Brief aus Moskau – so denkt man in Moskau zu Prigoschins Tod
(Red.) Nach dem Absturz des Privatjets von Jewgeni Prigoschin, bei dem er selber ums Leben kam, war klar, was die westlichen Kommentatoren schreiben werden: Der Mörder ist Putin. Und so war es denn auch. Interessanter ist deshalb, wie man in Russland darauf reagiert. In Moskaus Öffentlichkeit gibt es immerhin auch noch andere Varianten. Stefano di Lorenzo hat uns dazu einen Bericht geschickt. (cm)
Moskau, den 25. August. Am Donnerstagabend, 24 Stunden nach dem Absturz des Privatjets mit dem Gruppe-Wagner-Gründer und -Führer Jewgeni Prigoschin und Dmitri Utkin, seinem Vize, sprach der russische Präsident Wladimir Putin über Prigoschins Tod. „Ich kannte Prigoschin schon lange, seit Anfang der 90er Jahre. Er war ein Mann mit einem schwierigen Schicksal“, sagte Putin. Putin fügte hinzu, dass Prigoschin im Leben schwere Fehler gemacht habe, aber er habe auch viel erreicht. Er habe Ergebnisse „sowohl für sich selbst als auch, wenn ich ihn danach gefragt habe, für die gemeinsame Sache“ erreicht, so der russische Präsident. Putin erinnerte auch an die anderen Mitarbeiter der Privatmiliz Wagner, die „einen wesentlichen Beitrag zum Kampf gegen das Regime in der Ukraine geleistet haben“. „Wir erinnern uns daran, wir wissen es und wir werden es nicht vergessen“, sagte Putin.
Und tatsächlich wird Jewgeni Prigoschin in Russland mit aller Wahrscheinlichkeit als eine Art edlen Verbrechers in Erinnerung bleiben, eine romantische Figur, die in einer Zeit des Wandels Höhen und Tiefen erlebte. In Moskau, St. Petersburg und anderen russischen Städten sind zum Gedenken an Prigoschin und andere Wagner-Mitglieder Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet worden.
Prigoschin war zwar eine sehr umstrittene Figur, wie der russische Präsident bemerkte. Aber er war stets im Zentrum der großen politischen Ereignisse der letzten paar Jahre. Vor wenigen Monaten errang Russland, vor allem dank Prigoschins Wagner-Miliz, einen Sieg in Bachmut im Donbass, nach einem langen und sehr ermüdenden Kampf.
Prigoschin oder „Putins Koch“, wie er bis vor kurzem ständig genannt wurde, wurde vor ein paar Jahren im Westen vor allem als Gründer der Internet-Research-Agency in Sankt Petersburg bekannt. Hierbei handelt es sich um die berüchtigte „Trollfabrik“, der seit 2016 vorgeworfen wurde, das Internet mit russischen Trollen überschwemmt zu haben. Nur dadurch konnte Trump die Wahlen gewinnen, sagten Hillary Clinton und die Demokraten. Der „Russiagate“-Skandal endete ohne die erwarteten Resultate: Sonderermittler Robert Mueller fand keine Beweise für eine Verschwörung zwischen Trump und Russland.
Mit dem Krieg in der Ukraine veränderte sich das Image von Putins „Koch“ – so genannt, weil er in St. Petersburg einmal Putin persönlich bedient hatte und weil er in der Gastronomie sein Vermögen gemacht hatte – in das eines Söldners.
Cui bono? Wem nützt es?
Heute ist die Frage, die die ganze Welt beschäftigt, natürlich: Wer hat Prigoschin umgebracht? Im Westen wird reflexartig Putin dafür verantwortlich gemacht. Praktisch alle westlichen Medien sprechen von Putins Rache wegen des versuchten Aufstandes von vor zwei Monaten. Doch über die Ursache des Absturzes des Flugzeugs mit Prigoschin ist bislang nichts Konkretes bekannt. Schon gestern Abend aber wurde geschrieben: US-Geheimdienste halten es für wahrscheinlich, dass die Explosion, die die Katastrophe auslöste, im Flugzeug selbst stattfand. Es handle sich nicht um eine Boden-Luft-Rakete, wie man in den ersten Stunden vermutet hatte.
Alle Mainstream-Medien im Westen schreiben über Putins Rache. Umso richtiger ist es in dem Fall, auch anderen Versionen Gehör zu verschaffen. In Russland werden, aus verständlichen Gründen, auch andere Szenarien in Betracht gezogen.
Im Radio Komsomolskaja Prawda war gestern von drei Versionen die Rede: Die erste: eine polnische Operation – tatsächlich herrschte in Polen wochenlang Angst vor einem Einfall von Wagner-Söldnern. Söldner, die nach dem gescheiterten Putsch Ende Juni in Belarus Zuflucht genommen hatten. An Polen viel zu nah. Die zweite Version führt zu Frankreich und Afrika: Nach dem jüngsten Staatsstreich in Niger soll Frankreich beschlossen haben, die Gruppe Wagner zu enthaupten. Die Gruppe Wagner wurde beschuldigt, die Putschisten in Niger unterstützt zu haben. Man kann über diese zwei Hypothesen denken, was man will.
Die dritte Spur führt stattdessen in die Ukraine. Auch der Politikwissenschaftler Sergej Markow, häufiger Gast in mehreren russischen Talkshows, aber bekannt für seine Eigenständigkeit, besteht auf der ukrainischen Version. Offensichtlich würde man im Westen die ukrainische Spur lieber von vornherein ausschließen. Es sei ja alles nur Kreml-Propaganda, alles KGB-Quatsch.
