In Weissrussland trieb die deutsche Wehrmacht in über 400 Dörfern die Menschen zusammen, sperrte sie in Blockhäuser und setzte diese mit dem Flammenwerfer dann in Brand. Siehe dazu die redaktionelle Anmerkung am Ende des Artikels von Ralph Bosshard.

Auch in Belarus wird gewählt

(Red.) In Belarus stehen in den nächsten drei Wochen eine Reihe von Wahlen bevor, in denen die Legislativen auf kommunaler, regionaler und nationaler Stufe bestimmt werden und eine Verfassungsreform aus der Zeit nach den Unruhen vom Frühherbst 2020 umgesetzt wird. Dass in Kriegszeiten in Belarus – und bald auch in Russland – Wahlen überhaupt stattfinden, ist immerhin bemerkenswert. In der Ukraine – der sogenannten «Verteidigerin europäischer Werte» – hat Präsident Wolodomyr Selenskyj die im März fälligen Präsidentschaftswahlen ja abgesagt. (cm)

Als erstes wird am kommenden Wochenende das nationale Parlament der Republik Belarus neu besetzt. Die Legislative von Belarus ist die Nationalversammlung, die sich aus zwei Kammern, der Repräsentantenkammer und dem Rat der Republik zusammensetzt. Die Repräsentantenkammer besteht aus 110 Abgeordneten und stellt die Vertretung der Bevölkerung dar. Der Rat der Republik ist die territorialbezogene Kammer, in welcher jede der sechs Regionen des Landes – sie sogenannten Woblasz – und die Stadt Minsk vertreten sind. Acht Mitglieder dieser Kammer werden vom Präsidenten berufen, der sich so natürlich einen gewissen Einfluss im Gremium wahrt. Gleichentags finden auch die Wahlen für die Räte auf regionaler und kommunaler Stufe statt (1). 

Eine Beobachtung der Wahl durch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE wird auch diesmal nicht stattfinden, ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl von 2020. Damals war die Begründung, dass die belarussischen Behörden das OSZE Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte ODIHR (2) zu spät eingeladen hätten (3). Somit sind die Parlamentswahlen von 2019 bis heute die letzten Wahlen in Belarus, welche von der OSZE beobachtet wurden (4). Schon zuvor, seit 1995 hatte die OSZE keine Wahl in Belarus als frei und fair anerkannt.

Alternativen zur OSZE

Die belarussischen Behörden begründen den Verzicht auf eine Wahlbeobachtung durch die OSZE mit den Sanktionen der EU gegen Belarus im Bereich Luftverkehr, mit deren politischen Sanktionen, mit fehlenden gemeinsamen Standards und Normen für die Wahlbeobachtung und mit der traditionellen Dominanz von Vertretern westlicher Länder in den OSZE-Beobachtungsmissionen. Zumindest letzteres lässt sich anhand von Dokumenten der OSZE überprüfen: Bei der Parlamentswahl von 2019 beispielsweise stammten 22 der Mitglieder des langfristigen Beobachter-Teams aus EU und/oder NATO-Mitgliedsstaaten, 5 aus OVKS-Staaten (5) und 3 aus neutralen Staaten (6). Das Core Teambestand damals aus vier Vertretern aus dem postsowjetischen Raum, davon zwei aus Verbündeten von Belarus aus der OVKS, neun stammten aus Mitgliedsstaaten oder Beitrittskandidaten von EU und/oder NATO und drei aus neutralen Staaten (7). Aber Belarus hat Alternativen: Es hat an der Stelle von Wahlbeobachtern aus der OSZE deren 200 aus verschiedenen internationalen Organisationen eingeladen, denen Belarus angehört, konkret aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten GUS, aus der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit SOZ (8), sowie aus der Parlamentarischen Versammlung der OVKS. Dazu kommen Privatpersonen aus westlichen Ländern (9). 

