Bayern, die Ostukraine und der Krieg – oder: Ein anderer Blick auf die Ereignisse im Donbass
Die Ostukraine und Bayern – ein Vergleich, der nur auf den ersten Blick an den Haaren herbeigezogen scheint. Regionale Identitäten lassen sich von einer Zentralmacht nur temporär und um den Preis von Bürgerkriegen unterdrücken. Was also wäre, wenn …?
Okay, alle Vergleiche hinken, aber sie können Strukturen sichtbar machen. Stellen wir uns also mal Folgendes vor: In Berlin käme unter massivem Druck der Straße, nach Einsatz scharfer Munition und unterstützt von einer Reihe prominenter Politiker aus dem Ausland infolge einer zweifelhaften Abstimmung im Bundestag eine Regierung an die Macht, deren erste Amtshandlung die Abschaffung zentraler Elemente des Föderalismus wäre.
Zu den Maßnahmen der neuen Bundesregierung würden die Unterstellung des Polizei- und Bildungswesens unter die Berliner Zentralgewalt und die Ankündigung einer einheitlichen deutschen Kulturpolitik gehören. Aus der Münchner Landesregierung kämen umgehend starke Proteste, man werde diesen grundgesetzwidrigen Angriffen der Berliner Putschregierung auf den Föderalismus und die bayerische Identität auf gar keinen Fall Folge leisten. Worauf Berlin, um den Bayern zu zeigen, wo der Hammer hängt, nicht nur auf der sofortigen Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen bestehen, sondern dem Bundesland den Titel „Freistaat“ entziehen, die katholischen Feiertage abschaffen, alle bayerischen Traditionsvereine verbieten und das Sprechen des Bayerischen Dialekts in der Öffentlichkeit unter Strafe stellen würde.
„Berliner Putsch-Junta“ versus „Volksrepublik Bayern“
Mit diesen Kraftmeiereien bringt Berlin das Fass zum Überlaufen. Täglich demonstrieren in München auf dem Max-Joseph-Platz und in den Zentren aller größeren bayerischen Städte Tausende von Menschen in bayerischer Tracht gegen die antiföderalen Maßnahmen der „Berliner Putsch-Junta“, in den Industriebetrieben kommt es zu Warnstreiks, der Erzbischof von München und Freising und die Landesregierung erklären sich mit den Demonstrierenden und Streikenden solidarisch.
Da Berlin nicht daran denkt nachzugeben, verhärten sich die Fronten: Die Berliner Repressalien provozieren eine Renaissance des Bayerntums. Im Bayernkurier erscheinen Essays patriotischer Historiker, die ins Gedächtnis rufen, dass bereits im Jahre 1871 der Beitritt des bayerischen Königreichs zum preußisch dominierten Deutschen Reich in Wirklichkeit ein hochumstrittener Anschluss war und Ludwig II. von Bismarck mit erheblichen Summen bestochen wurde, bis er sich endlich bereit erklärte, den Preußenkönig Wilhelm zum deutschen Kaiser vorzuschlagen. Unter der Herrschaft der Hohenzollern sei Bayern faktisch eine von Berliner Statthaltern regierte innerstaatliche Kolonie gewesen.
Der Jahrestag der Ausrufung der antipreußischen Münchner Räterepublik wird mit großem Pomp gefeiert, und auf dem Münchner Marienplatz erinnern Honoratioren daran, dass die Niederschlagung der Räterepublik durch Truppen der Reichsregierung allein in München über 700 Tote gefordert habe. Als Konsequenz habe Bayern entgegen der Weimarer Verfassung und im Widerspruch zum Versailler Vertrag ab Mai 1919 eine eigene Armee aus Bürgerwehren aufgestellt, die Ende des Jahres schon über 200.000 Mann mit schweren Waffen verfügte. Sogar der Gleichschaltungspolitik der Nazis hätten die Bayern immer wieder offenen oder klandestinen Widerstand entgegengesetzt und nach dem II. Weltkrieg auch das Grundgesetz zunächst abgelehnt.
