Auf eigenen Füssen in Petersburg – was sich in den letzten sechs Wochen dort verändert hat
(Red.) Der Westen beschliesst gegen Russland eine Sanktionswelle nach der anderen, immer im Glauben, Russland damit substanziell schaden zu können. Aber schaden diese Sanktionen Russland wirklich? Kann man mit wirtschaftlichen Sanktionen das flächenmässig grösste Land der Welt wirklich schwächen oder gar zerstören? Oder schadet man damit vielleicht sogar sich selbst? Unser geopolitischer, in Brüssel lebender Experte Gilbert Doctorow reiste nach sechs Wochen Brüssel erneut nach St. Petersburg in Russland und berichtet über die dort beobachteten Veränderungen.
Ich hatte mir vorgestellt, dass mein erster Bericht über diese jüngste Reise nach St. Petersburg, die mit unserer Ankunft am Montag Nachmittag in einem Bus vom Flughafen Helsinki begonnen hat, in einer Woche erscheinen würde, wenn ich genügend Eindrücke gesammelt haben würde. Aber wie Oksana Boyko und ich bei ihrem Interview mit mir vor einer Woche übereinstimmend feststellen konnten, verändert sich das Leben in Russland seit dem 24. Februar in rasantem Tempo, und die ersten 24 Stunden hier haben bereits einige Dinge gezeigt, die ich mitteilen muss, solange sie in mir noch so lebendig sind.
Die erste ist meteorologischer Natur: Petersburg ist jetzt wirklich im Wintermodus. Bei unserer Ankunft betrug die Temperatur minus 5 Grad Celsius, und es liegt eine Schneedecke auf dem Land. Noch nicht genug, um Ski zu fahren, aber genug, um auf den Gehwegen in unserem halb-vorstädtischen Außenbezirk Puschkin/Tsarskoje Selo ausrutschen zu können…
Warum ist das wichtig? Weil, wenn man bei plus 12 Grad lebt, wie ich es im letzten Monat in Brüssel tat, und man von den Nöten der Ukrainer hört, die im Winter ohne Heizung, ohne Strom, ohne Wasser auskommen müssen, hat diese Geschichte einen fernen, schon fast einen abstrakten Charakter. Wenn man aber selbst unter Bedingungen lebt, die weit unter dem Gefrierpunkt liegen, wird diese Sicht unmittelbar und alarmierend, selbst wenn die Wohnungen, wie es hier in St. Petersburg der Fall ist, überheizt sind und man, weil ohne Thermostaten, die Temperatur durch Öffnen der Fenster reguliert …
Das soll nicht heißen, dass ich eine Schwäche für die Ukrainer und ihre Regierung aus Mördern und Dieben in Kiew entwickelt habe. Nein, aber ich bedaure zutiefst den Verlust von Menschenleben unter der Zivilbevölkerung in den ukrainischen Städten, wenn in den kommenden Wochen das gesamte dortige Energienetz in Schutt und Asche gelegt wird. Die verbliebenen jungen und wohlhabenden Ukrainer werden sich in ihre Autos setzen und vor unserer Haustür in Brüssel und anderswo in der EU landen. Ich denke dabei an den prächtigen Jaguar mit ukrainischen Kennzeichen, der in den letzten Wochen mehrere Male kurz vor meinem Brüsseler Haus geparkt war. Aber die alten Witwen, die Gebrechlichen, die kleinen Kinder in den ukrainischen Städten werden in Scharen in ihren ungeheizten Wohnungen sterben, und niemand außer den Propagandisten, die der EU-Führung empfehlen, noch mehr Gelder rauszuschmeissen, wird davon Notiz nehmen.
Wer aber ist schuld an ihrem Tod? Unsere führenden Politiker in der EU und in den USA werden ohne Umschweife sagen, dass Wladimir Putin schuld ist, weil er die ukrainische Infrastruktur in Stücke bombt. Das ist genauso gutgemeint, wie dieselben Leute von Anfang an gesagt haben, der russische Angriff auf die Ukraine „unprovoziert“ erfolgt. Die Realität ist, dass die Russen ohne die Zerstörung der ukrainischen Energieinfrastruktur die Lieferung von immer zerstörerischeren Waffensystemen aus den Arsenalen der USA und der NATO an die ukrainischen Streitkräfte an der Front nicht stoppen konnten und können. Und es sind diese Lieferungen, die den Krieg verlängern und sein unvermeidliches Ende in Form der ukrainischen Kapitulation einfach hinauszögern.