Das Vorgehen der belarussischen Behörden lässt tief blicken: Die Administration Lukaschenko bemüht sich schon gar nicht mehr um die Zusammenarbeit mit dem ODIHR. Der Flirt mit dem Westen ist vorbei, Präsident Lukaschenko hat aus den Ereignissen der vergangenen zehn Jahre seine Schlüsse gezogen und die Seite gewählt, auf welcher er stehen will. Der Konflikt in und um die Ukraine hat die politische Lage in Europa so weit polarisiert, dass für Reformbewegungen kaum mehr Luft zum Atmen bleibt. Das Gezeter um Propaganda, Meinungs- und Wahlbeeinflussung lässt in Zukunft jedem Macht- und Regierungswechsel in Europa und auch in den USA den Geruch von Regime-Change-Operation anhaften, und derzeit schaut es auch so aus, als ob in mehreren Ländern Europas Regierungswechsel bevorstehen. Auch der Spielraum für politische und wirtschaftliche Reformen wird enger. Das ist bedauerlich, denn solche brauchen mehrere Länder Europas mehr denn je – nicht nur Belarus. Die OSZE und namentlich das ODIHR können inskünftig Wahlen in Westeuropa beobachten und Nabelschau betreiben, aber zum politischen Reformprozess in vielen Ländern der ehemaligen Sowjetunion werden sie nichts mehr beitragen können. Da muss man sich bald einmal die Frage nach dem Sinn der Existenz solcher Institutionen stellen. Damit ist Europa wieder dort, wo es vor der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa KSZE von 1975 stand: Ohne ein Entgegenkommen in Fragen europäischer Sicherheit wird es seitens der OVKS-Staaten keine Zusammenarbeit in Fragen demokratischer Institutionen, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte geben. Das ist mehr als nur bedauerlich.

Europas Selbstüberschätzung und Überheblichkeit …

Wer jetzt aber glaubt, die Geschichte der farbigen Revolutionen der frühen 2000er-Jahre lasse sich nun beliebig fortsetzen, gibt sich wahrscheinlich Illusionen hin. Das gesellschaftliche Ventil ist montiert: Es steht belarussischen und auch russischen Bürgern frei, ihre Heimatländer zu verlassen, die Ausreise ist einfacher, als die Einreise in ein Land des Schengener Abkommens. Ansonsten stehen Belarussen und Russen zahlreiche Länder außerhalb Europas offen. Es war der Westen, der den neuen Eisernen Vorhang gezogen hat. Die Selbstüberschätzung und Überheblichkeit Europas lässt sich nicht besser zusammenfassen als mit den Worten der estnische Regierungschefin Kaja Kalases, als sie twitterte, „Europa zu besuchen ist ein Privileg, kein Menschenrecht“ (10).

Besonders interessant werden die Wahlen zur neusten Institution des belarussischen Staates zu Beginn des Monats April: Die Allbelarussische Volksversammlung. Die überwiegende Mehrheit der 1’200 Angehörigen dieses Gremiums werden diesem milizmäßig angehören (11). Daneben werden der amtierende Präsident und frühere Präsidenten der Republik Belarus sowie Vertreter von Legislative, Exekutive und Judikative quasi von Amtes wegen dabei sein. Das Gros der Mitglieder werden aber Vertreter der lokalen Abgeordnetenräte und der Zivilgesellschaft darstellen, die in jedem der sechs Regionen und in der Stadt Minsk gewählt werden sollen. Die Schaffung dieses Gremiums ist sicherlich als Zeichen der Bereitschaft Präsident Lukaschenkos zu politischen Reformen gedacht. Damit sollen wohl jene Oppositionelle gewonnen werden, die der Auffassung sind, es seien politische Reformen auf verfassungskonformem Weg möglich. Jetzt wird man sehen, worum es der Opposition wirklich geht: Geht es um die Person von Alexander Lukaschenko oder um politische Reformen? Möglicherweise ist die Zusammensetzung des Gremiums ein Hinweis darauf, dass Lukaschenko sich aus der Tagespolitik zurückziehen, aber die Beibehaltung des grundsätzlichen Kurses der Politik sichern will. 

… und Europas Defizit an Glaubwürdigkeit

Mit den Wahlen der kommenden Wochen setzen Lukaschenko – und auch Wladimir Putin in Russland – dem Westen ein Zeichen: Seht her, wir sitzen fest im Sattel, es gibt keinen Grund, auf einen Umsturz zu spekulieren. Die Proteste des Jahres 2020 haben die belarussische Gesellschaft tief gespalten. Wer die Zustände im Land als unerträglich empfand, hat es in den letzten drei Jahren verlassen. Viele dieser Menschen sind mittlerweile aber enttäuscht von jenen Ländern, die ihnen davor als das Paradies auf Erden erschienen waren: Sie treffen jetzt auf eine zunehmend um sich greifende Russophobie, welche je länger je weniger Unterschiede zeigt. Diejenigen, die in Belarus blieben, bekommen durch die Sanktionsflut und die Russophobie nachträglich recht und scharen sich um die Fahne der Staatsführung. In Vilnius hört man heute die russische Sprache überall und Einkaufsfahrten von Litauern ins benachbarte Belarus erfreuten sich zeitweise derartiger Beliebtheit, dass die litauischen Behörden sich veranlasst sahen, drastische Warnplakate an den Grenzübergängen aufzustellen: Es sei gefährlich in Belarus und man könnte an der Rückreise gehindert werden (12). Wer diese Reise ein paar Mal gemacht hat, kann das allerdings nicht mehr ernst nehmen. Europa macht sich selbst unglaubwürdig. Es wird lernen müssen, mit diesen ungeliebten Staatschefs umzugehen, und es hat gute Chancen auf einen erfolgreichen Lernprozess: Mit anderen autoritären Führern im eigenen Lager hat man das auch hingekriegt.

