Die russische Stadt Kasan ist dafür bekannt, dass dort Christen und Muslime friedlich zusammenleben. Dass der diesjährige BRICS-Gipfel hier stattfindet, ist kein Zufall. Russland ist daran interessiert, dass miteinander geredet wird. (Photo TASS)

Auf dem Club, zu dem der Westen nicht eingeladen wurde, sind auch Überraschungen möglich

(Red.) Globalbridge-Russland-Korrespondent Stefano di Lorenzo weilt in Kasan, wo heute das Gipfeltreffen der BRICS-Staaten eröffnet wurde. Während der Westen im Eigeninteresse hofft, dass dort nichts Wichtiges beschlossen wird, wird das wichtigste verkannt: In Kasan redet man miteinander – im Gegensatz zum Westen, wo ausschließlich nach der Geige der USA getanzt wird. (cm)

Die Erwartungen an den BRICS-Gipfel, der in diesen Tagen in Kasan, Russland, stattfindet, sind sehr hoch. Die Stadt ist stark bewacht, da sie sich auf den Empfang von Staatsoberhäuptern aus mehr als dreißig Ländern, darunter China, Indien und Iran, vorbereitet. Im Zentrum von Kasan gibt es buchstäblich an jeder Straßenecke Polizisten. Auch entlang der Bahn, die das Stadtzentrum mit dem Flughafen verbindet, wo die Staatsoberhäupter der BRICS-Länder ankommen, sind zahlreiche Polizisten postiert. Alles ist so organisiert, dass es perfekt und akribisch erscheint. Aber das Unerwartete ist immer da, und am Morgen des ersten Tages des Forums fiel das Internet in vielen Teilen der Stadt für etwa eine Stunde fast aus. Als das Internet wieder funktionierte, schien die Welt wieder in Ordnung zu sein und alle atmeten erleichtert auf.

Dies ist sicherlich der am sehnlichsten erwartete Gipfel, seit sich die BRICS-Länder im Jahr 2009 zum ersten Mal trafen. Damals umfasste die Organisation nur Brasilien, Russland, Indien und China, zusammen also nur BRIC, 2010 kam Südafrika hinzu. Der erste BRIC-Gipfel vor fünfzehn Jahren fand kurioserweise ebenfalls in Russland statt, in Jekaterinburg, in der Uralregion. Heute ist das BRICS-Akronym selbst veraltet, Anfang 2024 traten weitere Länder, der Iran, Ägypten, Äthiopien und die Vereinigten Arabischen Emirate, der Organisation bei. Eine genauere Bezeichnung für die Organisation würde heute BRICSIEEUAE lauten — ein schweres Akronym, das in den nächsten Jahren vielleicht sogar noch länger werden könnte. Aserbaidschan, Bahrain, Bangladesch, Bolivien, Kuba, Kuwait, Malaysia, Pakistan, Palästina, Senegal, Syrien, Thailand, die Türkei, Venezuela und Belarus haben bereits einen formellen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt. 

Zunächst galten die BRICS als eine informelle Gruppe von Schwellenländern. Länder ohne allzu großes Gewicht im Sinne eines globalen Einflusses, Entwicklungsländer. Der Westen konnte es sich leisten, sie nicht allzu ernst zu nehmen. Heute jedoch haben die BRICS zweifellos begonnen, etwas darzustellen, das der Westen als eine ziemlich unerwünschte Herausforderung wahrnimmt, eine rivalisierende Organisation, die den Westen nervös machen kann.

Während man im öffentlichen Diskurs bis vor einigen Jahren noch ziemlich vorsichtig war, wenn es darum ging, über eine von den USA geführte westliche Weltordnung zu sprechen, wird dies heute immer offener und weniger zweideutig getan.

Man spricht von der westlich geführten globalen Ordnung, als ob sie etwas wäre, das fast um jeden Preis bewahrt werden müsste. Für die Menschen im Westen schien es offensichtlich, dass nur eine westlich geführte Welt die beste aller möglichen Welten sein konnte. Als ob die Zeit nach 1945 oder nach 1989 ewig sein würde und sich die Geschichte in Utopie verwandelt hätte. Dabei sollte es nicht überraschen, dass ein solches System nicht auf Dauer allen gerecht werden konnte. Aber der Westen zog es vor, so zu tun, als würde er das nicht verstehen.

Die BRICS, Länder, die auf den ersten Blick sehr unterschiedlich erscheinen mögen, haben mittlerweile begonnen, eine Art kollektives Bewusstsein zu entwickeln. Sie scheinen verstanden zu haben, dass sie gemeinsame Interessen haben. Die BRICS, insbesondere Russland und China, bekunden immer öfter ihre Absicht, nicht unbedingt feindlich gegenüber dem Westen zu handeln, aber sie machen auch deutlich, dass sie sich der Notwendigkeit bewusst geworden sind, sich „ohne den Westen“ zu organisieren. Denn sie haben sich über Jahre hinweg von dem Westen nicht berücksichtigt gefühlt. Es ist ein unerfüllter Wunsch nach Anerkennung, der sich manchmal auch in umgekehrter Richtung manifestiert. Als der französische Präsident Emmanuel Macron im vergangenen Jahr seinen Wunsch äußerte, den BRICS-Gipfel in Südafrika zu besuchen, sagte Russland nein danke.

