Die drei «Flame Towers» in Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan. Sie heissen so, weil sie farbig beleuchtet werden und so wie Flammen aussehen. Der höchste Turm ist 182m hoch und verfügt über 39 oberirdische Stockwerke mit einem Hotel, Büros und auch Wohnungen. Solche Bauwerke sind natürlich nur möglich, wo viel Geld im Spiel ist ...

Aserbaidschans Angriff auf Armenien – Teil II: Die falsche Neutralität

In der Berichterstattung der meisten deutschen Leitmedien zum Angriff Aserbaidschans auf armenisches Hoheitsgebiet dominiert eine Pseudo-Neutralität, die de facto auf eine Parteinahme für den Erdgas liefernden Aggressor hinausläuft. Flankiert wird dies vom dröhnenden Schweigen der Völkerrechtlerin im Auswärtigen Amt und der Brüsseler Kommissionspräsidentin.

„Bei Fragen von Krieg und Frieden, bei Fragen von Recht und Unrecht kann kein Land, auch nicht Deutschland, neutral sein.“ Dies gelte besonders angesichts der deutschen Geschichte. Die deutsche Schuld für Krieg und Völkermord bedeute die Verpflichtung, „jenen zur Seite zu stehen, deren Leben, deren Freiheit und deren Rechte bedroht sind.“ 

Wer glaubt, dieses leidenschaftliche Plädoyer der jungen grünen Außenministerin hätte dem jüngsten Angriff Aserbaidschans auf armenisches Hoheitsgebiet gegolten, der irrt. Annalena Baerbock sprach hier vom russischen Überfall auf die Ukraine. Zu Ilham Alijews Aggression gegen Armenien hatte die engagierte Menschen- und Völkerrechtlerin – „Die Menschenrechte sind unteilbar!“ – bislang kein Sterbenswörtchen übrig. Die offizielle Stellungnahme ihres Außenamtssprechers Christian Wagner war geradezu klassisch: „Wir fordern Aserbaidschan und Armenien auf, umgehend jegliche Handlungen einzustellen, die die Sicherheit zwischen beiden Ländern wie auch der Region gefährden könnten, und wir fordern beide Länder vor allen Dingen auch auf, den Dialog unbedingt fortzusetzen.“ Wer Angreifer, wer Angegriffener war, darüber schwieg sich das Außenministerium vielsagend aus, womit es sich einer klassischen Technik der sublimen Parteinahme bediente, die auch in der deutschen Medienlandschaft sehr beliebt ist.

„Both-Sideism“

Die pseudoneutrale Berichterstattung in den meisten deutschen Leit- und auch einigen Alternativmedien bedient sich eines Tricks, den man neumodisch mit einem nicht besonders schönen, aber eingängigen Wort als „Both-Sideism“ bezeichnen könnte. Das heißt: Man verwendet Argumentationsmuster und Formulierungen, die suggerieren, hier würden zwei gleichrangige, vor allem aber: gleich schuldige Kontrahenten mit vergleichbar starken Waffensystemen einander attackieren. Der beliebteste Satz lautet entsprechend: „Armenien und Aserbaidschan machen sich gegenseitig verantwortlich …“ Hier muss einiges geradegerückt werden.

Bereits die Bevölkerungszahlen sprechen für sich: In Aserbaidschan leben um die zehn Millionen Menschen, in Armenien knapp drei Millionen, Tendenz sinkend, und in der Republik Arzach waren es bis zum Kriegsbeginn vor zwei Jahren knapp 150.000. Aserbaidschan ist dank sprudelnder Erdölquellen und gewaltiger Gasfelder ein sehr reiches Land – was allerdings nicht bedeutet, dass der Reichtum auch der Bevölkerungsmehrheit zugute käme. Armenien und die Republik Arzach – oder was davon seit dem letzten Krieg übrig geblieben ist – verfügen dagegen kaum über nennenswerte Bodenschätze. „Hayastan – Karastan“ („Armenien – Land der Steine“) lautet bezeichnenderweise ein bekanntes armenisches Sprichwort. 

