
Das Ende des russischen Gases für Europa — oder doch nicht?
(Red.) Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj – der eigentlich nicht mehr Präsident ist, weil er die fälligen Neuwahlen im letzten Frühling absagte – hat beschlossen und angeordnet, die Durchleitung von russischem Gas in die EU durch die Ukraine zu stoppen, um Russland durch die wegfallenden Zahlungen der Gasempfänger-Länder zusätzlich zu schädigen. Seither ist Gas auch geopolitisch wieder ein Thema – und der manövrierunfähig gewordene Tanker Evetin in der Ostsee, der zu einer russischen Schattenflotte gehören soll, die unter fremder Flagge operiert, bietet zusätzlichen Gesprächsstoff. Ist es aber sinnvoll, die Abhängigkeit der EU von russischem Gas durch eine erhöhte Abhängigkeit von US-Gas zu ersetzen? Stefano di Lorenzo meldet dazu ein paar Zahlen, wo und wie die internationale Wirtschaft mit Gas umgeht. (cm)
Am 1. Januar des neuen Jahres wurde der Transit von russischem Gas durch die Ukraine eingestellt. Es ist sicherlich überraschend, dass der Transit trotz des dreijährigen Krieges fortgesetzt worden war. Das Gas wurde nicht nur durch die Ukraine geleitet, sondern die Ukraine erhielt trotz des Krieges mit Russland weiterhin Zahlungen von Russland in Höhe von etwa einer Milliarde Dollar pro Jahr, was etwa zwei Prozent des ukrainischen Staatshaushalts vor dem Krieg entsprach.
Doch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj feierte die Einstellung des russischen Gastransits als Sieg: Das Ende des Gastransits durch die Ukraine nach Europa sei „eine der größten Niederlagen Moskaus“. Selenskyj forderte die USA außerdem auf, mehr Gas nach Europa zu liefern: „Je mehr Gas von Europas wahren Partnern auf dem Markt ist, desto schneller werden wir die letzten negativen Folgen der europäischen Energieabhängigkeit von Russland überwinden“, schrieb der ukrainische Präsident. Nicht nur für Selenskyj und die Ukraine ist die Unterbrechung der russischen Gaslieferungen nach Europa ein Grund zum Feiern.
Etwa die Hälfte des russischen Gases, das im Jahr 2024 nach Europa per Pipeline kam, wurde durch die Ukraine geleitet. Nach Angaben der EU dürfte sich die geplante Unterbrechung anders als 2022 nicht auf die Verbraucherpreise auswirken. Die Realität könnte jedoch anders aussehen.
Das fünfjährige Transitabkommen zwischen Russland und der Ukraine war Ende 2019 erneuert worden. Damals hätte man das als Zeichen für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern interpretieren können, ein Ende der Spannungen, die im Jahr 2014 nach der antirussischen Maidan-Revolution begonnen hatten. Der neue ukrainische Präsident Selenskyj, der einige Monate zuvor gewählt worden war, nachdem er versprochen hatte, alles zu tun, um den Krieg im Donbass zu beenden — ein Krieg, der in der Ukraine als „Krieg mit Russland“ und nicht als Bürgerkrieg gedeutet wurde —, schien entschlossen zu sein, halbwegs normale Beziehungen zu Russland wiederherzustellen.
Bis vor einigen Jahren waren die Ukrainer stets daran interessiert, den Gastransit durch ihr Land aufrechtzuerhalten, da sie davon überzeugt waren, dass dies für sie ein potenzielles Druckmittel gegenüber Moskau und eine Sicherheitsgarantie darstellte. Solange die Ukraine die russische Infrastruktur auf ihrem Territorium aufrechterhalte, würde Russland niemals beschließen, die Ukraine anzugreifen, so lautete die Argumentation. Leider hatten sich die Ukrainer verkalkuliert.
Da die Ukrainer an der Aufrechterhaltung des russischen Gastransits auf ihrem Territorium interessiert waren, sahen sie die Nord Stream-Pipeline als Bedrohung an und befürchteten, dass diese ihren Einfluss auf Russland und die Transitzahlungen verringern könnte. Die Frage nach der Sabotage der Nord Stream-Pipeline bleibt bis heute ein Rätsel, aber es ist kein Zufall, dass nach der Version, die jetzt als die wahrscheinlichste gilt, die Ukrainer die Verantwortung für den Angriff tragen sollen. Die Ukrainer sollen sogar allein gehandelt haben, so eine These, so unglaublich es sich anhören mag.
