„By the grace of God America won the Cold War!“ – Über das ‹Gewinnen› und ‹Verlieren› des Kalten Krieges
Vor 30 Jahren, am 28. Januar 1992, posaunte US-Präsident George H.W. Bush stolz vor dem Kongress, Amerika habe den Kalten Krieg gewonnen. In der Retrospektive erweist sich genau dieser Satz in seinem Triumphalismus als Startschuss für den neuen Kalten Krieg.
Die Menschen in Russland mögen für oder gegen Putin sein. Sie mögen alte Kommunisten oder neue Reiche, Sowjetnostalgiker, ‚Westler‘ oder Panslawisten sein. Facharbeiter, Professoren, Verkäuferinnen, Arbeitslose oder Rentnerinnen. Sie mögen in der Schwarzerde-Region, im Wolgadelta, Transbaikalien, Udmurtien, Jakutien oder in der Republik Komi leben. Mit einem Satz bringt man sie alle auf die Palme:
„Die Sowjetunion hat den Kalten Krieg verloren!“
In der Tat hat der forsche Hurra-Triumphalismus bestimmter westlicher Kreise erheblich dazu beigetragen, dass Russland und der Westen sich mittlerweile längst wieder in einem zweiten Kalten Krieg nebst äußerst gefährlichem neuen Wettrüsten befinden. Und es ist bezeichnend für das geistige und moralische Niveau der Menschen, denen dieser Satz so flott über die Lippen geht, dass sie offenbar nur in den Kategorien von Sieg und Niederlage zu denken vermögen! – Aber der Reihe nach.
Vorläufige Zurückhaltung
Als im Herbst 1989 die Mauer fiel und die friedlichen Revolutionen in Osteuropa die kommunistischen Diktaturen hinwegfegten, hielt sich die US-Administration unter George W. Bush noch diplomatisch zurück. Man war sich in Washington darüber im Klaren, dass jedes lauthalse westliche Hurra-Getöse dem weiteren Verlauf der Ereignisse nur geschadet hätte. Schließlich zeichneten sich bereits umwälzende Ereignisse wie eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands ab, die auf keinen Fall gefährdet werden sollten. So enthielt man sich zunächst aller demonstrativen Gesten, die auf die Menschen in der Sowjetunion demütigend hätten wirken können – während man bereits den ‚russischen Separatisten‘ und späteren Totengräber des Landes, Boris Jelzin, clandestin förderte! Am 21. November 1990 unterzeichnete auch George Bush senior zusammen mit 31 weiteren Staats- und Regierungschefs die „Charta von Paris“, die in ihrem zentralen und epochalen Satz: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden“ mit dem rivalisierenden Denken und Handeln, mit der potenziell weltvernichtenden Politik des Nullsummenspiels der Supermächte brach. Damit war der Kalte Krieg beendet.
Dachte die Welt zumindest.
Das Coming Out
Aber bereits einen Monat nach dem Zerfall der Sowjetunion konnte Bush – zufälligerweise in der Wahlkampfzeit – nicht mehr an sich halten und am 28. Januar 1992 brach es zu Beginn seiner jährlichen ‚State of the Union Adress‘ vor dem Kongress förmlich aus ihm heraus: Die Welt habe in den vergangenen zwölf Monaten Veränderungen von wahrhaft biblischen Ausmaßen erlebt. In diesem Jahr sei nichts weniger als der Kommunismus selbst gestorben. Und lange habe er, der Präsident, vor lauter Beschäftigung mit diesen Veränderungen und dem ganzen Fortschritt gar nicht die Möglichkeit gehabt, „to show the joy that was in my heart“ – die Freude in meinem Herzen zu zeigen. Aber, nun sollten alle die Ohren spitzen!, „the biggest thing“, das sich jemals in seinem und in dem Leben der Anderen ereignet habe, sei dies: „By the grace of God America won the Cold War!“ – mit der Gnade Gottes hat Amerika den Kalten Krieg gewonnen. (Nebenbei: Dass er für diese Geschichtslüge auch noch keinen Geringeren als Gott persönlich in die Pflicht nahm, verleiht dieser Bemerkung eine besonders peinliche Note.)