Aber hier noch ein notwendiges Wort zu den leidenden Witwen, Kranken und unschuldigen Kindern, die in der Mitte dieser Konfrontation stehen. Ihre Behandlung wurde von keinem Geringeren als dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und seiner Kollegin mit deutschem Pass, der Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen, als „barbarisch“ angeprangert. Das ist nicht nur Heuchelei. Nein, es ist schlimmer als Heuchelei. Die deutschen Politiker scheinen vergessen zu haben, wer die Barbarei in der Mitte des 20. Jahrhunderts neu erfunden hat. Sie vergessen die eine Million Leningrader, ein Drittel der damaligen Stadtbevölkerung, die während der Belagerung durch die deutsche Wehrmacht (1941-44, Red.) verhungert und erfroren sind. Stattdessen weinen sie jetzt über die 6600 Zivilisten, die nach UN-Angaben bisher bei der russischen Militäroperation in der Ukraine gestorben sind. Es wäre so viel besser, wenn sie ganz einfach die Klappe halten und das Anständige tun würden, nämlich die Waffenlieferungen an das Kiewer Regime einzustellen und den Rest der Welt aufzufordern, dies ebenfalls zu tun und auf einen sofortigen Friedensschluss auf der Grundlage der ukrainischen Neutralität zu drängen.
Meine ersten Eindrücke
Nachdem ich diesen ersten überwältigenden Eindruck nun schwarz auf weiß festgehalten habe, komme ich zu den kleinen Eindrücken des Petersburger Alltags nach sechswöchiger Abwesenheit.
Wie üblich habe ich einige Bemerkungen zum Lebensmitteleinzelhandel, die sich aus meinen gestrigen und heutigen Einkaufstouren ergeben haben, bei denen ich meinen nahegelegenen Economy-Class-Supermarkt auf der anderen Straßenseite aufgesucht habe, um Grundnahrungsmittel zu kaufen, und auch den zehn Gehminuten entfernten Perekrostok-Supermarkt der gehobenen Klasse besucht habe. Außerdem besuchte ich den Lebensmittelmarkt im Stadtzentrum von Puschkin, eine 15-minütige Taxifahrt entfernt.
Es gibt Veränderungen im Produktsortiment zu vermelden, vor allem auch bei den Verpackungen. Preisänderungen sind weniger offensichtlich, so wie auch der Benzinpreis an den Tankstellen seit dem 24. Februar nicht mehr als 5 oder maximal10 Prozent gestiegen ist. Bei den Verpackungen stelle ich bei den optischen Aspekten von Kartons für Säfte, Milchprodukte und andere Flüssigkeiten einen neuen Trend zur Vereinfachung fest, nachdem globale Verpackungslieferanten, darunter Tetrapak, den russischen Markt verlassen haben und die Lagerbestände ihrer Produkte abgebaut und durch russische Neulinge auf diesem Gebiet ersetzt wurden. Das Gleiche wird sicherlich bald in den Kühlschränken für Joghurts geschehen, wenn der Abgang von Danone abgeschlossen ist. Momentan ist die Marke Activia noch im Handel. In der Zwischenzeit bringt die Importsubstitution auch den Markteintritt neuer Produktkategorien mit sich, die von lokalen Fabriken hergestellt werden. Ich habe gerade das Marktdebüt von Flüssigwaschmittelkapseln für Waschmaschinen gesehen, die die Pulverwaschmittel ersetzen sollen, deren Angebot durch den Weggang großer westlicher Hersteller wie zum Beispiel Proctor & Gamble eingeschränkt wurde.
Tropische Früchte in Hülle und Fülle
Die Verfügbarkeit von importierten tropischen Früchten in allen Preisklassen des Einzelhandels ist weiterhin beeindruckend. Das Sortiment an Kakis oder Granatäpfeln ist hier sogar viel umfangreicher als in Brüssel. Die berühmten blauen und gelben kernlosen Kishmish-Trauben haben hier Hochsaison. Wie die anderen exotischen Früchte stammen diese traditionellen, in Russland seit Jahrzehnten bekannten Tafeltrauben aus Usbekistan und anderen Erzeugerländern in Zentralasien oder aus der Türkei und Aserbaidschan.
Das Weinsortiment in den Supermärkten der Economy- und Mittelklasse verlagert sich immer mehr von den westeuropäischen Erzeugern zu den russischen und auch zu den Erzeugern aus dem Balkan. Die Herausforderung der Käufer besteht darin, unter den völlig unbekannten Etiketten etwas Trinkbares zu finden, und das zu Preisen zwischen 8 und 10 Euro, die jetzt in den Regalen dominieren.
