Die «Leninstraße» in Tarussa sollte umbenannt werden, in «Straße der Kathedrale», nach der großen Weissen Kirche an ihrem Ende.

Brief aus Moskau – die Russen und ihre Geschichte

(Red.) In Russland hat die Geschichte des eigenen Landes eine viel grössere Bedeutung als in den meisten westlichen europäischen Ländern, wo beispielsweise die eigene Beteiligung im Zweiten Weltkrieg an der Seite Hitler-Deutschlands gerne vergessen gemacht wird. Die 27 Millionen militärischen und zivilen sowjetischen Kriegsopfer des Zweiten Weltkrieges sind in Russland nicht einfach vergessen. Viele Russen haben nur einen, manche sogar keinen Opa, weil einer oder beide damals aus dem Großen Vaterländischen Krieg nicht nach Hause zurückgekehrt sind. Und es sind nicht die Kreml-treuen Behörden, die aus politischen Gründen die Geschichte lebendig erhalten wollen, es ist die Bevölkerung. Stefano di Lorenzo berichtet zu diesem Thema aus Moskau. (cm)

In dieser kleinen russischen Stadt mit knapp 10.000 Einwohnern etwa 100 km südlich von Moskau passiert in der Regel nicht viel. Bis im Oktober 2020. Damals entschied der Gemeinderat in Tarussa, in der Oblast von Kaluga, dass es an der Zeit sei, die sowjetische Vergangenheit zu beseitigen. Die Bezeichnungen von 16 Straßen und Plätzen in der Stadt wollte man von kommunistischen Namen befreien, „entkommunisieren“. Der Leninplatz, die Rosa-Luxemburg- und Karl-Marx-Straßen sollten in die vorrevolutionären Bezeichnungen umbenannt werden. Plötzlich sprach ganz Russland über Tarussa. Ein Video dazu erreichte 900.000 Aufrufe!

Doch der örtliche Gemeinderat hatte nicht mit den Bürgern von Tarussa gerechnet. Die Entscheidung der Stadtduma löste Proteste in der Bevölkerung aus, die sich nicht von den ihnen gewohnten und geliebten Ortsnamen trennen wollte. Darüber berichtete damals sogar das Schweizer Radio, das dieser Geschichte in der Sendung «Echo der Zeit» einen Beitrag widmete. Aufgrund der Proteste wurde die Entscheidung zur Umbenennung von Straßen und Plätzen zunächst um zwei Jahre verschoben. Im März 2022 wurde sie dann endgültig annulliert. Und so gibt es in Tarussa auch heute noch, so wie in praktisch allen russischen Städten, Plätze und Straßen, die Lenin und Marx gewidmet sind. Einige Orts- und Straßennamen wurden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwar tatsächlich „entkommunisiert“, Leningrad zum Beispiel wurde zu St. Petersburg, aber viele andere eben nicht.

Die Ereignisse von Tarussa mögen zwar in einer kleinen Provinzstadt stattgefunden haben, sind aber sinnbildlich für die Beziehung der heutigen Russen zu ihrer Geschichte. Natürlich sind sich die Russen bewusst, dass es in der Geschichte Russlands auch viele tragische und dunkle Seiten gibt. Zum Thema „dunkle Seiten der eigenen Geschichte“ weiß man ja auch in Deutschland einiges. Aber im Gegensatz zu Deutschland wollen die Russen die dunklen und peinlichen Seiten ihrer Geschichte nicht nur sehen, um sie zu vergessen, um ein tödliches Trauma ins Unbewusste zu verdrängen. Für die Russen bleibt die Geschichte ein wichtiger Teil ihrer Identität,  einschließlich der Geschichte der 70 Jahre des sowjetischen Experiments. Eine Geschichte voller Höhen und Tiefen, mit Momenten des Elends und des Schreckens, aber auch Momenten des Ruhms, des Heldentums und der Größe. Momente, die viele Russen eben nicht verdrängen wollen und deren Spuren im Alltag russischer Städte erhalten geblieben sind, nicht nur in Ortsnamen und in Form von Denkmälern, sondern auch in der majestätischen Architektur der Sowjetzeit, bei vielen Feiertagen, im Kino, in der Kultur, in der Literatur. Und das ist nicht nur senile Nostalgie!

