Brief aus Moskau – Das Leben geht weiter
(Red.) Welche Auswirkungen haben die Sanktionen der westlichen Länder auf das Leben in Russland? Sind sie wirklich geeignet, Russland in die Knie zu zwingen? Haben sie das Leben in Moskau signifikant verändert? Wünschen sich die Russen, nachdem zum Beispiel McDonald’s und Starbuck ihre Bars zwar nicht geschlossen, aber verkauft haben, die originalen westlichen Geschäfte zurück? Unser Gewährsmann in Moskau hat sich umgeschaut. (cm)
In der Twerskaja-Straße, einer der symbolträchtigen Straßen Moskaus, die vom Majakowski-Denkmal am Gartenring zum Maneschnaja-Platz führt, mit Blick auf den Roten Platz und den Kreml, befindet sich eine große Buchhandlung, eine der größten und sichtbarsten in Moskau. Der Laden heißt, das muss man sagen, ohne große Fantasie, «Москва», Moskva, russisch für Moskau, mit einem kleinen Herzen statt dem O im Logo. Von hier bis zum Kreml sind es 900 Meter, zehn Minuten zu Fuß. In dieser Buchhandlung werden auch Zeitschriften und einige Zeitungen verkauft, jene Art von Zeitschriften und Zeitungen, die Menschen, die Bücher lesen, eben kaufen möchten, wie zum Beispiel Literaturnaja Gazeta, die Monatszeitschrift Dilettant und… Nowaja Gazeta.
Nowaja Gazeta ist in der Regel jenen Leuten in Europa oder sogar in Amerika bekannt, die sich für russische Angelegenheiten interessieren. Wie der Fernsehsender Dozhd („Regen“) wird Nowaja Gazeta im Westen oft als eine der letzten Bastionen der freien Presse in Russland gefeiert. Der Direktor der Nowaja Gazeta, Dmitri Muratow, wurde 2021 sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Die berühmte russische Journalistin Anna Politkowskaja, die 2006 an Putins Geburtstag getötet wurde — als ob es keine schlimmeren Tage gäbe, um Verdachte zu erregen? — arbeitete für Novaja Gazeta.
Bis März letzten Jahres konnte Nowaja Gazeta an allen Zeitungskiosken in Russland gekauft werden. Heute steht sie praktisch allein hier, im Zentrum von Moskau, nur wenige hundert Meter vom Kreml entfernt, zum Verkauf. In den Tagen nach der russischen Invasion im Februar letzten Jahres veröffentlichte Novaja Gazeta eine Ausgabe mit vielen ins Ukrainische übersetzten Texten. Eine symbolische Geste, wenn man bedenkt, dass die überwiegende Mehrheit der Ukrainer die Texte ohnehin auf Russisch hätte lesen können. Die Lizenz wurde Nowaja Gazeta letztes Jahr entzogen, viele Journalisten verließen das Land. Die Webseite ist in Russland gesperrt und kann nur mit einem VPN aufgerufen werden. Dennoch ist die gedruckte Zeitung immer noch zu finden, mitten im Zentrum, in einer der belebtesten Straßen der Hauptstadt. Es ist eines der großen Geheimnisse Russlands. Die Zensur hier arbeitet natürlich hart, aber offensichtlich ist sie etwas abgelenkt und macht ihren Job ziemlich lässig.
Nowaja Gazeta ist nicht die einzige russische Publikation, deren Website in Russland nicht abrufbar ist. Zu den bekanntesten zählen Meduza (deren Redaktion seit der Gründung sowieso in Lettland ansässig war), The Insider, The Bell und andere, etwas weniger bekannte. Auch die Seiten einiger westlicher Medien sind blockiert. Kurioserweise ist die Vorgehensweise bei den westlichen Medien selektiv, fast zufällig, und nur ein kleiner Teil davon ist sowieso blockiert. Der englische The Telegraph, die BBC, Radio Svoboda, die Deutsche Welle, die Welt, die Bild Zeitung und euronews sind unzugänglich. Kurz gesagt, all diejenigen, die fast jeden zweiten Tag in Russland eine Revolution anzetteln möchten und die vor ein paar Wochen, während der Revolte der Wagner-Gruppe, die allerdings nach ein paar Stunden schon gescheitert und erledigt war, im siebten Himmel waren. Die Russland gegenüber nicht minder aggressiven The Guardian, CNN, Die Zeit, Der Spiegel, ARD, ZDF, sowie beispielsweise Schweizer Medien wie die NZZ und SRF sind nicht gesperrt. Gedruckte europäische und ausländische Zeitungen gibt es in Moskau nicht, aber das war auch vor dem Krieg schon der Fall. Der Import gedruckter Zeitungen war teuer und nicht immer rentabel. Westliche Medien, auch solche, deren Seiten gesperrt sind, sind jedoch über YouTube zugänglich, wo alle Kanäle verfügbar sind. Darunter auch jene von traditionell und aggressiv antirussischen Medien wie Radio Svoboda oder sogar ukrainische Fernsehsender. Über Telegram, das vor allem von den Jüngsten, die — wie auch im Westen — kein Fernsehen sehen, zunehmend als Informationsmittel genutzt wird, ist es möglich, auf alle Informationsmittel zuzugreifen — auch auf ukrainische Kanäle und die der russischen Opposition.