Mein Besuch an der Fischtheke in Perekryostok nahm eine unerwartete Wendung. Noch vor sechs Wochen hatte ich die hohe Qualität des Wolfsbarschs und der Dorade bemerkt, da sie frischer waren als jene in denselben Fischkategorien und von denselben Exporteuren aus dem Mittelmeerraum nach Belgien gebrachten, und das alles für die Hälfte des Preises oder weniger von Delhaize, Lion oder dem marokkanischen Fischhändler, der Restaurants in unserem Viertel beliefert. Als ich aber dieses Mal an den Tresen trat, begrüßte mich die Verkäuferin mit: „Wir haben keinen importierten Fisch!“ Ich kann nur vermuten, dass sie an meinem italienischen Wintermantel aus Schafsfell und an meiner finnischen Schafsfellmütze erkannte, dass ich in St. Petersburg eben ein Ausländer bin, und daher annahm, dass ich nur Fisch aus meinem Teil der Welt essen würde. Ich versicherte ihr, dass ich nicht auf der Suche nach importiertem Fisch sei, sondern nur nach gutem Fisch. Sie verlor sofort ihre Unfreundlichkeit, vertraute mir an, dass sie seit einigen Wochen keinen importierten Fisch mehr erhalten habe und empfahl mir den ausgezeichneten Sudak von russischen Lieferanten («Sandre» für die Franzosen, «Zander» für die Deutschen, «Sandacz» für die Polen), Flussfische, die sie vorher nicht im Angebot hatte, aber jetzt zu einem Sonderpreis von 6 Euro pro Kilo anbieten konnte. Ich befolgte ihren Rat und das daraus entstandene Abendessen war hervorragend. Eine Alternative wäre Flunder aus Murmansk gewesen, ebenfalls eine sichere Sache und preislich viermal günstiger als der gleiche Fisch in Brüssel.
Ich beschloss, die Geschichte über die fehlenden Lieferungen von importiertem Fisch zu überprüfen, indem ich meinen bevorzugten Fischhändler auf dem Markt von Puschkin aufsuchte. Dort lagen sie in der Vitrine – sowohl Dorade als auch Wolfsbarsch. Die Verkäuferin sagte, es gebe keine Lieferschwierigkeiten. Sie sagte: „Wir bekommen sie aus der Türkei, und sie sind unsere Freunde, sie unterstützen Russland. Was wir nicht mehr haben, ist etwas aus Norwegen, die eben nicht unsere Freunde sind“. So die Vox populihinter der Fischtheke. Derselbe Fischhändler bietet frischen Lachskaviar aus Kamtschatka (Halbinsel im Nordosten Russlands, Red.) an, der aus einer großen Plastikwanne für 100 Euro pro Kilo verkauft wird. Früher haben wir schwarzen Kaviar zu diesem Preis gekauft, aber die Zeiten ändern sich, in Russland wie überall. Wir kauften also 150 Gramm und aßen heute Abend die besten Kaviar-Sandwiches seit Jahren. Offensichtlich ist die Logistik der Versorgung aus Kamtschatka gut in den Griff zu bekommen.
Und in Brüssel?
Wenn ich sage, dass sich das Sortiment in den russischen Supermärkten jetzt ständig ändert, muss ich das in den Zusammenhang mit ähnlichen Vorgängen in Brüssel stellen. Angesichts der explodierenden Strom- und Heizkosten und der Inflation bei den Lebensmittelpreisen ist die Kaufkraft der belgischen Bevölkerung stark geschwächt, was sich direkt in den Regalen der Geschäfte niederschlägt. In den russischen Geschäften in Brüssel wimmelt es von „Aktionspreisen“ für alle Arten von Lebensmitteln und Non-Food-Produkten. In Belgien sehe ich eine starke Zunahme von Billigprodukten der Marke X auf Kosten der großen, bekannten Marken. Ich sehe, dass billigere Weine aus den Regalen schnell verschwinden, dass billig verpacktes Toilettenpapier ebenfalls schnell aus den Regalen verschwindet, so dass Sie, wenn Sie am Samstagmorgen kein Frühaufsteher sind, wenn Sie für die folgende Woche einkaufen, viele Artikel auf Ihrem Einkaufszettel bereits nicht mehr erhalten können.
Mit Euros oder mit Rubel?