Manche sprechen heute vom Ende einer Ära. Europa kaufte seit 50 Jahren russisches Gas, schon zu den Zeiten des Ersten Kalten Krieges. Damals wurde das Abkommen zwischen der Sowjetunion und Europa über die Lieferung von Gas von den USA, die theoretisch die militärische Sicherheit Europas garantierten, geächtet. Schließlich wurde das Abkommen doch Realität. Die Menge des zunächst sowjetischen und dann russischen Gases, das nach Europa geliefert wurde, erreichte zwischen 35 und 40 % des europäischen Bedarfs. Einige Länder, wie etwa Deutschland und Italien, waren stärker vom russischen Gas abhängig als andere. Das russische Gas wurde nicht nur zum Heizen, sondern auch in der Industrie und bei der Stromerzeugung verwendet. Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine hat die EU ihre Abhängigkeit von russischer Energie verringert, indem sie mehr Gas aus Norwegen und Flüssiggas aus Katar und den USA kaufte — aber überraschenderweise weiterhin auch aus Russland.
Die USA, Europas größter „Partner“, haben die Nutzung russischen Gases durch Europa nie wohlwollend beurteilt. Die USA bezeichneten russisches Gas stets als eine geopolitische Waffe Moskaus. Russland sei immer bereit, die Abhängigkeit Europas von russischen Bodenschätzen auszunützen. Als die Nord Stream-Pipeline im September 2022 gesprengt wurde, sprach US-Außenminister Antony Blinken von einer „enormen Chance“. Auch Victoria Nuland, ehemalige Staatssekretärin für politische Angelegenheiten, äußerte sich in einer Anhörung im US-Senat zufrieden mit der Zerstörung von Nord Stream.
Heute beziehen nur noch Ungarn und die Slowakei weiterhin russisches Gas per Pipeline, über TurkStream, die türkische Pipeline, die unter dem Schwarzen Meer verläuft. Die Ukraine soll deshalb vor kurzem versucht haben, diese Pipeline im Süden Russlands anzugreifen. Österreich bezog bis letztes Jahr 98 % seines Gases aus Russland, hatte aber signalisiert, sich von russischem Gas lösen zu wollen.
Der Krieg in der Ukraine und die folgende Feindseligkeit zwischen Europa und Russland, die trotz der vermeintlichen Abhängigkeit Europas von Russland ausbrach, sollte jedoch deutlich zeigen, dass die „Abhängigkeit“ Europas von Russland keineswegs mit einem politischen Einfluss Russlands auf Europa einherging. Wenn russisches Gas eine Waffe war, dann war es eher ein zweischneidiges Schwert, das Europa nutzen konnte, um die russischen Haushaltseinnahmen zu verringern und Russland zu schwächen. Die westlichen Sanktionen richteten sich weitgehend gegen den Öl- und Gassektor, der traditionell 60 % der russischen Exporteinnahmen und etwa 40 % der Haushaltseinnahmen einbrachte. Welche Folgen haben die westlichen Sanktionen drei Jahre später für die russische Gasindustrie und den Staatshaushalt gehabt?
Die Umstrukturierung der russischen Lieferungen
Im Jahr 2023 verzeichnete Gazprom, das russische Unternehmen, das das Monopol für den Gasverkauf hält, zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahrzehnten einen Verlust in Höhe von 629 Milliarden Rubel (6,9 Milliarden US-Dollar). Als Ursache für diesen Verlust wurde zunächst der Rückgang des Gashandels mit Europa, dem einstigen Hauptabsatzmarkt des Unternehmens, genannt. Nach Berechnungen von Reuters sanken die Erdgaslieferungen von Gazprom nach Europa um 55,6 % auf 28,3 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2023.
Noch im Jahr 2022 hatte Gazprom einen Nettogewinn von rund 13 Milliarden Dollar erzielt. Ein Teil davon floss in Form von Steuern in den russischen Haushalt: 2022 hatte Gazprom 5 Billionen Rubel an Steuern gezahlt, bei einem Staatshaushalt von rund 30 Billionen Rubel, also rund 300 Milliarden US-Dollar.
Nach den kürzlich veröffentlichten Zahlen konnte jedoch Gazprom schon 2024 wieder Gewinne erzielen, wobei die Einnahmen die Prognosen übertroffen haben. „Die Einnahmen aus dem Gasverkauf belaufen sich auf 4,6 Billionen Rubel (45,8 Milliarden US-Dollar), das sind 155 Milliarden Rubel mehr als im ursprünglichen Finanzplan vorgesehen“, so der stellvertretende Vorstandsvorsitzende von Gazprom, Famil Sadygov.