Aber ist die ukrainische Spur wirklich so absurd?
Die Ukraine hatte sicherlich ein ernstes Motiv, Prigoschin eliminieren zu wollen. Der Wagner-Gründer wurde schon vor mehreren Jahren in die Mirotvorets-Datenbank eingetragen. Mirotvorets (auf Ukrainisch „Friedensstifter“) ist eine berüchtigte öffentliche Liste der Feinde der Ukraine, die bereits 2014, nach der Revolution, erstellt wurde. Auf der Seite werden persönliche Informationen der „Feinde der Ukraine“ veröffentlicht, oft inklusive Wohnadresse. In dieser Liste sind viele Namen enthalten, praktisch alle Personen mit einiger öffentlicher Bekantheit, die in den Augen der ukrainischen Revolutionsregierung schuldig waren, die nationalen Interessen der Ukraine, wenn oft auch nur mit Worten, verletzt zu haben.
Im Laufe der Jahre wurden einige dieser Menschen physisch beseitigt. Auch auf russischem Territorium. Ein Beispiel dafür ist Daria Dugina, Tochter des russischen Philosophen Alexandr Dugin, die vor etwas mehr als einem Jahr durch eine Autobombe getötet wurde. Ein Attentat, hinter dem sogar die USA bereits im vergangenen Jahr die Hand der Ukraine sahen. Aber natürlich will man über solche Fälle heute nicht so gerne reden.
Die Ukraine befindet sich, in der eigenen Selbstdarstellung, seit fast einem Jahrzehnt im Krieg mit Russland. Seit 2014 hat der Krieg mit Russland die Politik und den ganzen öffentlichen Diskurs bestimmt. Und im Krieg verhält man sich wie im Krieg, wie es in einem alten russischen geflügelten Wort heißt – einer Formulierung, die man in der Ukraine sicherlich auch kennt. Deshalb darf man nicht davor zurückschrecken, die Feinde des Volkes auch physisch zu vernichten. Humanismus sei ein Luxus, den man sich im Krieg nicht leisten könne, Grillen „reicher“ und entspannter Menschen wie die Europäer, meinen viele Ukrainer
Bis zur russischen Invasion im Februar 2022 wurde die berüchtigte Seite Mirotvorets, die von den Geheimdiensten der Ukraine betrieben wird, im Westen eher mit einiger Verachtung betrachtet und kaum toleriert. So als wäre sie das Symptom einer politischen Kultur, die sich grundlegend von der westlichen unterscheidet, da man im Westen theoretisch liberal und offen für eine Vielzahl von Meinungen ist. Heute ist die Unterstützung der Ukraine durch den Westen jedoch bedingungslos.
Auf der Mirotvorets-Homepage ist in der oberen rechten Ecke deutlich die Inschrift Langley, VA, USA zu sehen. Unterhalb von Warszawa, Polen. Langley ist eine kleine Gemeinde im US-Bundesstaat Virginia, etwas außerhalb von Washington, DC. Und sie ist vor allem deshalb weltberühmt, weil sich dort das Hauptquartier der CIA befindet. Auf der Homepage von Mirotvorets steht auch: „Login for Special Services, Для спецслужб України, For Foreign Special Services“. Also Login für Geheimdienste, einmal für die Geheimdienste der Ukraine, einmal für die ausländischen Geheimdienste. Es ist bemerkenswert, dass ausländische Geheimdienste Zugriff auf eine solche Website haben.
Dabei geht es nicht darum, Verschwörungstheorien zu betreiben, um von den wahren Tätern des Mordes von Prigoschin abzulenken. Eine ernsthafte Untersuchung muss jedoch mehrere Szenarien berücksichtigen. Natürlich ist es in solchen Fällen schwierig, die Geopolitik außer Acht zu lassen. Der Westen befindet sich heute im Krieg mit Russland und Russland mit dem Westen. Wenn wir das Feigenblatt entfernen, ist es schwer zu leugnen, dass es sich zumindest um einen Stellvertreterkrieg handelt. In einem solchen Kontext ist es für die Wahrheit schwierig, sich auf ihre natürliche Weise zu offenbaren. Die Wahrheit kommt ja leider nicht immer ans Licht, vor allem nicht sofort.
Für ehrliche und kultivierte Menschen muss die Schuld eines Angeklagten immer vor einem Gericht nachgewiesen werden. „In dubio pro reo“, heisst es ja, im Zweifelsfall entscheidet das Gericht zugunsten des Angeklagten. Es ist nicht nachvollziehbar, warum ausgerechnet Staaten und ausländische Politiker eine Ausnahme von einem der Grundprinzipien des Rechtsstaates, der Unschuldsvermutung, darstellen sollten. Journalistische „Prozesse“ basieren eben allzu oft auf Indizienbeweisen und Anspielungen. Sie würden vor einem Gericht selten Bestand halten.
Doch zum Abschluss: Als Putin gestern von Prigoschin sprach, erwähnte er den versuchten Wagner-Putsch von vor zwei Monaten nicht. Man könne das als eine Art Rehabilitation von Prigoschin betrachten, schrieb die Zeitung „Komsomolskaja Prawda“.
Zum Autor: Stefano di Lorenzo ist 1982 in Milano geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist dann nach Deutschland umgezogen, wo er in Berlin zusätzlich Amerikanistik mit Schwerpunkt Wirtschaft und Politik studiert hat. Heute lebt er in Moskau und erlebt vor Ort, wie der kollektive Westen mit allen Mitteln versucht, Russland schlecht zu reden.
Siehe dazu auch: «Das Attentat auf Prigozhin» auf der Plattform «Stimme aus Russland»