Immer rasanter mutiert bayerischer Patriotismus zu bayerischem Separatismus, und ein Vierteljahr nach dem Berliner Umsturz wird nach einem landesweiten Referendum die „Volksrepublik Bayern“ ausgerufen, die sogleich ihren Austritt aus der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Berlin verweist darauf, dass dieser Beschluss grundgesetzwidrig sei und droht, im Falle einer Umsetzung die Bundeswehr nach Bayern zu schicken, um gegen die „Terroristen im Süden“ die öffentliche Ordnung und den Geltungsbereich des Grundgesetzes wiederherzustellen. München reagiert mit der Aufstellung einer bayerischen „Volkswehr“, die aus Paramilitärs und ehemaligen Bundeswehreinheiten besteht, die in ihren bayerischen Standorten zur „Volksrepublik Bayern“ übergelaufen sind.
Die Bundeswehr im „Antiterroreinsatz“
Die Berliner Zentralgewalt, die sich starker Unterstützung aus dem westlichen Ausland erfreut, macht Ernst. Sie kappt Renten und sonstige Transferleistungen nach Bayern und schickt im Rahmen eines „Antiterroreinsatzes“ Bundeswehreinheiten Richtung Süden, denen sich antiföderalistische Freikorps anschließen. Ab jetzt liefern sich beide Seiten auf dem abtrünnigen bayerischem Territorium blutige Gefechte. Bereits nach wenigen Wochen sind über 1.000 Tote zu beklagen.
Nehmen wir nun weiter an, das an Bayern angrenzende Österreich wäre noch – wie vor dem I. Weltkrieg – eine Großmacht. Schon träumen nicht wenige Bayern von einem Beitritt ihrer von keinem Staate anerkannten „Volksrepublik“ zum österreichischen Großen Bruder, dem sie sich mental viel mehr verbunden fühlen als dem verhassten Berlin und mit dem auch das ökonomische Überleben der jungen Republik gesichert wäre. Wien selbst hält sich in dieser Frage bedeckt, verweist aber immer wieder auf den „illegalen Krieg des Berliner Putsch-Regimes gegen die eigene Bevölkerung“. Die bayerische Volkswehr, die zeitweilig größere Gebietsverluste zu beklagen hatte, schlägt sich auf einmal wieder erstaunlich gut und kann nach harten Kämpfen strategisch wichtige Städte des verlorenen Territoriums zurückerobern.
Berlin beschuldigt Wien, die „proösterreichischen Separatisten“ über die durchlässige Grenze zwischen Bayern (Berlin sagt: Deutschland) und Österreich mit schweren Waffen und Soldaten zu unterstützen. Wien bestreitet dies, Österreich beteilige sich an diesem Krieg nicht. Allerdings befinden sich unter den Gefangenen, die die Bundeswehr auf bayerischem Gebiet macht, immer wieder auch österreichische Staatsbürger, die behaupten, freiwillig ihre bayerischen Brüder im Kampf gegen die „Berliner Junta“ zu unterstützen.
Der festgefahrene Konflikt
Jahrelang sind die Fronten weitgehend festgefahren. Große Teile Bayerns stehen unter Berliner Kontrolle, zu beiden Seiten der Kampflinie kommt es fast täglich zu größeren oder kleineren Scharmützeln. Ganze Ortschaften sind zerstört. Der Krieg kostete bereits über 14.000 Menschen das Leben. Tausende sind geflüchtet – je nach politischer Einstellung in die von Berlin oder von München kontrollierten Gebiete. Einige auch nach Österreich. Der Münchner Flughafen ist eine Trümmerwüste. Die Eisenbahnverbindungen zwischen Bayern und Restdeutschland sind gekappt. Eine Busfahrt von Augsburg nach Ulm, die mehrere Grenzposten passieren muss, dauert nun sechs bis acht Stunden. Zwischen den von Berlin besetzten bayerischen Gebieten und der „Volksrepublik Bayern“ sind selbst Telefongespräche nicht mehr möglich, weil die Mobilfunknetze inkompatibel sind. Zahllose Familien sind zerrissen. Die meisten Menschen wollen nur noch, dass die Kämpfe endlich aufhören.
