der Verwaltung teilten den sowjetischen Raum westlich des Urals in sogenannte „Überschuss-“ und „Zuschussgebiete“ ein. Geplant war, die fruchtbaren „Überschussgebiete“, die sie im Schwarzerdegebiet, der Ukraine und im Kaukasus ausmachten, von den nördlich gelegenen „Zuschussgebieten“ hermetisch abzuriegeln und die Bevölkerung dem Hungertod preiszugeben. In den „Wirtschaftspolitischen Richtlinien für Wirtschaftsorganisation Ost, Gruppe Landwirtschaft“ vom 23. Mai 1941 las sich das so: „Die Bevölkerung dieser Gebiete, insbesondere die Bevölkerung der Städte, wird größter Hungersnot entgegensehen müssen. Viele 10 Millionen von Menschen werden in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern [ein Euphemismus für brutale Vertreibung; L.E.] müssen.“

In der Realität erwies sich dieser Plan jedoch über weite Strecken als schwer praktikabel, da die deutsche Besatzungsmacht sich außerstande sah, die hungerbedingten Wanderungsbewegungen zu unterbinden. Punktuell konnte er allerdings durchaus – und im Sinne der deutschen Aggressoren infernalisch erfolgreich – umgesetzt werden: Dies gilt insbesondere, ein klarer Verstoß gegen das damals geltende Kriegsvölkerrecht, für die sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen 3,3 Millionen (d.h. 57,9 %) in deutschem Gewahrsam an Hunger, Entkräftung und Seuchen elendig verreckten. (Dass die auf diese Weise ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen – ihr Tod war von vorneherein „als Kriegsnotwendigkeit“ einkalkuliert – nach den europäischen Juden die zweitgrößte Opfergruppe der Nationalsozialisten darstellen, ist nach wie vor im deutschen Bewusstsein nicht angemessen präsent.) 

Durchsetzen ließ sich der Plan ebenfalls bei der über 800 Tage dauernden systematischen Einschließung von Leningrad – das später wie Moskau und die anderen großen Städte „dem Erdboden gleichgemacht“ werden sollte –, die 900.000 bis eine Million Opfer forderte. Andere Städte wie Charkow glichen aufgrund der rigiden Requirierungen durch die Besatzer und der Abriegelung der Stadt zeitweise einem Hungerghetto. In der Ukraine und auf der Krim wurden ganze Regionen zu „Kahlfraßzonen“, in denen keinerlei Lebensmittel oder andere verwertbare Güter mehr vorhanden waren. 

Kurz: Das zynische Epitaph des „Völkischen Beobachters“ vom 4. Februar 1942 für die gefallenen deutschen Stalingradkämpfer „Sie starben, damit Deutschland lebe“ trifft zu hundert Prozent zu, wenn man es auf die Millionen Sowjetbürger bezieht, die zugunsten der Deutschen in Wehrmacht und ‚Reich‘ Hungers sterben mussten. 

(Der zweite Teil erscheint in den nächsten Tagen)

(Red.) Zum Thema Opfer des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion siehe insbesondere auch den Bericht von Iwan Nikolajew, geboren 1917, der als Soldat der Sowjetunion in deutsche Gefangenschaft geriet und später diese seine Erlebnisse zu Papier brachte, auf Globalbridge ins Deutsche übersetzt in Teil 1 und Teil 2. Sehr informativ und lesenswert! Und man schaue sich den Film «Komm und sieh» an, in dem gezeigt wird, wie die deutschen Truppen die Menschen – alte Leute, Frauen, Kinder – in Hunderten von Dörfern in Belarus auf bestialische Weise ermordet haben.

Globalbridge unterstützen