In der Buchhandlung Moskva gibt es auch fremdsprachige Bücher. Sogar eine umfangreiche Biografie von Stalin, die vom britischen Verlag Pan MacMillian veröffentlicht wurde. Der Autor ist Robert Service, ein berühmter britischer Russlandhistoriker, der in Oxford lehrt und arbeitet. Man kann die Biographie von Professor Service, die 2004 erstmals veröffentlicht wurde, sicherlich nicht als hagiographisch bezeichnen: Stalin wird als paranoider und grausamer Diktator dargestellt. Unter den anderen Büchern gibt es auch „Verlorenes Königreich: Eine Geschichte von Russlands Nationalismus von Iwan dem Schrecklichen bis hin zu Wladimir Putin“, dessen Autor Serhii Plokhy ist, der „offizielle“ Historiker der heutigen Ukraine, der in Harvard arbeitet. Dass die Geschichte von Russland im Titel dieses Buches mit Iwan dem Schrecklichen anfängt, ist nicht zufällig.
Viel mehr Bücher in Fremdsprachen findet man nach Belieben bei Bookbridge, einem zweistöckigen Buchladen, der sich nur auf ausländische Literatur spezialisiert hat, mit Tausenden von Titeln, hauptsächlich in Englisch, aber auch in Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch und anderen Sprachen. Man muss sagen, die Bücher sind hier etwas teuer, vor allem diejenigen, die nicht auf Englisch sind. Auf Wunsch können aber auch Neuheiten bestellt werden. Es ist nicht die einzige ausländische Buchhandlung in Moskau, aber mit Sicherheit die mit Abstand am besten sortierte.
«Lecker – und Punkt» Mehr muss nicht gesagt werden.
Ein paar hundert Meter von der Buchhandlung Moskwa entfernt, in entgegengesetzter Richtung vom Kreml hinweg, liegt der Puschkinskaja-Platz. Auf der einen Seite wird der Blick hier von einer hohen Puschkin-Statue, dem großen Musical-Theater und einem sowjetischen Gebäude mit der Redaktion der Zeitung Iswestija dominiert. Auf der anderen Seite des Platzes finden wir einen der Orte, die in der Übergangsphase zwischen Kommunismus und Kapitalismus die moderne Geschichte Russlands geprägt haben. Hier wurde im Januar 1990 das erste McDonald’s in Russland eröffnet. Wie andere westliche Ketten verließ McDonald’s Russland aber nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine.
Nur, für die Kunden scheint es keine großen Unterschiede zu geben. Die rund 800 McDonald’s-Restaurants, die es auf russischem Territorium gab, wurden durch das russische Pendant „Vkusno – i tochka“, „Вкусно – и точка“ („Lecker – und Punkt“) ersetzt. Die Speisekarte scheint in allen Belangen mit der von McDonald’s identisch zu sein. Obwohl einige bemerkt haben, dass es keine Muffins mehr gibt, die McDonald’s zum Frühstück serviert hatte. Ansonsten schmeckt ein Doppel-Cheeseburger bei «Vkusno – i tochka» genauso wie damals ein Cheeseburger bei McDonald’s. Aber bei «Vkusno – i tochka» gibt es anscheinend keine Coca Cola mehr. Apropos Coca Cola: Sie wird weiterhin in Supermärkten verkauft, obwohl man immer häufiger eine Version irgendeiner belarussischen Cola sieht. Aus irgendeinem Grund tragen Coca-Cola-Flaschen in vielen Geschäften aber polnische Etiketten. Heute ist „Vkusno – i tochka“ auf dem Puschkinskaja-Platz, wie zu McDonald’s-Zeiten, fast jeden Tag voller Menschen, vor allem Teenager, genau wie zu McDonald’s-Zeiten und wie in den meisten europäischen Ländern.