Beide von Armeniern bewohnten Länder sind arm – was sich natürlich nicht zuletzt auf den Rüstungshaushalt und damit auf die Ausstattung der Streitkräfte auswirkt. Bereits im ersten Krieg Anfang der Neunziger Jahre waren die Armenier, was Truppenstärke wie Quantität und Qualität der Waffensysteme angeht, den hochgerüsteten Aserbaidschanern hoffnungslos unterlegen. Damals gelang es ihnen dennoch, den Konflikt zu ihren Gunsten zu entscheiden. In den vergangenen Jahren hat Aserbaidschan mithilfe feudaler Petrodollareinnahmen allerdings massiv aufgerüstet: Zwischen 2009 und 2018 betrugen die Ausgaben für das Militär umgerechnet 24 Milliarden US-Dollar, während Armenien im gleichen Zeitraum vier Milliarden US-Dollar für die Rüstung ausgab. Vor zwei Jahren war der aserbaidschanische Militäretat bereits so groß wie der gesamte Staatshaushalt Armeniens, mittlerweile dürfte er noch um einiges größer sein. Den zweiten Karabachkrieg im Herbst 2020 konnte Aserbaidschan vor allem mithilfe modernster Kampfdrohnen türkischer und israelischer Produktion für sich entscheiden. Waffensysteme, denen die Armenier mit ihren veralteten russischen Luftabwehrsystemen nichts Adäquates entgegenzusetzen hatten.

Auch die Gesellschaftssysteme sind völlig konträr: Aserbaidschan wird regiert von einer kleptokratischen Clique, dem Alijew-Clan, der seit 1993 das Land despotisch beherrscht, Oppositionelle mundtot macht und mit Hilfe üppiger Erdölerlöse auch die Stimmung in der Europäischen Union zu beeinflussen sucht. Einige korrupte deutsche Politiker/innen im Bundestag und im Europa-Parlament ließen sich bereits erfolgreich für die proaserbaidschanische Propaganda einspannen. Armenien dagegen erlebt seit der friedlichen, damals von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung getragenen „samtenen Revolution“ vom Frühjahr 2018 einen demokratischen Aufschwung. Das Land ist dabei, sich mühsam von den alten korrupten Strukturen zu befreien. (Dies könnte nicht zuletzt ein Grund für die mangelnde Unterstützung durch Russland im zweiten Karabachkrieg und in der Gegenwart sein.) Schwere Rückschläge wie die Niederlage im Krieg mit Aserbaidschan konnten diesen Prozess behindern, aber nicht stoppen. Mangels Bodenschätze beginnt das Land, in die Köpfe der Menschen zu investieren, in Digitalisierung und IT.

Dem beredten Schweigen der deutschen Außenministerin wie auch der – ebenfalls deutschen – EU-Kommissionspräsidentin (und vermutlich der pseudoneutralen Berichterstattung in den meisten deutschen Leitmedien) liegt natürlich ein handfestes materielles Interesse zugrunde: Man will es sich mit dem neuen, von Frau von der Leyen als zuverlässig gerühmten, despotischen Gaslieferanten keinesfalls verderben. Oder in den trefflichen an die Kommissionspräsidentin gerichteten Worten des EU-Abgeordneten Martin Sonneborn (Die Partei): „Um uns von einem Gaslieferanten zu lösen, der einen brutalen Angriffskrieg führt – Putin –, haben Sie uns einen gesucht, der einen brutalen Angriffskrieg führt – Alijew!“ 

Alijew eskaliert – Moskau und Brüssel schauen weg

Kommen wir zum letzten Mantra unserer Leitmedien, der Behauptung, Aserbaidschan werde von der Türkei, Armenien dagegen von Russland unterstützt. Dieser Satz ist wahr und falsch zugleich. 