In der Sprache, die in den BRICS-Ländern zunehmend verwendet wird, ist der Ausdruck, der die BRICS als „globale Mehrheit“ charakterisiert, gewöhnlich geworden. Heute übertreffen die BRICS die G7-Länder (USA, Vereinigtes Königreich, Frankreich, Deutschland, Italien, Kanada und Japan, die bis vor kurzem als die reichsten und damit einflussreichsten Länder der Welt galten) nicht nur in Bezug auf die Bevölkerungszahl — mehr als 3,5 Milliarden Menschen auf Seite von BRICS im Vergleich zu fast 800 Millionen der G7-Länder — sondern auch in Bezug auf das BIP (zu Kaufkraftparitäten): 65 Billionen US-Dollar (etwa 35 % des weltweiten BIP) auf Seite von BRICS im Vergleich zu 55 Billionen US-Dollar des G7, also knapp 30% des weltweiten BIP.

Viele Beobachter haben in den letzten Tagen bereits vom BRICS-Gipfel in Kasan als einem Wendepunkt in der geopolitischen und globalen Finanzkonfiguration gesprochen. Die BRICS würden versuchen, ein System zu schaffen, das sie vom Dollar und den nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffenen Finanzstrukturen unabhängig machen würde. Damals wurde die Basis der heutigen globalen Finanzordnung gelegt, mit der Schaffung von Strukturen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds. Diese Institutionen werden von den BRICS-Ländern als unter der Kontrolle des Westens stehend empfunden (zu Recht, Red.), fern von den Realitäten einer Welt, die sich in den letzten achtzig Jahren tiefgreifend verändert hat.

Es wird daher viel davon gesprochen, dass die BRICS jetzt ein alternatives System zur westlichen Weltordnung schaffen wollen. Insbesondere wird ein neues Zahlungssystem für Finanztransaktionen erwartet, das die amerikanischen Banken, die bei jeder in Dollar abgewickelten Transaktion zwischengeschaltet sind, umgehen würde. Finanztransaktionen und Zahlungen sind sicherlich ein heikles Thema, insbesondere angesichts der vom Westen gegen Russland verhängten Sanktionen, die es Russland erschweren, selbst mit seinen Partnerländern wie China oder Indien Handel zu treiben.

Aber einigen westlichen Beobachtern zufolge ist der derzeitige BRICS-Gipfel auch nichts weiter als ein großes Spektakel, das Russland veranstaltet, um zu zeigen, dass die vom Westen gewählte Isolationsstrategie gescheitert ist. Das Gipfeltreffen sei also kaum mehr als eine Medienveranstaltung mit geringen Aussichten auf konkrete Ergebnisse. Unter diesem Gesichtspunkt tue Putin, so wird gesagt, nichts anderes, als seine „Freunde“ um sich zu scharen.

Der deutsche Jurist und Politikwissenschaftler Carl Schmitt gilt gemeinhin als Vater der Theorie von Freund und Feind als Hauptmerkmal der Politik, auch der internationalen Politik. Das intellektuelle Erbe Carl Schmitts ist aus vielen Gründen umstritten, vor allem wegen seiner Verbindung zum Nazi-Regime. Aber abgesehen von alledem könnte man seine Theorie von Freund und Feind nur als viel zu vereinfachend bezeichnen. Denn wie kann man so eindeutig von Freund und Feind sprechen, wenn man versucht, das komplexe Geflecht der internationalen Beziehungen zwischen ganzen Ländern, extrem komplexen Systemen, zu erfassen und auf ein einfaches Verhältnis von Freundschaft oder Feindschaft, von Anziehung oder Abstoßung zu reduzieren? Sollen Freund-Länder trotz allem immer Verbündete sein? Die Vereinigten Staaten oder die Ukraine können zum Beispiel Nord Stream sprengen, aber sie sollten immer als Freunde betrachtet werden, weil sie formell verbündete Länder Deutschlands sind? Im wirklichen Leben weiß jeder, dass falsche Freunde einem oft schaden können. 

Doch genau diese Art von vereinfachtem Schema wird in so vielen Analysen und Kommentaren verwendet, die man täglich zur internationalen Politik liest. Als ob sich die internationale Politik auf ein Schachspiel reduzieren ließe, aber ohne jegliche Bewegung, mit Ländern und Schachfiguren, die fest in einer präzisen Reihe stehen. Es ist diese Art des Denkens, die dazu führt, dass von „Freunden“ Putins und „Freunden“ des Westens gesprochen wird. Es ist ein Ton, der eher an einen Grundschulspielplatz erinnert als an eine ernste Analyse der internationalen Beziehungen. 

Dieser BRICS-Gipfel könnte also wirklich eine große Überraschung bereithalten. Aber während man darauf wartet, was diese Überraschung sein könnte, können viele anscheinend nur die Gäste beobachten und darüber klatschen, wer gekommen ist und wer nicht.