Internationale Vermittlungsversuche, die im „Bukarester Abkommen“ kodifiziert wurden, werden von den kriegführenden Parteien sabotiert. Berlin weigert sich hartnäckig, seinen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen und eine Grundgesetzreform durchzuführen, die den Föderalismus wieder einführen und Bayern innerhalb der Bundesrepublik Deutschland weitgehende Autonomierechte einräumen würde. Umgekehrt spricht viel dafür, dass Österreich nach wie vor Waffen an die bayerischen Rebellen liefert. Zudem zahlt der Große Bruder mittlerweile die Renten und Beamtengehälter in der „Volksrepublik Bayern“ – in Schilling, versteht sich, denn diese Währung wurde in den von München kontrollierten Gebieten bereits vor Jahren eingeführt.
Auf der mentalen Ebene stehen sich jetzt zwei konträre Narrative unversöhnlich gegenüber: Berlin behauptet, Österreich habe Deutschland angegriffen und damit die europäische Grundordnung massiv verletzt. Es führe einen unerklärten hybriden Krieg auf deutschem Territorium, nämlich in Bayern, wo es das Regime der „proösterreichischen Separatisten“ eingerichtet habe. Die „Volksrepublik Bayern“ dagegen erklärt, man werde sich der vom Ausland installierten illegalen Berliner Putschregierung, die das eigene Volk angegriffen habe, niemals beugen. Und Wien betont, es habe mit allem nichts zu tun.
Showdown
Nach fast acht Jahren geraten die Dinge dramatisch in Bewegung. Berlin, das von einer westlichen, mit Wien verfeindeten Hegemonialmacht mit gigantischen Mitteln militärisch, ökonomisch und moralisch unterstützt wird, zieht große Truppenverbände an den Kampflinien zur „Volksrepublik Bayern“ zusammen und lässt durchblicken, dass es nun Ernst machen und die abtrünnigen Gebiete – koste es, was es wolle – zurückerobern will. Wien, das sich seinerseits von der westlichen Hegemonialmacht existenziell bedroht fühlt, führt auf dem Territorium des befreundeten Tschechiens martialische Manöver an der Grenze zu Deutschland durch. Die Lage spitzt sich gefährlich zu.
In einer letzten diplomatischen Initiative fordert Wien die westliche Hegemonialmacht ultimativ auf, Berlin nicht weiter zu unterstützen und droht Berlin, alle militärischen Mittel einzusetzen, um einen Genozid an der bayerischen Bevölkerung, der Österreich sich seit ewigen Zeiten verbunden fühle, zu verhindern. Als sowohl die Hegemonialmacht wie Berlin Wien auflaufen lassen, ist es soweit: Österreich erklärt das „Bukarester Abkommen“ für gescheitert und erkennt die „Volksrepublik Bayern“ als Staat an. Drei Tage später überfallen österreichische Truppenverbände von Tschechien kommend Deutschland, zeitgleich rückt Wien auf breiter Front in Bayern ein.
Nach monatelangen Kämpfen ist es Österreich zwar nicht gelungen, die „Berliner Putsch-Junta“ zu beseitigen, aber es hat weite Teile Thüringens und Sachsens unter seine Kontrolle gebracht und lässt dort – und zeitgleich im immer noch nicht ganz eroberten Bayern – Referenden über eine Abspaltung von der Bundesrepublik Deutschland durchführen. Die Ergebnisse sind aus Wiener Sicht ein voller Erfolg: Offiziellen Angaben zufolge bekundet angeblich eine überwältigende Mehrheit in allen drei – nun ehemaligen – Bundesländern den Wunsch, Österreich beizutreten. Ein Wunsch, der schon drei Tage später gnädig gewährt und in der Wiener Hofburg feierlich vollzogen wird …
Und eine verängstigte Weltöffentlichkeit fragt sich: Wer ist eigentlich an allem schuld?