Für die europäischen Bürger, die während des Kalten Krieges und des militanten Antikommunismus daran gewöhnt und dazu erzogen wurden, die sowjetische Ära als eine ununterbrochene Saga von Schrecken und Grausamkeiten zu betrachten, ist es in der Tat überraschend, dass die Russen versuchen, etwas Positives in ihrer Vergangenheit zu sehen. Die Europäer scheinen in allem Ernst zu erwarten, dass die Russen die gleiche vernichtende Kritik an den Jahren der Sowjetunion üben, wie wir im Westen es gewohnt sind: eine selbstzerstörerische Kritik, die auch die Russen mit Genuss üben sollten. Im Westen möchte man die russische Geschichte endgültig dekonstruieren. Und wenn die Russen das nicht tun, liegt das in den Augen des Westens nur daran, dass die Russen einer kollektiven Gehirnwäsche unterzogen wurden. Doch ist es wirklich so absurd, dass die meisten Russen in einer solchen negativen Einstellung zur eigenen Geschichte nichts Gutes sehen?

Es ist eine Tatsache, die viele Europäer und Amerikaner verblüffen wird, aber manchmal sind Überraschungen aufschlussreich. Für die Russen und andere Sowjetbürger war das Leben während der Sowjetzeit, nach dem Zweiten Weltkrieg und mit dem Ende der Stalin-Ära, unter Chruschtschow und Breschnew, im Grunde ganz normal, ohne größere Repressionen, ohne größeres Leiden. Ohne jene allgegenwärtigen Schrecken, die wir im Westen als integralen Bestandteil des sowjetischen Alltagslebens betrachten. Es war damals ein vorhersehbares und planbares Leben, wenn auch ein bescheidenes. Aber damals herrschte der gesunde Optimismus einer Nation, die nach dem Sieg über den Nationalsozialismus und dank des industriellen und wissenschaftlichen Fortschritts an eine bessere eigene Zukunft glaubte.

Für die Russen waren die Jahre des Sowjetkommunismus, insbesondere nach 1945, nicht Jahre nur der Unterdrückung und Armut, sondern auch Jahre der freien Schul- und Universitätsbildung, der Emanzipation der Frauen, der Industrialisierung, des enormen technischen Fortschrittes. Es war eine Gesellschaft, die theoretisch ohne Klassen und ohne große wirtschaftliche Unterschiede war, eine Gesellschaft, in der es Chancen für jeden gab, unabhängig von seinem Hintergrund. Wenn man im Westen über den sowjetischen Kommunismus spricht, ist viel von Nomenklatura die Rede, aber viele der wichtigsten Persönlichkeiten dieser Jahre waren tatsächlich Selfmade-Menschen. Kinder von Arbeitern und Bauern. Männer, die „aus dem Nichts kamen“, wie wir im Westen mit schlecht verhohlenem Snobismus sagen würden, die aber dank des sozialistischen Staates und der kostenlosen Hochschulbildung jener Jahre die Möglichkeit hatten, etwas Wichtiges und Bedeutendes aus ihrem Leben zu machen.

Seit 1992 haben viele Länder der ehemaligen Sowjetunion ihre Daseinsberechtigung in der Entkommunisierung gefunden. Das letzte unter diesen Ländern war die Ukraine, wo die Lenin-Statuen bis 2014 niemanden störten und Teil des lokalen Kulturerbes waren. Die Maidan-Revolution hat dann alles verändert. Mit der Entkommunisierung der Ortsnamen in verschiedenen ukrainischen Städten wurde in der Ukraine auch der Diskurs des Antikolonialismus eingeführt. Ein Narrativ, das dem modischen westlichen Diskurs entlehnt und der ukrainischen Geschichte so gut wie möglich angepasst wurde. Aber selbst in der Ukraine machte die wütende Welle der Entkommunisierung nicht alle glücklich, insbesondere unter der Generation, die sich noch gut an die Sowjetunion erinnerte, weil sie dort gelebt hatte.

Eine radikale Entkommunisierung habe in Russland nicht stattgefunden. In Russland werde eine synkretistische Auffassung der eigenen Geschichte propagiert, bei der versucht werde, das Beste aus jeder Epoche herauszuholen und zusammenzubauen. Manchmal etwas allzu wählerisch und willkürlich, meinen Kritiker. 

Die Russen stehen zu ihrer Geschichte

Im Westen ist viel von dem „seltsamen“ Verhältnis der Russen zu ihrer eigenen Geschichte die Rede. Im Westen scheinen die Leute wirklich überrascht zu sein, dass die Russen nicht ihre gesamte Geschichte verleumden und vergessen wollen. Überrascht, dass die Russen kein Interesse haben, von Stunde Null der Geschichte wieder anzufangen, ein bisschen wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch ist das wirklich so ein seltsames Phänomen?

Die Französische Revolution schnitt nicht nur einem König (und seiner Frau) den Kopf ab, sondern war von Hunderttausenden Todesfällen begleitet. Doch auch heute noch, mehr als 230 Jahre später, wird jedes Jahr der Sturm der Bastille in Frankreich als glorreiches Ereignis gefeiert. Napoleon wird noch immer von vielen Franzosen als der größte Nationalheld der Geschichte gesehen. In der Ukraine sind soziopathische und völkermöderische Nationalisten, die mit der SS zusammengearbeitet haben – Stepan Bandera und der noch schrecklichere Roman Schuchewitsch – sogar zu Nationalhelden geworden. Niemand scheint sich viele Sorgen darüber zu machen.