Wahr ist er in Bezug auf die Türkei, die das turkstämmige Aserbaidschan als Brudervolk – „Eine Nation, zwei Staaten“ – und Brücke zur Realisierung weitausgreifender neo-osmanischer Träume betrachtet. Träume, denen das christliche Armenien schon immer geographisch im Wege stand. Umso bedrohlicher pocht Alijew nun seit Monaten auf der Errichtung eines sogenannten „Sangesur-Korridors“ – eine aserbaidschanisch-türkische Interpretation von Punkt 9 des Waffenstillstandsabkommens – der, ohne armenische Kontrollpunkte durch die südarmenische Region Sjunik führend, das Kernland Aserbaidschan auf eine Weise mit der Exklave Nachidschevan verbinden soll, die zugleich Armeniens lebenswichtige Verbindung zum Iran kappen würde. Mit dieser Landverbindung – ausgerechnet über armenisches Hoheitsgebiet und unter Missachtung seiner Souveränität – zum Kaspischen Meer und damit zu den zentralasiatischen Turkstaaten würde Alijews Bruder im Geiste, Recep Tayyip Erdoğan, seinem Ziel eines pantürkischen Imperiums einen entscheidenden Schritt näher kommen. Der aserbaidschanische Diktator drohte bereits wiederholt damit, diesen Korridor notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen, sollte Armenien sich dagegen zur Wehr setzen. Es sieht daher alles danach aus, dass der jüngste Überfall nichts anderes war als der Beginn einer kontinuierlichen „Politik der gezielten Nadelstiche“, um Armenien zu zermürben!

Im zweiten Karabachkrieg belieferte die Türkei Aserbaidschan mit modernster Militärtechnologie, unter anderem mit Mehrfachraketenwerfern und den gefürchteten Bayraktar-Kampfdrohnen, in denen auch deutsche Rüstungs-Hightechsteckt. Türkische F-16-Kampfflugzeuge operierten von Beginn des Krieges an von der 65 Kilometer östlich von Armenien entfernten Luftbasis Gəncə aus. Und last but not least: Die Türkei finanzierte mehrere tausend djihadistische Söldnertruppen aus Syrien und frachtete sie an die Grenze zu Karabach, wo sie an vorderster Front kämpften! 

Mit einem Wort: Ohne massive Rückendeckung durch den Großen Bruder am Bosporus hätte Aserbaidschan den zweiten Karabachkrieg mit Sicherheit nicht gewonnen.

Das petrodollarschwere Aserbaidschan wird allerdings seit Jahren militärisch nicht nur von der Türkei unterstützt, mit Waffen beliefert wird es auch von Israel und – Russland! Autokrat Putin und Diktator Alijew sind ziemlich beste Freunde. Der Deal funktioniert frei nach dem Motto: Moderne Raketen an Aserbaidschan, veraltete Abwehrsysteme – die die Armenier zudem gar nicht selbständig bedienen dürfen – an Armenien!

So ist denn der Standardsatz, das christliche Armenien werde von Russland unterstützt, noch nicht mal zur Hälfte richtig. Russland hat zwar seit Jahrzehnten um die 4.000 Soldaten in Armeniens zweitgrößter Stadt Gjumri stationiert, die allerdings machten vor zwei Jahren das Gleiche wie jetzt – nichts! War dies damals formalrechtlich noch halbwegs plausibel begründbar – Putin verwies darauf, dass Berg-Karabach kein Mitglied des Verteidigungsbündnisses OVKS sei –, so ist die aktuelle Passivität der regionalen Friedensmacht Russland und der von ihr angeführten OVKS ein Skandal. Geschlagene fünf Tage benötigte das brüderliche Militärbündnis, um wenigstens eine Untersuchungskommision nach Armenien zu entsenden. Kurz: Die offizielle Schutzmacht Russland lässt Armenien am ausgestreckten Arm verhungern! (Augenscheinlich gibt es für Präsident Putin militärisch gegenwärtig andere Präferenzen.) Kein Wunder, dass in Armenien längst der Satz die Runde macht: „Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde!“

… und im Hintergrund lacht Erdoğan!