Auch Starbucks hat Russland verlassen und wurde durch eine lokale Marke, Stars Coffee, ersetzt. Nicht wirklich der phantasiereichste Name der Welt. «Vkusno – i tochka» war definitiv kreativer, obwohl vielen der Name nicht gefallen hat. Allerdings ist der Kaffee hier bei Stars Coffee, wie auch in den Starbucks-Filialen westeuropäischer Länder, deutlich teurer als anderswo und bietet, ehrlich gesagt, nichts Außergewöhnliches. Man hat früher für die Marke bezahlt und man zahlt weiterhin für die Marke. Im Gegensatz übrigens zu McDonald’s und Starbucks sind die amerikanischen Ketten KFC, Burger King, Domino Pizza und Pizza Hut nirgendwohin gegangen und arbeiten hier in Russland weiter wie gewohnt.
Man muss aber sagen, dass viele große Bekleidungsmarken verschwunden sind. Offensichtlich ist es etwas schwieriger geworden, für russische Frauen schicke Klamotten zu kaufen, und gut auszusehen ist für viele russische Frauen eine sehr wichtige Sache. Aber auch hier gilt das Biblische „Wer sucht, der findet“: Einige Läden haben sich darauf spezialisiert, Designerkleidung über Drittfirmen einzukaufen und sie natürlich – der Markt bestimmt ja alles – etwas teurer zu verkaufen. Andere Marken mit volkstümlicheren Preisen, wie die polnischen Marken Reserved, Mohito, Sinsay und Cropp, lebten eine Mutation durch und wurden zu Re, M, Sinsay und CR. Sie blieben somit auf dem russischen Markt präsent. Sogar die französische Marke l’Occitane en Provence, die Accessoires für Damen verkauft, hat nach einer Zeit der Schließung ihre Arbeit wieder aufgenommen und einfach ein Logo mit kyrillischen Schriftzeichen übernommen.
Geld, Geld, Geld
Um Russland für den Einmarsch in die Ukraine zu bestrafen, haben Amerika und Europa zahlreiche Sanktionen gegen Russland verhängt – man weiss es. Doch heute scheint in Moskau und in Russland im Allgemeinen, fast anderthalb Jahre nach Beginn des Krieges (oder vielmehr nach einer neuen Phase des Krieges in der Ukraine), das Leben der durchschnittlichen Menschen relativ ruhig zu verlaufen. Zwar hat der Rubel in diesem Jahr im Vergleich zum Januar, als ein Euro etwa 60 Rubel wert war, stark verloren. Heute sind wir bei etwa 100 Rubel. Der Wechselkurs lag vor Februar 2022 bei etwa 85. Die Preise sind jedoch nicht in die Höhe geschossen. Die Strom-, Wasser- und sonstigen Wohnkosten sind zwischen 2021 und heute insgesamt um 6 % bis 14 % gestiegen. Der Großteil der Inflation war zwischen März und April letzten Jahres zu verzeichnen, dann stabilisierten sich die Preise. Die Russen, insbesondere diejenigen, die die Hyperinflation der 1990er Jahre unter Präsident Boris Jelzin noch erlebt haben, sind an Anderes gewöhnt. Eine U-Bahn-Fahrkarte kostet 50 Rubel, 4 Rubel mehr als im Vorjahr. Eine Packung Barilla-Nudeln kostet etwa einen Euro, eine Kinokarte zwischen zwei und fünf Euro. Die Bücher kosten durchschnittlich 3 bis 10 Euro. Ein Ticket für den Zug zwischen Moskau und Petersburg kann man für zwischen 10 und 70 Euro kaufen.
Aufgrund der Sanktionen gibt es in Russland heute aber tatsächlich einige Unannehmlichkeiten, auch für ausländische Besucher. Seit letztem Sommer, nach der Aufhebung der jüngsten Corona-Beschränkungen, ist Russland theoretisch für Touristen wieder geöffnet. In der Praxis ist es aber heute nicht ganz einfach, Russland als Tourist zu besuchen. Das Hauptproblem ist, wie bei fast allen Angelegenheiten in unserer Zeit, das Geld. Internationale Kreditkarten VISA und Mastercard funktionieren seit letztem Jahr nicht mehr, und russische Bankkarten funktionieren im Ausland nicht. Mittlerweile ist in Russland die Nutzung seines Zahlungssystems MIR, was „Welt“ und zugleich „Frieden“ bedeutet, stark gewachsen, ein System, das bereits 2015 eingeführt wurde. Das chinesische UnionPay-System funktioniert auch.