Darum ist die Geschichte in Russland sowie in ganz Osteuropa weiterhin ein Thema heftiger Diskussionen und intensiver Debatten. Sogar der russische Präsident schreibt Geschichtsartikel. Und die Überlegungen zur Geschichte, die das öffentliche Gespräch in Russland prägen, sind nicht nur abstrakte Betrachtungen, schläfrige Vorträge über mittelalterliche Geschichte, die Spezialisten vorbehalten sind. Denn in der Geschichte liegt die Grundlage der russischen Identität und der Staatlichkeit des heutigen russischen Staates. Es ist ein echter Kulturkampf, der Leben und Tod bestimmen kann, Krieg und Frieden.

Nehmen wir zum Beispiel die alte Rus, die heute zum Zankapfel zwischen der Ukraine und Russland geworden ist. In der heutigen Ukraine ist man – auch dank einer polnischen historiographischen Tradition – davon fest überzeugt, dass die alte Rus zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert nichts anderes als eine Art Proto-Ukraine sei. Die heutigen Russen, oder besser gesagt Moskauer, seien Usurpatoren aus der asiatischen Ferne, eigentlich Mongolen. Offensichtlich handelt es sich hierbei um historiographische Absurditäten, die im Widerspruch zu einer jahrhundertelangen etablierten historiographischen Tradition stehen. Doch es gibt nicht wenige im Westen, die begonnen haben, ähnliche mythologische Vorstellungen nachzuahmen.

Oft wird vom heutigen Russland als einem revisionistischen totalitären Staat gesprochen, in dem mit allen Mitteln versucht werde, Stalin zu rehabilitieren. Ein Land, in dem Geschichtsbücher nach Belieben umgeschrieben würden, weil der „Zar“ es so wolle. Doch die Aufstellung einer Stalinbüste in der Provinzstadt Wolgograd, ehemals Stalingrad, kann nur von den fantasiereichsten Geistern als symptomatisch für die Entstehung eines neuen landesweiten massenhaften Stalin-Kults interpretiert werden. Und öffentliche Schulbildung gehört in den meisten Ländern der Welt zu den Aufgaben eines Staates. Ist es da wirklich so verwunderlich, wenn ein in öffentlichen Schulen verwendetes Geschichtsbuch versucht, das Fundament der nationalen Einheit zu stärken und es nicht durch gnadenlose Kritik zu zerstören und zu diskreditieren? Oder erwartet man im Westen ernsthaft, dass die russischen Lehrbücher die Kinder lehren sollten, ihr eigenes Land zu fürchten und verachten?

Die Geschichte, wie sie Jugendlichen beigebracht wird, ist notwendigerweise eine vereinfachte Version der wirklichen Geschichte. Eine offizielle Geschichte, die dazu dient, der etablierten Ordnung Legitimität zu verleihen. Und das nicht nur in Russland. Nehmen wir doch ein Beispiel aus einem anderen Land: In Italien wird Garibaldis «Expedition der Tausend» immer als glorreiche Mission bezeichnet, als einer der heiligsten Momente in der italienischen Geschichte, Garibaldi als Helden mit einem reinen Herzen. Doch für viele in Süditalien war der Feldzug der Tausend ein Angriffs- und Kolonisierungskrieg seitens des Königreichs Sardinien. Nach meiner Kenntnis – ich bin in Italien geboren – ist eine solche Sicht dieses historischen Ereignisses in den vom italienischen Bildungsministerium genehmigten Geschichtslehrbüchern nicht zu finden.


Zum Autor: Stefano di Lorenzo ist 1982 in Milano geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist dann nach Deutschland umgezogen, wo er in Berlin zusätzlich Amerikanistik mit Schwerpunkt Wirtschaft und Politik studiert hat. Heute lebt er in Moskau und erlebt vor Ort, wie der kollektive Westen mit allen Mitteln versucht, Russland schlecht zu reden.

In diesem Zusammenhang sei auch ein – deutschsprachiges – Video von Nikolaj Platoschkin, einem russischen Politiker aus der Opposition, zur Abhörung empfohlen. Auch er verweist auf etliche Punkte, wie die russische Geschichte im Westen „modifiziert“ wird. Er ist es, der darauf aufmerksam macht, dass es in vielen russischen Familien immer noch keinen Opa, sondern nur eine Oma gibt, weil der Opa im Großen Vaterländischen Krieg eben zu Tode gekommen ist. Hier anklicken.