Verschärft wird die Situation noch dadurch, dass ausgerechnet der Chef der – angeblichen – Schutzmacht mit dem Erzfeind Armeniens eine höchstkomplizierte ‚Hassliebe‘ unterhält. Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan gehören zwar gegnerischen Militärbündnissen an, sind aber durchaus nicht solide verfeindet. Geopolitische Rivalitäten in Syrien, Libyen und auf der Krim, selbst die Lieferung ‚im Karabachkrieg bewährter‘ türkischer Angriffsdrohnen an die Ukraine schließen punktuelle pragmatische Kooperationen auf anderen Gebieten keineswegs aus. So trägt die Türkei als einziges NATO-Land die westlichen Sanktionen nicht mit, sie lässt russisches Gas durch die Turkstream-Pipeline strömen und hat ihren Himmel für russische Handelsflugzeuge und den zivilen Luftverkehr nicht geschlossen. Zahlreiche russische Geschäftsleute verlegten ihren Firmensitz an den Bosporus, russische Touristen können in der Türkei mit einheimischen Kreditkarten zahlen und immer wieder hört man, von westlichen Sanktionen betroffene Waren würden in der Türkei umdeklariert und von dort nach Russland geliefert. Erdoğan, der um seine Wiederwahl bei den kommenden Präsidentschaftswahlen fürchten muss, würde innenpolitisch ein „Erfolg“ im Südkaukasus gut zu pass kommen. Auch dies könnte ihn dazu verleiten, dem Despoten am Kaspischen Meer ein weiteres Mal den Rücken zu stärken.

Alijew seinerseits hat nie Zweifel daran gelassen, dass er den Konflikt mit Armenien erst mit der Rückeroberung und Einverleibung der gesamten Karabachregion als beendet ansieht. Nein, nicht nur das, seine Ambitionen sind größer: Er erklärte mehrfach deutlich, unter anderem am 10. Mai letzten Jahres, dass er es auch auf die von ihm „Sangesur“ genannten südarmenischen Regionen Sjunik und Wajoz Dsor abgesehen hat: „West Zangezur is our ancestral land. I said that we have to return there. I said that ten years ago. All my speeches are available in the media. I said that it is the land of our ancestors, and we must return there. We will and we are already returning there. No one can stop us.Und selbst dort würde er möglicherweise nicht haltmachen. Bereits im Februar 2018 ließ er auf einem Kongress seiner Partei „Neues Aserbaidschan“ durchblicken, dass er auch die Region um den Sevan-See, langfristig sogar die Hauptstadt Jerewan im Visier hat: „Eriwan ist unser historisches Land und wir Aserbaidschaner müssen in dieses historische Land zurückkehrenDie Rückkehr der Aserbaidschaner in diese Gebiete“, so fügte er in dankenswerter Offenheit hinzu, „ist unser politisches und strategisches Ziel, und wir müssen Schritt für Schritt daran arbeiten, ihm näher zu kommen.“ Und für dieses Ziel hat er am Bosporus einen mächtigen Verbündeten.

Die Armenier dagegen fühlen sich von allen Seiten im Stich gelassen: Von Russland und der OVKS, die entgegen ihren Schutzverpflichtungen keinen Finger krumm machen; von den 1.960 russischen Friedenssoldaten, die an der Demarkationslinie immer wieder wegschauen, wenn Aserbaidschan armenisches Hoheitsgebiet attackiert; von der werteorientierten EU, die an Alijews Gas-Tropf hängt; von der deutschen Völkerrechtlerin, deren vielzitierte „feministische Außenpolitik“ darin besteht, angesichts einer von Aseris vergewaltigten und getöteten armenischen Soldatin – der man auch noch Finger und Füße abschnitt, dies filmte und viral verbreitete [verstörendes Video] – beide Augen zuzudrücken; und was die jüngsten freundlichen Äußerungen von US-Repräsentantenhaussprecherin Nancy Pelosi angeht, so wäre gesunde Skepsis hier durchaus am Platze. Die USA engagieren sich bekanntlich nicht für Frieden und Menschenrechte, sondern für ihre eigenen geopolitischen Interessen.

Die durch den Genozid schwerst traumatisierten Armenier, die mit Blick auf die Kumpeleien von Erdoğan und Putin zunehmend einen neuen ‚Hitler-Stalin-Pakt‘ fürchten, haben nicht zuletzt vor zwei Jahren wieder einmal bitter lernen müssen, dass sie sich, wenn es Spitz auf Knauf steht, nur auf einen einzigen Akteur wirklich verlassen können: Auf sich selber!

Vor mehr als 100 Jahren hat die Welt schon einmal tatenlos zugesehen.