Kein Satz hat sich für das westlich-russische Verhältnis als so fatal erwiesen wie dieser! Dieser Satz enthält bereits im Keim die folgende amerikanische Politik des Unilateralismus, der „Einzigen Weltmacht“, der NATO-Osterweiterungen, der Politik der Regime-Changes, der völkerrechtswidrigen Angriffskriege, der Kündigungen fast sämtlicher Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge. Und er beweist, dass der Mann, der ihn aussprach und alle, die ihn später mit stolzgeschwellter Brust gedankenlos nachplapperten und seiner Logik gemäß handelten, offenbar mental zu beschränkt und moralisch zu verantwortungslos waren, das Entscheidende überhaupt zu erfassen.
Verspieltes Vertrauen
Ohne die revolutionäre Politik der damaligen Sowjetadministration, sprich: ohne die Politik des Neuen Denkens – damals wie heute seiner Zeit um Jahrzehnte voraus, weil es die Interessen der gesamten Menschenheit über das tödliche Rivalisieren der Supermächte stellt – wäre der Kalte Krieg niemals friedlich beendet worden! Michail Gorbatschow, der Architekt dieser revolutionären Wende im außen- wie auch im rüstungspolitischen Denken und Handeln, formuliert es so:
„Das Ende des Kalten Krieges war unser gemeinsamer Sieg. Er kam zustande durch Dialog und Verhandlungen über die kompliziertesten Probleme der Sicherheit und Abrüstung und indem man bilaterale Beziehungen aufnahm. Ohne all dies hätte der Kalte Krieg und das Wettrüsten noch einige Jahrzehnte andauern können. Und wer weiß, wozu dies hätte führen können!“
Aber dabei blieb es leider nicht. Gorbatschow weiter:
„Anstatt all dies anzuerkennen, erklärte der Westen sich zum Sieger. Das Ende des Kalten Krieges – das war für ihn erst vollzogen mit dem Ende der Sowjetunion. Amerikanische Staatsmänner nannten das eine Politik aus der Position der Stärke. Und schlossen daraus, es sei nun notwendig, die eigene militärische Macht weiter auszubauen, den eigenen Willen durchzusetzen, eine unipolare Welt zu schaffen, ein amerikanisches Imperium. Nun musste die Welt mitansehen, wie das Vertrauenskapital, das in den 1980er Jahren angesammelt worden war, verspielt wurde, wie statt einer neuen, sicheren Weltordnung das Gespenst eines neuen Chaos auftauchte, in dem das Recht des Stärkeren herrschte. Die Charta von Paris, die Ideen der kollektiven Sicherheit, die Schaffung eines Sicherheitsrates für Europa, die 1991 ernsthaft diskutiert wurden, gerieten dagegen in Vergessenheit.“
Vor den Trümmern dieser Entwicklung stehen wir nun heute.
Den Kalten Krieg haben die Kalten Krieger verloren
Stellen wir die Dinge ein für allemal richtig.
Der erste Kalte Krieg konnte beendet werden, weil die damalige Sowjetadministration um Michail Gorbatschow zuvor im Denken und Handeln nichts weniger als die Logik des Wettrüstens selbst besiegt hatte! Und genau dadurch konnte dem zunächst widerstrebenden Westen die restlose Verschrottung der gefährlichsten Waffen im Kurz- und Mittelstreckenbereich und eine weltweite atomare Abrüstung um 80 Prozent aufgezwungen werden.
Den Russen ist dies nach wie vor sehr präsent. Kleiner Tip: Fahren Sie doch einfach mal nach Russland und fragen Sie den ersten besten Russen, der Ihnen über den Weg läuft. Er wird Ihnen sagen: „Wir haben den Kalten Krieg beendet!“
Mit einem Wort: Den Kalten Krieg verloren haben die Kalten Krieger. Und gewonnen hat ihn die restliche Menschheit! Sorgen wir dafür, dass das so bleibt.