Ich möchte auch noch ein Wort zum Thema Banken und Devisen einlegen. Den meisten Lesern ist sicherlich bekannt, dass die meisten großen russischen Banken von SWIFT abgeschnitten wurden und nicht in der Lage sind, Aufträge russischer Kunden für Überweisungen oder die Bezahlung von Rechnungen aus dem Ausland auszuführen. Was Sie wahrscheinlich nicht wussten, ist, dass einige mittelgroße russische Banken, die keine Verbindungen zur Regierung haben, weiterhin ihren SWIFT-Status genießen. Noch vor sechs Wochen versicherte uns eine dieser Banken mit Sitz in St. Petersburg, dass wir Überweisungen ins Ausland tätigen können, wenn wir hier zum Beispiel eine Immobilientransaktion abschließen. Heute hat die Bank auf ihrer Website die Situation aktualisiert und erklärt, dass sie nur noch Überweisungen von mindestens 50.000 Euro oder Dollar akzeptiert. Ich besuchte deshalb ihr Büro, um mich zu vergewissern, dass es sich nicht um einen Fehler handelte, und erfuhr, dass dies in der Tat ihre neue Geschäftspolitik ist und wahrscheinlich dazu dient, kleine Privatkunden wie uns davon abzuhalten, sie mit einem Auftrag zu belästigen, von dem sie wissen, dass er wahrscheinlich in Tränen enden wird. Die Erfahrung hat sie gelehrt, dass es auf der Absenderseite zu Verzögerungen von einer Woche oder mehr kommen kann, während der die russische Regierung die Transaktion prüft, und dass es auf der Empfängerseite in Europa sogar zu monatelangen Verzögerungen kommen kann, je nach Land in der EU sogar zu einer vollständigen Blockierung der Transaktion und ohne Rückerstattung.
Und während sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere. Gleich zu Beginn der militärischen Sonderoperation und des Ausschlusses Russlands von SWIFT waren die Wechselkurse auf bizarre Weise volatil, bis die russischen Banken marktgesteuerte Wechselkurse einführten, die den Kurs der Zentralbank für ihre Geschäfte mit Privatkunden ersetzten. Und dann wurde schnell klar, dass diese Kurse theoretisch waren, weil die Bankfilialen in ganz Russland keine Euro- oder Dollar-Banknoten vorrätig hatten, um die Nachfrage ihrer Kunden zu befriedigen. Heute aber kann ich bestätigen, dass die russischen Banken in meiner Umgebung in Petersburg mit Fremdwährungen überschwemmt sind. Man kann in eine Bank gehen und vor Ort 20.000 Euro gegen Rubel in bar kaufen. Bei einer anderen Bank, der Sberbank, kann man dieselben 20.000 Euro zur Lieferung am nächsten Tag bestellen. Wie man die plötzliche Flut von Euro-Bargeld in russischen Banken erklären kann, wo es doch praktisch keinen Touristenverkehr mehr gibt, entzieht sich bisher meinem Verständnis.
Ich schließe meinen kleinen aktuellen Bericht mit einer Information darüber, wer genau mit den vier täglich verkehrenden Bussen der konkurrierenden Unternehmen «Ecolines» und «Lux» über die Grenze von Finnland nach Russland kommt. Am Montag Morgen erlebten wir auf dem Busdepot des Flughafens Vantaa Helsinki die Abfahrt des Ecolines-Busses um 8.15 Uhr mit etwa sechs Fahrgästen an Bord. In unserem Lux-Bus, der um 8.45 Uhr abfuhr, waren aber etwa 40 der 50 Sitzplätze besetzt. In unserem Fall stellte sich bei der Passkontrolle schnell heraus, dass außer einem finnischen Ehepaar mit ihrem Kleinkind und ausser mir alle anderen Fahrgäste russische Staatsbürger mit doppelter Staatsangehörigkeit und EU-Pässen waren. Bei den Ecolines-Passagieren handelte es sich jedoch um Ukrainer, und allein aus diesem Grund holten wir ihren Bus an der russischen Grenze ein, da die Insassen einer eingehenden Befragung unterzogen wurden.
Zum Originalbericht in Englisch, hier anklicken. Die Übersetzung besorgte Christian Müller.
Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Zum Autor Gilbert Doctorow: «Gilbert Doctorow is an independent political analyst based in Brussels. He is a magna cum laude graduate of Harvard College and holds a doctorate in Russian history from Columbia University. From a position as postdoctoral fellow at Harvard’s Russian Research Center in 1975 he transitioned to corporate business, serving major U.S. corporations in their ambition to establish industrial projects in the USSR under conditions of detente. His twenty-five year business career culminated in the position of Managing Director, Russia during the years 1995-2000. Since 2010, Doctorow has published collections of his weekly essays on US-EU-Russian relations and most recently brought out a two volume edition of his diaries and reminiscences. Volume I of „Memoirs of a Russianist,“ bears the subtitle „From the Ground Up“ and sets out the background to his analytic mindset on Russia, on the United States that we see in his present-day essays. Volume II – „Russia in the Roaring 1990s“ is one of the first monographs devoted to the life and times of the foreign community of corporate managers in Moscow and St Petersburg that numbered 50,000 families in the capital alone in 1995. It documents in diary entries and newspaper clippings how the Russian market was won by foreign interests in the 1990s, only to be lost in the spring of 2022 by the sanctions and „cancel Russia“ policies of the Collective West. A Russian language edition in a single 780 page volume was published by Liki Rossii in St Petersburg in November 2021. – Zu Gilbert Doctorows Website hier anklicken.