Nicht alle russischen Banken sind vom internationalen Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen worden. Einige erlauben noch Auslandsüberweisungen. Es gibt auch Anwendungen, mit denen man noch Geld überweisen kann, etwa russische Analogen zu WesternUnion und Moneygram (Remitly scheint zu funktionieren. Wir werden das testen. Red.). Einige Leute empfehlen Bitcoins, um Geld zu überweisen. Nachteil: Der Wechselkurs soll sehr ungünstig sein; und angesichts der großen Volatilität, unter der Kryptowährungen im letzten Jahr gelitten haben, ist es wohl nicht die beste Option — also besser es nicht heimlich zu tun. Wenn Sie also nach Russland kommen möchten, bringen Sie genügend Bargeld mit und wechseln Sie dann in Russland! Euros, Dollars, Pfunde und auch Schweizer Franken sind in den allermeisten russischen Banken hochwillkommen.
Allerdings gibt es in Russland nicht viele westliche Touristen. Im ersten Quartal 2023 waren es beispielsweise nur 5.000 deutsche Besucher. Und unter den Touristen im Allgemeinen liegen die Deutschen nach Türken und Chinesen an dritter Stelle. Gut, die Touristensaison in Russland dauert sowieso eher von April bis September, also sind die Zahlen für dieses Jahr vorerst nicht wirklich relevant. Aber selbst wenn die Zahl der ausländischen Besucher insgesamt im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist, liegt sie nach Angaben des russischen Reisebüroverbandes immer noch weit unter dem Wert von 2019 im gleichen Zeitraum, nämlich bis zu siebenmal weniger. Unter diesen Umständen ist es umgekehrt kein Problem, in Moskau oder anderen russischen Städten eine Unterkunft zu finden. Die Hotelketten Intercontinental, Marriott, Hilton und Hyatt haben zwar Russland offiziell verlassen, die Hotels werden jedoch weiterhin als Franchise-Hotels betrieben. Auch die französische Accor, Eigentümerin von Hotel-Marken IBIS Hotel, Novotel und Swissotel sowie Radisson Blu, bleibt auf russischem Territorium präsent. (Achtung, wer z.B. bei IBIS buchen will, kriegt eine Nachricht zu sehen, wonach „diese Region“ im Moment nicht buchbar sei. Dann einfach direkt anrufen oder eine Email hinschicken, und es klappt. Red.)
Es ist schwer vorstellbar, welche anderen Arten von Sanktionen der Westen gegen Russland verhängen könnte. Der Ausschluss aus dem SWIFT-System wurde oft als finanzielles Äquivalent einer Atombombe bezeichnet. Russland hat aber überlebt. Die russische Wirtschaft scheint sich vorerst durchhalten zu können. Während viele westliche Marken abgewandert sind, wurden diese durch lokale Analoga ersetzt. China hat auch schnell neue Chancen genutzt und Marktlücken geschlossen. Heute ist jedes dritte in Russland verkaufte Auto chinesisch. Im Jahr 2021 waren es nicht einmal 7 Prozent. Die Russen scheinen endlich nicht allzu traurig zu sein, wenn sie keinen Mercedes oder Renault mehr finden. Denn wenn jemand das Geld hatte, um einen Mercedes-Wagen zu kaufen und auch jetzt unbedingt einen Mercedes haben will, kann er das auch heute machen. Wer über die (finanziellen) Mittel verfügt, kann im Land des Wodkas sogar weiterhin den besonders köstlichen französischen Grey Goose kaufen (Preis für eine 0,7-l-Flasche in Moskau ca. 40 Euro, etwas teurer als in Deutschland und etwas günstiger als in der Schweiz), ein wahres Zeichen gesellschaftlicher Auszeichnung, in einer Stadt, wo Wodka normaler Qualität im Durchschnitt zwischen 3 und 6 Euro kostet. Aber die einfachen Menschen in Russland haben offensichtlich andere Probleme, als sich darüber zu beklagen, dass es in den Geschäften keinen echten Parmesan gibt oder dass es sehr schwierig geworden ist, in Rom oder New York Urlaub zu machen. Türkische und ägyptische Strände sind für russische Touristen immer geöffnet und deutlich preisgünstiger. Und Pasta kann man in Russland auch ohne Parmigiano essen.
Zum Autor: Stefano di Lorenzo ist 1982 in Milano geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist dann nach Deutschland umgezogen, wo er in Berlin zusätzlich Amerikanistik mit Schwerpunkt Wirtschaft und Politik studiert hat. Heute lebt er in Moskau und erlebt vor Ort, wie der kollektive Westen mit allen Mitteln versucht, Russland schlecht zu reden.
Siehe dazu auch: «Die Russland-Sanktionen sind für Russland auch eine große Chance» (von Dmitri Trenin)