Auch bei der Suche nach Kunden für seine Rohstoffe hat sich Russland, ebenso wie bei seiner geopolitischen Ausrichtung, vom Westen nach dem Osten gewandt. Nach Berechnungen von Bloomberg, die auf den Zolldaten des asiatischen Landes und den Preisschätzungen des russischen Wirtschaftsministeriums beruhen, hat Russland im Jahr 2024 zwischen Januar und November fast 28,5 Milliarden Kubikmeter Gas über die Power of Siberia-Pipeline nach China geliefert, was einer Steigerung von 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr entsprach. Zum ersten Mal überstiegen im Jahr 2024 die Lieferungen von Gazprom nach China die Lieferungen nach Europa. Einige Experten bezweifeln jedoch, dass die chinesische Nachfrage den Verlust des europäischen Marktes kompensieren wird.
Der russische Staatshaushalt für 2025 beläuft sich auf rund 40 Billionen Rubel, das sind etwa 400 Milliarden US-Dollar.
Die EU hat sich verpflichtet, bis 2027 keine russischen fossilen Brennstoffe mehr zu kaufen. Während russische Kohle und russisches Öl bereits boykottiert wurden, wurde eine ähnliche Maßnahme für Gas noch nicht ergriffen. Im Jahr 2024 stiegen die russischen Gasexporte nach Europa um mehr als 13 % gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2023. Der Anteil des russischen Pipelinegases an den EU-Einfuhren sank von über 40 % im Jahr 2021 auf rund 8 % im Jahr 2023. Bei Pipelinegas und LNG zusammen machte Russland 2024 rund 15 % der gesamten EU-Gasimporte aus. Die Daten deuten darauf hin, dass die LNG-Einfuhren aus Russland gestiegen sind, und zwar erheblich.
Russlands LNG-Gaslieferungen in die EU erreichten 2024 einen neuen Rekord. Im Gegensatz dazu gingen die LNG-Einfuhren aus der übrigen Welt in die EU um 20 Prozent zurück. Unternehmen scheinen russisches LNG zu bevorzugen, da es billiger ist als LNG aus den USA oder anderen Ländern. Der Anteil des russischen LNG an den Gesamteinfuhren stieg von 15 % im letzten Jahr auf 20 % im Jahr 2024.
Im vergangenen Juni beschloss die EU, die Umladung von russischem LNG in Drittländer ab März 2025 zu verbieten. Der jüngste Anstieg der russischen LNG-Importe könnte auf die Notwendigkeit zurückzuführen sein, vor dem Inkrafttreten der Sanktionen Gasvorräte anzulegen.
Die russische „Schattenflotte“
Inzwischen hat Russland Mechanismen gefunden, um die westlichen Sanktionen zu umgehen. Die Sanktionen richten sich nicht nur gegen Russland, sondern auch gegen andere Länder, wie zum Beispiel im Fall der von der EU festgelegte Preisobergrenze von 60 US-Dollar pro Barrel Öl. Deshalb setzt Russland heute häufig eine so genannte „Schattenflotte“ für den Transport von Öl und LNG-Gas ein. Erst vor wenigen Tagen driftete ein Öltanker, der vermutlich zur russischen Schattenflotte gehörte, mehrere Stunden lang nördlich der Insel Rügen ab und musste vom deutschen Schlepper Bremen Fighter in den Hafen gezogen werden.
Das Schiff trug eine Panama-Flagge und hätte Berichten zufolge 99.000 Tonnen Öl von Russland nach Ägypten liefern sollen. Nach Angaben von Greenpeace gehört das Schiff zur so genannten russischen Schattenflotte, die angeblich aus Hunderten von veralteten Öltankern bestehen soll. Die Praxis, dass viele Schiffe unter der Flagge eines Drittlandes fahren, ist auf den Weltmeeren ohnehin aus vielen Gründen sehr weit verbreitet. Heute tragen die meisten Schiffe, die in der Weltozeanen unterwegs sind, sogenannte „convenience flags“, zu Deutsch „Billigflaggen“, aus Ländern wie Panama, Liberia und den Marschall-Inseln. Was Russland macht, ist also nichts Neues oder Außergewöhnliches. So machen es doch alle. Das ist das ungeschriebene Gesetz des Meeres.
Dass Russland einen so wichtigen Kunden wie Europa verloren hat, konnte natürlich nicht ohne Auswirkungen auf die russische Wirtschaft bleiben. Entgegen den Hoffnungen der europäischen politischen Elite haben die europäischen Sanktionen jedoch nicht die vorhergesagten verheerenden Auswirkungen gehabt.
Angesichts des zunehmenden Zustroms westlicher Waffen in die Ukraine und der Radikalisierung der ukrainischen Politik schon vor dem Krieg sah sich Russland gezwungen, wirtschaftliche Verluste zu riskieren, um seine Sicherheitsinteressen zu verteidigen. Für einige ist Geld eben nicht das Wichtigste in der Welt.