Redaktionelle Anmerkung: Während sich das offizielle Deutschland seiner Verantwortung für den Holocaust wegen schwertut, die gegenwärtigen Gräueltaten Israels in Gaza klar zu verurteilen – Kritik an Israel ist nach deutschem Verständnis ja per definitionem antisemitisch –, hat das gleiche Deutschland keine Hemmungen, Belarus für behauptete Verstösse gegen die Demokratie mit harten Sanktionen zu bestrafen. Es sei deshalb einmal mehr daran erinnert, dass die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg in Weissrussland die Einwohner von über 400 Dörfern auf grauenhafte Weise umgebracht hat, gemäß Schätzungen etwa zweieinhalb Millionen Menschen, ein Viertel der damaligen weissrussischen Bevölkerung. Einmal mehr sei deshalb der Film «Komm und sieh!» empfohlen, der Kriegsfilm von 1985, in dem diese deutschen Greueltaten real gezeigt werden. Zur Empfehlung dieses Films hier ein 6-minütiges Video:

Der Trailer zu einem Film, der kaum mehr öffentlich gezeigt wird, in den deutschen Gymnasien aber zum Pflichtstoff gehören müsste. (cm)

Fußnoten zum Text von Ralph Bosshard

  1. Vgl. Emma Mateo: Die „Wahlen“ in Belarus zeugen von der Stärke des Lukaschenka-Regimes, ZOiS Spotlight 4/2024, Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien 21.02.2024, online unter https://www.zois-berlin.de/publikationen/zois-spotlight/die-wahlen-in-belarus-zeugen-von-der-staerke-des-lukaschenka-regimes.
  2. Englisch OSCE Office for Democratic Institutions and Human Rights ODIHR
  3. Siehe „ODIHR will not deploy election observation mission to Belarus due to lack of invitation“, auf der Homepage der OSZE, 15.07.2020, online unter https://www.osce.org/odihr/elections/457309.
  4. Siehe den Schlussbericht von ODIHR dazu: „Office for Democratic Institutions and Human Rights:  Republic of Belarus, Early Parliamentary Elections 17 November, 2019, ODIHR Election Observation Mission Final Report“, online unterhttps://www.osce.org/files/f/documents/6/4/447583.pdf.
  5. Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit OVKS, englisch Collective Security Treaty Organization CSTO, russisch Организация Договора о коллективной безопасности – ОДКБ.
  6. Siehe „Election Observation Mission Republic of Belarus, Early Parliamentary Elections 17 November, 2019, List of Long-term Observers“, online unter https://www.osce.org/files/f/documents/b/c/438644.pdf.
  7. Siehe „Election Observation Mission Republic of Belarus, Early Parliamentary Elections 17 November, 2019, Core Team List“, online unter https://www.osce.org/files/f/documents/0/4/436061_0.pdf.
  8. Englisch Shanghai Cooperation Organisation, SCO, russisch Шанхайская Организация Сотрудничества ШОС.
  9. Der Vorbericht der Mission der GUS ist veröffentlicht auf der Homepage der GUS: „Промежуточный отчет Миссиинаблюдателей от СНГ о ходе наблюдения за подготовкой выборов депутатов Палаты представителей Национальногособрания Республики Беларусь восьмого созыва“, 19.02.2024, online unter https://e-cis.info/news/564/116053/, in russischer Sprache. 
  10. Siehe Juri Rescheto: Russen raus aus Europa? bei Deutsche Welle, 10.08.2022, online unter https://www.dw.com/de/visum-russen-raus-aus-europa/a-62769429
  11. Den Zusammenhang zwischen den Protesten von 2020 und der Verfassungsreform von 2022 zeigt Waleri Karbalewitsch: Diktatur ohne allmächtigen Diktator, übersetzt von Jennie Seitz, bei Dekoder, Russland und Belarus entschlüsseln, 13.11.2022, online unter https://www.dekoder.org/de/article/lukaschenko-belarus-zukunft-nachfolge-analyse.